Schon als Kind erstaunte mich, dass sich die Kirchen überhaupt nicht für Tiere interessieren. Heute irritiert mich, dass das immer noch so ist. Je länger je weniger kann ich verstehen, warum Kirche und Theologie meinen, das stumme Leiden der Tiere ignorieren zu können, während sie bei anderen Themen durchaus ein waches ethisches Sensorium an den Tag legen.
Versuchen wir zuerst, das Phänomen etwas genauer zu fassen. Es besteht, so möchte ich es formulieren, in einer mangelnden Sensibilität gegenüber der ethischen Dimension unseres Umgangs mit Tieren. Denn die Art und Weise, wie wir Tiere behandeln, ist ethisch relevant. Das heisst: Sie wirft Gewissensfragen auf, unabweisbare Fragen nach meiner individuellen Verantwortung und nach der gerechten Gestaltung unseres Zusammenlebens. Etwa: Ist es richtig oder ein Unrecht, Tiere zu züchten, mit ihnen belastende Versuche durchzuführen, sie zu Nahrungszwecken zu töten? Solche Fragen kann man durchdenken, sich darüber austauschen und Gründe dafür oder dagegen abwägen.
Auch wenn Fragen dieser Art jeden und jede angehen, sind es keine nur privaten Fragen. Denn sie gehen auch andere – insbesondere die betroffenen Tiere – etwas an. Daher erstaunt es, dass in den Kirchen kaum Diskussionen darüber geführt werden. (Ausnahmen wie das EKD-Impulspapier Nutztier und Mitgeschöpf! von 2019 bestätigen die Regel.) Auch wenn der Fleischkonsum mittlerweile als einer der Haupttreiber des Klimawandels erkannt ist, ändert das kaum etwas. Man macht sich über die Förderung einer pflanzenbasierten Ernährung in der Kirche offenbar einfach keine Gedanken. Genau das meine ich damit, dass etwas ethisch «kein Thema» ist. Man darf selbstverständlich Fleisch auf den Tisch bringen, weil man es immer schon so gemacht hat.
Mir ist in lebhafter Erinnerung, wie mir vor wenigen Jahren an einem kirchlichen Anlass die Alternativen Bratwurst, Cervelat oder Hotdog präsentiert wurden. Es war mitten in der Stadt Zürich – also in einem Umfeld, in dem vegetarische und vegane Ernährung schon auf dem Vormarsch war. Klarer kann nicht zum Ausdruck kommen, dass Fleischkonsum die Norm, vegetarische oder vegane Ernährung dagegen eine sonderbare Abweichung davon ist. Da war keinerlei böse Absicht im Spiel, das bin ich mir sicher. Aber genau dies macht die Situation speziell. Es ist, als wäre das ethische Bewusstsein noch gar nicht erwacht.
Nun ist für den Bereich des Ethischen gerade kennzeichnend, dass es strittig ist, was überhaupt als ernst zu nehmendes ethisches Problem gilt und wie gravierend es ist. Was für die einen ein ethischer Missstand ist, der ihnen den Schlaf und fast den Verstand raubt, entlockt anderen nur ein lapidares «Who cares?». Genau dies ist bei unserem Umgang mit Tieren der Fall.
Der südafrikanische Nobelpreisträger J. M. Coetzee hat in seiner Erzählung Elizabeth Costello eine Figur geschaffen, die an der Art und Weise, wie Menschen Tiere behandeln, fast irre wird. Die Hauptfigur leidet nicht nur darunter, was Tieren angetan wird. Sie leidet auch darunter, dass das, was ihr als ein Grauen unvorstellbaren Ausmasses erscheint, die meisten Menschen um sie herum überhaupt nicht zu kümmern scheint. Ihr ethisches Umgetriebensein isoliert sie immer stärker von ihrem Umfeld. Wer ist krank, Elizabeth Costello oder die schweigende Mehrheit? Es gibt keinen neutralen Boden, von dem her festgestellt werden könnte, ob etwas ein ethisch gravierendes Problem darstellt oder nicht. Allerdings ist offensichtlich, auf welcher Seite die Kirchen hierzulande stehen. Mit ihrem Desinteresse stützen sie das herrschende System, in dem Tiere systematisch auf ihren Nutzwert reduziert werden.
Dass es in den Kirchen nicht um ein aktives Leugnen oder Bestreiten der ethischen Bedeutsamkeit der Tierthematik geht, sondern um ein schlichtes Ignorieren, sagt viel aus. Dass uns das Leiden der Tiere etwas angehen könnte – und zwar als Christinnen und Christen –, scheint gar nicht auf dem Radar von kirchlichen Mitarbeiter*innen zu sein. Würden aktiv Argumente etwa für das Essen von Fleisch vorgebracht, wäre die Sachlage einfacher. Man könnte Gegenargumente formulieren, auf Missstände und ethisch anstössige Aspekte dieser Praxis hinweisen – genau das, was wir in ethischen Zusammenhängen üblicherweise tun. So allerdings trifft man nicht auf eine Flut von Argumenten, sondern auf eine Mauer des Schweigens. Der Eindruck entsteht, dass alle ethischen Bedenken und Argumente ungehört verhallen – und damit der stumme Schrei der Tiere. Tiere zählen ethisch gesehen einfach nicht. Sie gehören nicht zu den ethisch berücksichtigungswürdigen Entitäten. Das wird zwar so nicht behauptet, aber es scheint der implizite Konsens zu sein, der es möglich macht, die Tierfrage aus den Kirchen und aus dem christlichen Glauben fernzuhalten.
Dieses Verdrängen der ethischen Dimension der Tierfrage treibt mich um. Ich leide nicht so existenziell daran wie Coetzees Elizabeth Costello. Aber ich wundere und ärgere mich darüber, dass es so ist. Für mich liegt es auf der Hand, dass wir Christ*innen spezifische – aus unserer Tradition stammende und in unserer Wahrnehmung der Wirklichkeit fundierte – Gründe haben, uns das Wohl von Tieren zu Herzen gehen zu lassen und uns um die Respektierung ihrer Würde zu kümmern. Jene spezifische Form von Liebe als Care, die Jesus mit dem Samaritergleichnis vor Augen führt, lässt sich meines Erachtens nicht auf die zwischenmenschliche Sphäre beschränken. Ich bin sogar überzeugt, dass eine Beschränkung lieblos wäre und damit dem Geist des Gleichnisses zuwiderlaufen würde. Für mich ist es dieselbe Art von Sensibilität, die mich die Notlage eines Menschen wie die eines Tiers wahrnehmen lässt. Es ist quasi dieselbe ethische Brille, die mir beides zu sehen ermöglicht.
Es geht hier um die Dimension der Wahrnehmung, sie ist meines Erachtens ethisch fundamental. Ethik hat nicht nur mit Fragen des Handelns (im engeren Sinne) zu tun, sondern betrifft die Ebene dessen, wie wir uns, andere und die Welt wahrnehmen. Der christliche Glaube macht auf dieser Ebene einen Unterschied. Das zeigt auch das Samariter-Gleichnis. «Geh auch du und handle ebenso», sagt Jesus zum Schluss zum Gesetzeslehrer, der von ihm wissen wollte, wer denn nun «der Nächste» sei, den er zu lieben habe. Das ist nicht die Aufforderung, bestimmte Handlungen auszuführen, sondern eine Aufforderung, die Welt auf eine bestimmte Weise zu sehen – mit den Augen der Liebe nämlich. Es ist keine Aufforderung, sich zu fragen, wen man lieben soll, sondern der versehrten Kreatur zum Nächsten zu werden (Lk 13,36).
Jesus weigert sich also gerade, den Kreis der Entitäten, die ethisch zählen und der Liebe würdig sind, zu definieren und damit von aussen zu begrenzen. Vielmehr fordert er auf, selber zu einer/einem Liebenden zu werden und so die jeweils Nächsten zu entdecken. Dass es keineswegs esoterisch ist, sich auch vom Leiden nichtmenschlicher Kreaturen berühren zu lassen, weiss buchstäblich jedes Kind. Es ist durchaus natürlich, Mitleid mit Tieren zu haben. Diese Form des Mitleids ist nicht begründungsbedürftig. Aber natürlich kann Mitleid ausgetrieben werden – eine recht häufige Form der ethischen Desensibilisierung. Man lernt dann, dem Impuls des Mitleids nicht nachzugeben.
Ich habe behauptet, dass es für mich dieselbe Form von Sensibilität ist, die für das Leiden und die Unrechtbehandlung von Menschen und jene von Tieren sensibilisiert. In Wahrheit ist es aber so, dass viele Christenmenschen, die extrem sensibilisiert sind für Rechte und deren Missachtung im zwischenmenschlichen Bereich – erstaunlicherweise auch links-grün-progressiv-emanzipatorisch gesinnte –, für die Ansprüche von Tieren komplett unempfänglich sind. Mich selbst bringt das immer wieder in schwierige Situationen. Ich kenne die «von aussen» an der jüdisch-christlichen Tradition vorgebrachte Kritik, sie hätte zwar – vor allem mit der Vorstellung der Gottesebenbildlichkeit – die Gleichwertigkeit aller Menschen befördert, gleichzeitig aber den Graben vertieft zwischen dem nur wenig geringer als Gott geschaffenen Menschen und allen übrigen Kreaturen, die unseren Planeten bewohnen. Der Mensch wird aus der Schöpfung herausgehoben. Er fühlt sich nicht mehr als deren Teil, sondern vielmehr dem Rest der Schöpfung überlegen und dazu berufen, ihn sich «untertan zu machen» (Gen 1,28).
Diese These mag arg verkürzend sein, aber wenn ich dann die real existierenden Kirchen und ihre Mitglieder betrachte, scheint doch plötzlich etwas dran zu sein. Auch das Gebaren vieler Theolog*innen deutet in diese Richtung, wenn sie nichts mehr zu fürchten scheinen als die Untergrabung der Idee der Menschenwürde, sobald auch Tieren eine Würde zugeschrieben wird. Mich hat schon immer irritiert, dass der menschliche Status von Embryonen die christliche Ethik weit mehr zu kümmern scheint als jede Form von Tierquälerei und Verdinglichung von Tieren. Die besondere Fixierung auf die unantastbare Würde des Menschen – die ich übrigens sehr wichtig finde – erweist sich tierethisch quasi als Bumerang.
Die Eigenart, über ethische Fragen in Bezug auf Tiere anders nachzudenken als über solche in Bezug auf Menschen, treibt manchmal seltsame Blüten. Im Vorwort zum EKD-Impulspapier Nutztier und Mitgeschöpf! bin ich jüngst über folgendes Beispiel gestolpert: «Bilder von Tieren, die in Massentierhaltung Qualen leiden oder massenweise getötet werden (zum Beispiel beim Vorgang des ‹Kükenschredderns›), wecken starke Emotionen. Sachliche Diskussionen werden dadurch eher schwerer.»
Geschrieben hat sie Heinrich Bedford-Strohm, der bayerische Landesbischof, Vorsitzende der EKD und frühere Professor für Theologische Ethik. Was mich an diesen Sätzen irritiert, ist einmal die unbefangene und, wie ich gedacht hatte, längst überholte Art und Weise, wie hier Emotionen und Sachlichkeit einander entgegengesetzt werden. Als könnten Emotionen nicht gerade die Art und Weise sein, auf eine nicht bloss intellektuelle Weise zu verstehen, was hier ethisch der Fall ist. Dass Mitleid oder Empörung angesichts der Art und Weise, wie Tiere gequält und getötet werden, eine sachliche Diskussion über die ethische Zulässigkeit solcher Praktiken erschweren soll, ist geradezu grotesk.
Ich wage zu behaupten, dass es Bedford-Strohm nie in den Sinn käme zu behaupten, Bilder von Menschen auf dem Mittelmeer, die auf völlig überfüllten Booten versuchen, Not und Gewalt zu entkommen, stünden einer sachlichen ethischen Diskussion im Wege. Es stimmt auch schlicht und einfach nicht. Das hielt der Philosoph Robert Spaemann schon 1979 hellsichtig fest: «Emotionen ersetzen nicht das sittliche Urteil. Aber ohne eine unmittelbare gefühlsmässige Wahrnehmung von tierischem Leiden fehlt uns die elementare Wert- und Unwerterfahrung, die jedem sittlichen Urteil vorausgeht. Wir wissen dann gar nicht, worüber wir urteilen.»[1]
Das eigentliche Problem in unserem Umgang mit Tieren liegt sicher nicht darin, solche Missstände aufzuzeigen. Es liegt gerade in der Entfremdung vieler Menschen vom lebenden Nutztier, das sie nur als abgepacktes Stück Fleisch im Supermarkt kennen. Oder wie Spaemann formulierte: «Die Perversität der gegenwärtigen Praxis liegt darin, dass wir unsere verfeinerte Sensibilität durch den Umgang mit den Haustieren befriedigen und davon getrennt eine Praxis institutionalisieren, gegen die wir diese Sensibilität abschirmen und in der Tiere einfachhin als ‹Sachen› behandelt werden.»[2]
Dass ein kluger und ethisch sensibler Mensch wie Bedford-Strohm gerade bei der Tierthematik die Emotionalität der Diskussion fürchtet, ist Symptom für das Problem, um das es mir in diesem Text geht: die theologische und kirchliche Vernachlässigung der Würde von Tieren, die in unserer Gesellschaft routinemässig mit Füssen getreten wird. Es ist für unsere Kirchen Zeit für eine tierethische Umkehr, höchste Zeit, das Leid anzuerkennen, das Tieren tagtäglich angetan wird. Sie werden verdinglicht, zu Waren degradiert, rücksichtslos menschlichen Zwecken unterworfen. Es stünde den Kirchen gut an, sich (auch) hier bedingungslos auf die Seite der Schwachen zu stellen. Und das hiesse, den Standpunkt der Tiere einzunehmen, unserer stummen Mitgeschöpfe, und ihren Anspruch nicht länger zu überhören.
Robert Spaemann: Tierschutz und Menschenwürde. In: Ders.: Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns. Stuttgart 2002.
Ebd.
Dr. theol., *1972, ist Theologe und Ethiker. Er ist Pfarrer der ev.-ref. Kirche Witikon und Co-Präsident der Neuen Wege.