Mein Netflix-Konsum ist mir ein bisschen peinlich. Dass ich an freien Wochenendtagen nicht nur sinnvoller Freizeitbeschäftigung nachgehe – Wandern! Basteln! Lesen! –, sondern mich stundenlang im Bett verschanze und Folge um Folge reinziehe, sollte eigentlich nicht Gegenstand einer Kolumne sein. Aber: Auf Netflix gibt es durchaus Sinnvolles zu sehen. Ehrlich.
Eine solche Netflix-Überraschung ist die im vergangenen Herbst erschienene US-amerikanische Kurzserie Maid: Alex schleicht in der Nacht mit ihrer kleinen Tochter auf dem Arm aus dem Bauwagen, wo ihr Freund den Rausch ausschläft, setzt die Tochter hastig in den Kindersitz und fährt mit dem letzten bisschen Benzin panisch davon. Fast ohne Geld. Fast ohne Gepäck. Bei Freund*innen kommen sie nicht unter, Alex’ psychisch erkrankte Mutter ist kaum eine Unterstützung. Zurück zum alkoholabhängigen Freund zu gehen, ist keine Option. Auch wenn Alex das Verhalten des Freundes zu diesem Zeitpunkt noch nicht als Gewalt benennen kann, weiss sie, dass die Faust, die am Vorabend in die Wand neben ihrem Kopf geknallt ist, auch sie oder ihr Kind treffen könnte. Auf dem Sozialamt schliesslich wird deutlich, wie hilflos Alex in dieser Situation ist: Um eine Stelle zu bekommen, braucht sie einen Kitaplatz für die Tochter, um einen Kitaplatz für die Tochter zu bekommen, braucht sie einen Arbeitsvertrag. Um einen Arbeitsvertrag zu bekommen, braucht sie eine Wohnung, um eine Wohnung zu bekommen, braucht sie ein festes Einkommen … Eine fast ausweglose Situation.
Im Laufe der Serie Maid werden viele solche Situationen folgen. Alex verliert die neugefundene Arbeitsstelle als Putzfrau beinahe wieder, weil sie zu spät kommt: Die Tochter ist krank. Oder: Alex hat endlich eine Sozialwohnung bekommen, bemerkt aber erst am schlechten Gesundheitszustand der Tochter, wie stark der Schimmelbefall in den Wänden des neuen Zuhauses ist. Mutter und Tochter stehen wieder auf der Strasse. Und letztlich, ganz unauffällig und schleichend, auch wieder in der Abhängigkeit des Exfreundes. Schon die Beraterin im Frauenhaus hatte ihr gesagt, die meisten Frauen bräuchten sieben Anläufe, bis sie wirklich gingen.
Die Serie Maid basiert auf der Autobiografie von Stephanie Land, die mit ihrem Debüt Maid: Hard Work, Low Pay and a Mother‘s Will to Survive 2019 auf der Bestsellerliste der New York Times landete – und ist damit eine Ausnahmeerzählung: Alex/Stephanie schafft es, durch das Schreiben über ihre Situation (und die durchaus scharfen und witzigen Beobachtungen in den Haushalten reicher Leute, die sie als Putzfrau bis ins Detail kennenlernt …) aus der Spirale von häuslicher Gewalt und Armut herauszutreten und sich Gehör zu verschaffen. Solch eine Erzählung ist tückisch: Allzu leicht könnte der Eindruck entstehen, wer sich nur genug bemühe, könne es schon schaffen. In diese Falle tappt Maid nicht. Vielmehr vermittelt die Erzählung auf kluge und unbeschönigte Weise die Funktionsweisen eines gescheiterten Systems.
Maid gelingt es, häusliche Gewalt in ihrer Komplexität abzubilden. Dass sich Gewalt in unterschiedlichen Facetten zeigt, gesellschaftlich aber auf eine bestimmte Form festgeschrieben wird, erschwert die Situation für Alex: Sie muss zunächst selbst anerkennen, dass die Schreie, Drohungen und die emotionale Unberechenbarkeit des Freundes unter Alkoholeinfluss toxisch sind: etwa entzieht er ihr nach und nach das Geld, das Handy und schliesslich das Auto. Die Serie umgeht so jene anmassende Frage, die im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt regelmässig auftaucht – dass Alex nicht «einfach gehen» kann, ist logisch und nachvollziehbar.
Alex’ Umfeld bagatellisiert die häusliche Gewalt: Ein Ausraster sei doch normal, seine Eifersucht bestimmt berechtigt, sie habe ihn eben provoziert – und er habe sie ja nicht grün und blau geschlagen. Die Situation eskaliert erst, als er sie betrunken physisch bedroht und ihre Tochter sich vor Angst in einem Schrank versteckt – eine Situation, die Alex an ihre eigene Kindheit mit einem ebenfalls gewalttätigen Vater erinnert. Da gelingt es Alex, Konsequenzen zu ziehen. Im Frauenhaus beginnt die Benennung der Gewalt als Gewalt. Und die Aufarbeitung, der Heilungsprozess eines Traumas, welches nicht erst in Alex’ Erwachsenenalter begonnen hat, sondern bereits intergenerational weitergegeben wurde. Wie Alex Traumafolgestörungen erlebt und letztlich auch bewältigen lernt, ist eine weitere Thematik, deren Darstellung Maid gelingt. Die Serie findet stimmige Bilder für Alex’ Innenleben, die Dissoziation, die Intrusionen, die Starre. Und dabei bleibt die Darstellung von Alex nicht bei Opferklischees hängen, die ihr die Handlungsfähigkeit absprechen. Vielmehr entlarvt Maid die ganze Stigmatisierung, die Alex intersektional trifft: als Armutsbetroffene, als alleinerziehende Mutter, als Frau mit einer Traumafolgestörung, als Obdachlose.
Jetzt bin ich in einem Dilemma: Zwar will ich keine Werbung für Netflix machen, aber: Maid anzuschauen, lohnt sich!●