In die Zukunft erinnern mit Dorothee Sölle

Geneva Moser, 21. März 2019
Neue Wege 3.19

Vielleicht kennen Sie dieses Gefühl: Jedes politische oder soziale Handeln scheint nutzlos ins Leere zu laufen. In Anbetracht von Militarismus, Macht und Ausbeutung wirkt jeder Akt zu klein und bedeutungslos, die eigene Ohnmacht untergräbt die Hoffnung. Dazu kommt, dass Kritik, Widerstand und die Suche nach Alternativen zu einkalkulierten, marktförmigen Werten des Kapitalismus werden, sei es in Form des H&M-Shirts mit dem Aufdruck «I’m a feminist» oder als teures Seminar mit Selbstfindungsdroge im Amazonas für westlich-weisse AussteigerInnen. Ich finde das entmutigend und richtig nervig. Die Suche nach der «richtigen» Form des Widerstands wirkt blockierend, macht handlungsunfähig.

Alte Bibliotheken sind da für mich eine wahre Apotheke, wenn es gilt, dieser Mutlosigkeit etwas entgegenzusetzen. Eine, die ich besonders schätze, ist die Bibliothek des ehemaligen Kapuziner­klosters in Schüpfheim. Dort lebt heute eine kleine Gemeinschaft, setzt die franziskanische Tradition fort und bietet Menschen ein offenes Haus zum Mitleben. Im «Sunnehügel» finde ich Rückzug, ohne dass er Rückzugsort ist. Die alte Bibliothek dort dient vielen Zwecken: Von Musik­therapie über Gespräche bis zu Gymnastikübungen hat sie schon vieles gesehen. Sie ist aber nicht zuletzt auch Leseraum und birgt wahre Schätze, insbesondere an politisch-theologischen Werken. 

Ich vertiefe mich also an einem Wochenende, mal wieder, in die Texte von Dorothee Sölle. Im Korbschaukelstuhl zwischen kräftigen Zimmerpflanzen staple ich Buch um Buch der grossen Theologin, Friedenskämpferin und Feministin auf meinem Schoss und spüre ihrem Widerstand, ihrer Sprache und ihrem Glauben nach. Selten habe ich bei einer Autorin so sehr das Gefühl, dass sie mit mir spricht, genau mit mir und genau jetzt. 

Da beschäftigt mich beispielsweise gegenwärtig das Thema «Familie» und die Frage nach positiven Visionen des Zusammenlebens, der Solidaritäten und des gewaltfreien Miteinanders, und ich lese bei Sölle: «Die Zwangsordnung der patriarchalen Ehe ist unwichtig, es gibt eine neue Form der Zusammengehörigkeit in Christus. Die familia Dei orientiert sich nicht wie das Patriarchat an Körperkraft und Gewalttätigkeit, an einer Rechtsordnung, die das älteste Unrecht zementiert, und an einer Religion, die genau diesen Umstand noch einmal, himmlisch, absegnet.» Wie ermutigend!

Oder da beisse ich mir an der Theologie von Karl Barth (durchaus auch mit Begeisterung, so unlogisch das klingt) die Zähne aus und finde bei Sölle sowohl tiefe Bewunderung als auch scharfe Kritik an manchen von Barths Thesen. Sie benennt, was mich beim Lesen von Barth begleitet: Dieses objektive Anders-Sein Gottes mache das Göttliche unabhängig von den Subjekten und gebe ihm damit eine Unverwundbarkeit, Unberührbarkeit, Unbezogenheit, die aus feministischer Perspektive kaum zu schlucken ist.

Oder ich frage mich in der gegenwärtigen Debatte zu Sexismus immer wieder, wie vermittelt werden kann, was toxische Männlichkeit bedeutet und warum es so wichtig ist, dass sich die Gesellschaft eingehend damit befasst. Und prompt lese ich bei Sölle, wie sie von männlichen «Leitbildern», vom «normalen Mann» spricht, der mit seinen «Gefühlen nichts anzufangen weiss» und sich in unangreifbare Stärke flüchtet. Dieses Leitbild von Männlichkeit steht für sie grundlegend in Verbindung mit Militarismus, Kapital und einer androzentrischen Kultur. Ihre Wortwahl ist treffend und zugänglich, ich präge sie mir ein. Sölle sagt im Gespräch: «Die neue Frauenbewegung […] erwartet mehr vom Leben, als sich nur aus der Abhängigkeit von den Männern zu befreien. Sie will eine andere Art von Leben, eine andere Kultur. Und andere menschliche Beziehungen.»

Und wenn ich während des Lesens von meinem Handy abgelenkt bin oder bereits im Kopf die Pläne der nächsten Woche durchgehe, mahnt mich die Autorin deutlich: «Zerstreuung hält uns mehr von Gott fern, als das Böse in direktem Sinn. Wir haben so selten das Gefühl, dass wir in Gott sind.» Und ich versuche mich wieder in Konzentration und Präsenz. 

Nach Stunden in der Bibliothek ruft die kleine Glocke des ehemaligen Kapuzinerklosters zur gemeinsamen Gebetszeit. Sölles Worte hallen nach. In der Stille wirken sie gegen das Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Ich bin dankbar für diese Wurzeln, denn: «Nur wer Erinnerung hat, hat auch Zukunft und Hoffnung.» Mit Dorothee Sölle in die Zukunft erinnern, heisst utopisch träumen können – «Und wenn in unserem Land jetzt ‹Träumer› ein Schimpfwort wird und ‹naiv› ein Schimpfwort wird, ‹utopisch› ein Schimpfwort wird, dann wollen wir lieber alles dieses sein: Träumer, naiv, utopisch. Nämlich Narren in Christus.»

 

○Dorothee Sölle: Mutanfälle. Texte zum Umdenken. München 1996.

○Theo Christiansen, Johannes Thiele (Hg): Dorothee Sölle im Gespräch. Freiburg i.Br. 1988.

*Gefühlsduselei — Substantiv, feminin [die] umgangssprachlich abwertend

  • Geneva Moser,

    *1988, studierte literarisches Schreiben, Geschlechterforschung und Philosophie an der Kunsthochschule Bern und der Universität Basel. Sie ist Tanztherapeutin, schreibt freiberuflich und ist Co-Leitung der Neue Wege-Redaktion.