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Wenn Vertrauen missbraucht wird

Jutta Lehnert, 28. August 2023
Neue Wege 9.23

Die Vertrauenskrise der Kirche benennen heute sogar Bischöfe. Sie deuten den Grund an: zahlreiche Fälle von sexuellem Missbrauch durch Amtsträger. Aber sie verschweigen, dass die Vertrauenskrise die Glaubenskrise vertieft. Glauben und Vertrauen hängen zusammen.

Das Wort, das im Neuen Testament verwendet wird, wenn Menschen zu einer vertrauenden Grundhaltung zu Gott und den Menschen gefunden haben, ist «pistis». Das Verb «pisteuo» meint vertrauen, auf die Verlässlichkeit Gottes und der Menschen setzen, treu und wahrhaftig sein, an Gott festhalten auf dem Lebensweg. Es ist also mehr als das, was in der Kirchen- und Theologiegeschichte mit diesem Wort verbunden wird. Im Lauf der innerkirchlichen Auseinandersetzungen verengte sich die Bedeutung auf den Begriff des Glaubens, der verkümmerte, weil er einseitig als Zustimmung zu Glaubenssätzen oder einem bestimmten Glaubensbekenntnis verwendet wurde.

Den Messias finden

Dabei legt das Neue Testament nicht nur in der Verwendung des Wortes, sondern erzählerisch, beispielsweise in den Berufungsgeschichten der Jünger*innen oder in Heilungsgeschichten, dar, was mit «glauben» gemeint ist. Gleich zu Beginn des Johannesevangeliums ist zu lesen, wie die ersten Jünger Jesus finden und damit zum Vertrauen auf ihn.

In Vers 1,36 heisst es: «Johannes richtete seinen Blick auf Jesus, wie er vorbeiging und sagte: ‹Hier ist das Lamm Gottes.›» Bei genauer Betrachtung lässt sich erkennen, dass ein tieferes Sehen gemeint ist: Johannes sieht sich genau an, wie Jesus «seinen Gang geht», so muss man das Verb «peripateo» ­übersetzen. Das bedeutet nicht, dass er ihn beim Spazieren­gehen oder im Vorbeigehen beobachtet. Gemeint ist, dass er seinen Lebensweg, seine Lebensweise betrachtet und zu dem Schluss kommt, dass Jesus das «Lamm Gottes» ist, in der Sprache des Johannesevangeliums die Rettung durch Gott. An Jesus können Menschen praktisch erfahren, wie Gottes Hilfe wirkt: durch ein solidarisches Leben.

Daraufhin gehen Andreas und ein zweiter Johannesjünger hinter Jesus her. Was sie suchen, weiss Jesus ja: Hilfe und Rat in bedrohlichen Zeiten. Das Evangelium ist in einer Zeit geschrieben, in der die Jesusleute es schwer haben, ihre Überzeugung zu leben und zu bewahren. Und so fragen sie Jesus ganz folgerichtig: «Wo wohnst du?» Damit ist nicht Jesu Wohnort gemeint, seine Adresse, sondern es ist die Frage: «Wo stehst du? Wo hältst du es aus? Wo kann man mit dir gemeinsam standhalten?» Sie werden eingeladen, seinen Standort, seinen Standpunkt kennenzulernen; und sie brauchen dafür einen Tag, heisst es. Den Messias entdeckt man nicht allein, er erschliesst sich in der Auseinandersetzung mit ihm. Eine neue Gemeinschaft ist am Ende des Tages entstanden, die so viel Ermutigung enthält, dass Andreas seinem Bruder Petrus freudig verkündigen kann: «Wir haben den Messias gefunden!» Und Petrus vertraut auf die Aussage seines Bruders Andreas und findet ebenfalls zu Jesus.

Vertrauen auf Gott wächst in Beziehung

Von Anfang an ist also der Glaube als ein gemeinsam gewachsenes Vertrauen beschrieben, das über Bezugspersonen vermittelt, aufgebaut und erhalten wird. So entsteht die Jesusbewegung, an der sich die heutige Kirche orientieren muss: im Vertrauen auf das Vertrauen von Menschen, die zum Vertrauen einladen. Damit wird auch klar, dass jede Autorität in der Kirche diese Grundstruktur des Vertrauens ernst nehmen muss. Denn die Art und Weise, wie der Evangelist Johannes die ersten Berufungen von Jünger*innen erzählt, zielt auch auf Petrus, der sich zur Zeit der Entstehung des Johannesevangeliums schon als zentrale Leitfigur in den Vordergrund der Jesusbewegung geschoben hat. Der Evangelist ist nicht froh damit, deshalb erinnert er in seinem Evangelium daran, dass jede Autorität in der Kirche auf das Vertrauen, den Glauben und die Theologie anderer angewiesen ist. Das ist eine zentrale Bedingung, um überhaupt dem Messias Jesus treu bleiben zu können.

Glaube meint vorrangig Vertrauen in das, wie Menschen ihre Gottesbeziehung leben. Ohne die personale Vermittlung ist Glaube nicht möglich. Niemand glaubt toten Formeln oder dürren Glaubenssätzen: Glauben lernt jeder Mensch vermittelt durch Personen. Dieses Vertrauen knüpft an das Urvertrauen jedes Menschen an, das er als Kind zu den Eltern und anderen Menschen aufbaut und ohne welches er nicht leben kann. Deshalb drückt das Wort «Vertrauen» besser aus, was mit «Glauben» gemeint ist: Ich glaube dir, dass du es ernst meinst, ich vertraue darauf, dass du ­wahrhaftig bist. In dieser Grundkonstruktion finden wir das eigene Vertrauen in das Leben und das Vertrauen in Gott.

Das etymologische Wörterbuch versammelt unter dem Begriff «Vertrauen» viele Akzente: ausgehend von der Silbe «dru» finden sich in unterschiedlichen Zeiten und Kontexten Begriffe wie Treue, Zutrauen, Mut (Traute), Zuversicht und in den dazugehörigen Verbformen vertrauen, versprechen, geloben – das englische Wort «truth» bewahrt stärker die Akzente Wahrhaftigkeit, Wahrheit und Zuverlässigkeit dieser Silbe.

Wenn Fundamente bröckeln

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie schwer es wiegt, wenn dieses Vertrauen missbraucht und gebrochen wird. Wenn die Fundamente eines Hauses bröckeln, wird das Haus instabil und droht zusammenzubrechen. Wer mit Missbrauchsopfern der Kirche spricht, die in der Lage sind, tiefer zu reflektieren, was ihnen geschehen ist, kann die zerstörerischen Folgen des Vertrauensbruchs ermessen. Menschen, die Opfer von Missbrauch geworden sind, fangen an zu begreifen, was es bedeutet, dass die Person, mit deren Hilfe und Frömmigkeit sie zum Gottvertrauen gefunden hatten, ihre spirituelle Macht gewaltförmig ausgenutzt hat. Ein Kind muss vertrauen, es ist angewiesen auf die Wahrhaftigkeit der Erwachsenen, die es umgeben. Der Vertrauensbruch eines missbrauchenden Vaters ist eine erschütternde Erfahrung; aber ungleich schwerer wiegt der Vertrauensbruch eines missbrauchenden Priesters, der ja nach eigenem Verständnis den «obersten Vater» verkörpert.

Opfer erzählen, dass sie es als Kind nicht gewagt haben, ihren Eltern vom Missbrauch zu erzählen. Zu gross war die Angst, den Glauben ihrer kirchentreuen Eltern zu erschüttern und damit das aufgebaute familiäre Vertrauensnetz zu gefährden. Die meisten warten mit der Offenlegung der Wahrheit, bis die Eltern verstorben sind. Auch das ist einer der Gründe, warum kirchliche Missbrauchsopfer so spät ihr Schweigen brechen. Die Kirche sollte diese Zeugenaussagen sehr ernst nehmen.

Die gebräuchlichste Strategie von Tätern, die sich Kindern und Jugendlichen im kirchlichen Feld annähern, um sie sich gefügig zu machen, ist die Verknüpfung ihrer Eigeninteressen mit der Sprache und den Symbolen der Religion. Sehr oft finden Übergriffe in sakralen Räumen statt oder im Rahmen von Glaubensunterweisung und Beichte.

Kinder und Jugendliche fassen sehr schnell und unkompliziert Vertrauen in Personen. Sie brauchen Menschen, die zum tiefsten Vertrauen einladen, wie es in besonderer Weise Diener*innen der Kirche tun. Wer «nahe an Gott» ist, wer «mit Gott auf Du und Du» steht, wer Jesus sogar am Altar verkörpert, kann nicht fehlerhaft sein, kann nicht lügen, kann die Wahrheit nicht verbiegen, kann nichts Böses wollen. Das erklärt, warum es Täter*innen im Raum der Kirche so leicht haben.

Auch das Umfeld der Betroffenen, eine Pfarrsekretärin etwa, Eltern der Kinder, Mitglieder der Gemeinde, die ab und zu eine Ahnung beschleicht, dass etwas nicht stimmt, lassen den Gedanken des Missbrauchs nicht zu. Es ist die Angst vor dem Vertrauensbruch, die Angst vor der Wahrheit, die schmerzen würde. Auch das Umfeld hat das «Glaubensvertrauen», so will ich das nennen, an die eine Person gebunden, die das Amt innehat.

Vielfältige Glaubensvermittlung

Im aufgezeigten Problem zeigt sich die Lösung: Vertrauen in Gott muss sich in der Kirche mit vielen verschiedenen Personen verbinden, die eine vielfältige Glaubensvermittlung ermöglichen. Die Kirche allerdings hat als Kleruskirche vermieden, die Vielfalt des Anfangs, von dem die biblischen Texte erzählen, weiterzuentwickeln. Glaubenslehrer*innen sind in erster Linie beauftragte Amtsträger, Lehrer*innen, an der Spitze die geweihten Kleriker. Keinem «Laien», weder Vater noch Mutter, weder Verwandten noch Nachbar*innen wird eine Autorität der Glaubensvermittlung zugestanden, die sich mit dem symbolischen Ausdruck in Sprache, Gottesdienst und Sakrament verbindet. Das gemeinsam entdeckte Gottvertrauen, von dem nicht nur das Johannesevangelium erzählt, verkümmert zu einer armseligen Beziehung. Und es stirbt, wenn das Vertrauen missbraucht wird.

Das betrifft nicht nur die unmittelbaren Opfer von sexualisierter Gewalt, sondern auch die sogenannten sekundären Opfer. Sekundäre Betroffene oder Opfer sind diejenigen, deren Vertrauen ebenfalls benutzt und getäuscht wurde, wie oben beschrieben. Wenn sie die Wahrheit an sich herankommen lassen, spüren sie einen grossen Verlust: Gewohnte Denkkonstruktionen und Hoffnungswege brechen ein. Das verlorene Vertrauen lässt sich durch öffentliche Schuldeingeständnisse von Kirchenoberen nicht einfach heilen. Es braucht eine Auseinandersetzung mit diesen Erkenntnissen, eine tiefe Reflexion der inneren Zusammenhänge. Die Glaubenskrise, die gleichzeitig auf welt­liche Sinnkrisen trifft, könnte eine Chance sein, Vertrauen in einer neuen Form von Gemeinschaft zu suchen, die auf das gegenseitige Vertrauen in das Glaubenszeugnis setzt.

Aber das traut die Kirchenhierarchie den sogenannten «einfachen Gläubigen» nicht zu. Dazu fehlt es – richtig! – an Vertrauen.●

In der Übersetzung des Johannestextes folgt die ­Autorin folgender Ausgabe: Ton Veerkamp: Das Evangelium nach Johannes in ­kolometrischer Übersetzung. In: Texte & Kontexte 2005, S. 106f..

  • Jutta Lehnert,

    *1955, war bis 2021 Pastoralreferentin in Koblenz. Sie arbeitet bei MissBiT mit, der Organisation für die Interessensvertretung von Missbrauchsopfern im Bistum Trier.