Auch in der Ethnologie wurden und werden die Konzepte von Scham und Schuld rezipiert. So wurde in der Mitte des 20. Jahrhunderts aufgrund einer vergleichenden Feldforschung der amerikanischen Ethnologin Ruth Benedict die Unterscheidung von Schuld- und Schamkulturen (guilt and shame cultures) rege diskutiert.
Ihr Ansatz kurz zusammengefasst: In einer kollektivorientierten Kultur haben Existenz und Wohlergehen einer Gemeinschaft Vorrang vor den Interessen eines Individuums. Dessen Entwicklungsaufgabe besteht darin, ein insofern eigenständiges Mitglied der Gemeinschaft zu werden, als es auch ohne Fremdzwang zu deren Wohlergehen beiträgt. Das Individuum soll die Anerkennung der Gruppe und damit die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft wahren.
Eine Schuldkultur priorisiert das Individuum gegenüber der Gemeinschaft so deutlich wie möglich, innerhalb der Grenzen, die das Kollektiv als solches konstituieren. Identität gewinnt das Individuum in der Verwirklichung von Autonomie, von Selbstbestimmung. Normvorstellungen manifestieren sich in einer «Schamkultur» eher durch Autoritäten im Aussen (extrinsisch) und in einer «Schuldkultur» eher durch das eigene Gewissen (intrinsisch).
Ruth Benedict wandte Kategorien an, welche bereits von ihrer Kollegin Margaret Mead in groben Zügen skizziert worden waren. Sie betrat nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges damit schwieriges Terrain und setzte sich dem Verdacht aus, den ehemaligen Kriegsgegner Japan diskreditieren zu wollen. Ihr wurde von der Wissenschaftsgemeinschaft unterstellt, sie bewerte die japanische Kultur als Schamkultur und im Vergleich zur US-amerikanischen als weniger entwickelt. Nach einer kurzen Konjunktur wurde es somit wieder still um die Konzeptualisierung von Kulturen als Schuld- beziehungsweise Schamkulturen.