Eine befreundete Ordensschwester erzählt mir von der Begleitung einer Mitschwester im Sterben. Die über 90-jährige sterbende Mitschwester war eine quirlige, lebenslustige und kluge Frau gewesen, aber nun eine, die bereit war zum Sterben, eine, die sich nach der Ewigkeit sehnte. Sie zu begleiten sei friedlich gewesen, die befreundete Ordensschwester berichtet mit Freude davon. Kurz vor dem Tod habe die Mitschwester sie gefragt: «Sag, habe ich genug gelebt?»
Diese Frage beschäftigt mich. Was bedeutet das: Habe ich genug gelebt? Lebe ich denn «genug»? Die sterbende Ordensfrau sagte nicht: «viel gelebt». Oder «intensiv». Und auch nicht: richtig, recht, korrekt. Sondern: genug. Genug Leben. Nicht zu viel und nicht zu wenig. Leben nach dem richtigen Mass.
Ich weiss nicht, was die Antwort auf diese Frage war. Aber ich erinnere mich, dass ich, als ich jene alte Ordensfrau vor rund zwanzig Jahren selber kennenlernte, beeindruckt war, wie sehr das Lebensmass für diese Frau zu passen, zu stimmen schien. Selten hatte ich erfülltere, glücklichere und gleichzeitig bescheidenere und zufriedenere Frauen kennengelernt als in jenem Kloster in der Innerschweiz. Sie waren an ihrem Ort angekommen, lebten nach ihrem Mass. Freilich nicht in jeder Sekunde gleichermassen, aber doch grundsätzlich.
Als Jugendliche führte mich meine Faszination für Klosterleben an jenen Ort, wo ich franziskanisch-gastfreundlich aufgenommen wurde. Ich lebte ganz selbstverständlich den Alltag der Schwestern mit – Stundengebet, gemeinsame Mahlzeiten, Gartenarbeit, Tagesschau nach dem Abendessen, Spielnachmittag am Sonntag –, auch wenn (zumindest für die Schwestern) klar war, dass ich in meinem Alter noch keine ernsthafte Kandidatin für einen Klostereintritt war. Selbstsicher und einigermassen altklug wähnte ich mich bereits als Ordensfrau, trug den Schwestern gleich braune Kleidung und schrieb romantische Texte über die Ehelosigkeit, von der ich selbstverständlich keinen blassen Schimmer hatte. Die Schwestern lächelten milde – und nahmen meine bohrenden religiösen Fragen ernst.
Wenn ich die Gemeinschaft heute besuche, dann ist die Gastfreundschaft von damals nicht gewichen. Die Gemeinschaft ist aber kleiner geworden, älter, und ringt um eine sinnerfüllte, lebendige Zukunft. Wir diskutieren über die Klimakrise, über Geschlechtergerechtigkeit. Und wir schweigen und beten gemeinsam.