Zuhause. So nah, so fern

Matthias Hui, 5. Oktober 2019
Neue Wege 10.19

Ich begegnete Julia Esquivel, der guatemaltekischen Befreiungstheologin, Poetin und Menschenrechtsaktivistin, die am 19. Juli 2019 im Alter von 89 Jahren starb, fast immer in der Schweiz. Hierhin dehnten sich mit ihr die Aussengrenzen Guatemalas aus: in die ökumenische Schwesterngemeinschaft Communauté de Grandchamp bei Neuenburg, wo sie in den 1980er Jahren lebte, in die Genfer Säle der UNO und des Weltkirchenrates, wo sie die Stimme für die Indigenen erhob, in die Gottesdienste und Seminare, wo sie uns Maya-Zeremonien und die Kolonisierung und Ausbeutung ihrer Heimat näher brachte.

Die Schweiz war für Julia Esquivel nicht freie Wahl, sondern bitteres Exil. Guatemala ist bis heute ein Ort nackter Gewalt, in den 1970er und 1980er Jahren war das Land geprägt vom Terror der US-gestützten Militärdiktaturen, auch Julia Esquivel wurde bedroht. Eigentlich sei sie nie wirklich von Guatemala weggegangen. Ihr Herz sei dortgeblieben, im indigenen Hochland. In Grandchamp habe sie jeden Tag geweint. Die Tränen seien als heilsamer Regen zur Lebensgrundlage geworden. Das Exil sei eine Folter. Aber es ermögliche, einen Weg zu gehen und sich Wissen anzueignen, die sonst verschlossen blieben.

Ein letztes Mal begegnete ich Julia vor sechs Jahren – in der Schweiz. Sie hatte während ihres Aufenthalts den Boden unter ihren Füssen verloren, nicht zum ersten Mal in ihrem Leben. Ich besuchte sie in einer psychiatrischen Klinik. Sie meinte, dort in gewissen Gesichtern Agenten des guatemaltekischen Geheimdiensts zu erkennen. Und sie verlangte von uns, wie immer, aktiver zu werden. Die Jahre des Bürgerkriegs, der Wahnsinn, holten sie ein. In einem Gedicht, das sie 1986 verfasste, schrieb sie: «Ich bin keine Besessene. Ich bin keine Verrückte […] Ich bin Besitzerin (nicht Besessene) jener Normalität einer Frau, welche die Un-Ordnung verwirft und immer verwerfen wird, die von den Machos errichtet wurde, all diesen Generälen an der Macht.» (Neue Wege3/2014). 

Julia Esquivel verstand ihr Leben als Pilgerschaft. Irgendwo begleitet von einem Gott, mit dem sie in Zwiesprache rang und von dem sie wusste, dass sie ihn nur unter Preisgabe aller Sicherheiten kennenlernen konnte. Und an der Seite von Menschen und Völkern, die von Eroberung, Ausschluss und Vergewaltigung gezeichnet sind. Sie erfuhr einen mitleidenden Gott, einen ganz nahen Vater, immer mehr auch Mutter Erde. Einen Gott, der das Scheitern kennt und der sie nicht schweigen liess. 

Julias Weg war prophetisch. Eine Prophetin in der Schweiz, dem Land der Pilatus-Flugzeuge, mit denen die guatemaltekische Armee Dörfer bombardierte. Sie identifizierte sich mit ihrem Volk und war doch immer wieder allein. Ihre Biografie entfremdete sie von ihrer Familie. Ihre ökumenische Praxis und ihr Geschlecht als Theologin brachten sie in grosse Distanz zu ihrer presbyterianischen Kirche. Ihr Kampf für Gerechtigkeit zwang ihr die Flucht auf. Ihr Zuhause war in ihren Worten ein Leben lang «so nah, so fern». 

Angekommen, aufgehoben ist Julia Esquivel in ihrer Poesie. Dort fand sie Formulierungen für ein prekäres und verletzliches, aber unerschütterliches Zuhause – im Warten auf den Frühling, die Hoffnung, das Reich Gottes. Silja Walter liess sich von ihr inspirieren: «Singen wir weiter, wo Julia Esquivel aufgehört hat / wir sitzen an seinem / mit Schüsseln voll Morgenrot beladenen Tisch. / […] Und das Wort / hebt auf / die Zwischenräume der Kontinente.» (Neue Wege 4/1984)

Julia Esquivel selber sagt: 

Ich habe keine Angst mehr vor dem Tod,
ich kenne seinen kalten, dunklen Gang sehr gut, der zum Leben führt.
Ich habe Angst vor jenem Leben, 
das nicht dem Tod entsteigt, 
das die Hände verkrampft
und unseren Gang hemmt. 

¡Julia presente!

  • Matthias Hui,

    *1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution SMRI.