Es gehört zu den traurigeren Funden meiner aktuellen Archivarbeit rund um Berti Wicke und Helen Kremos, die von 1957 an die Neuen Wege redaktionell prägten: Helen Kremos absolvierte in ihrer Jugend im Jahr 1927 ein Praktikum in einem katholischen Heim für sogenannte «gefallene Mädchen» in Basel und berichtet von ihren Erfahrungen – wirtschaftliche Ausbeutung, rigide Dominanzstrukturen und eine absolute Gefühlskälte herrschten in dieser Institution. Die junge Helen Kremos konfrontierte die leitende Ordensschwester mit ihren Beobachtungen und legte ihr dar, dass sie «in der hier praktizierten Umerziehung eine Vorbereitung und Ausbildung für ein geregeltes Leben nach der Entlassung der Mädchen vermisse». Kremos stiess damit aber auf wenig Gehör und verliess den Arbeitsort.
Auch wenn für heutige Begriffe schon das Sprechen von einer «Umerziehung» irritierend ist, dringt durch Helen Kremos’ Worte ein Ideal, welches als ein Grundpfeiler des religiösen Sozialismus bezeichnet werden kann: Bildung und Information. Als Clara und Leonhard Ragaz vor genau hundert Jahren vom Zürichberg ins Arbeiter*innenquartier Aussersihl an die Gartenhofstrasse zogen, stand das dort verwirklichte religiös-soziale Projekt «Gartenhof» nicht nur im Zeichen der Nachbarschafts- und Flüchtlingshilfe, sondern in erster Linie im Zeichen der Bildung von Arbeiter*innen. Berti Wicke und Helen Kremos fanden in der Bildung eine Lebensaufgabe: Sie waren beide während über fünfzig Jahren Lehrerinnen. Auch in späteren Phasen des religiösen Sozialismus nimmt Wissensvermittlung eine zentrale Rolle ein, beispielsweise in der Entwicklungszusammenarbeit, wie sie Verena Karrer in Somalia als Hebamme und Dozentin für Krankenpflege leistete.
Gerade das Wissen über den eigenen Körper, die Sexualität und Reproduktion ist eng mit Herrschaftsstrukturen verknüpft: Es ist kein Zufall, dass die Leidtragenden der von Helen Kremos kritisierten Institution Frauen, «gefallene Mädchen», sind – parallele Institutionen für Männer gab es selbstredend keine, obwohl sie zum sogenannten «Fall», der ausserehelichen Schwangerschaft, ihren Teil beitrugen … Frauen waren über Jahrhunderte einer entmündigenden patriarchalen Kultur des Unwissens über den eigenen Körper und der (sexuellen) Ausbeutung ausgeliefert. Dieses Unwissen war gewollt und sicherte die bestehenden Machtverhältnisse.