Shutdown. Sabbatical

Matthias Hui, 6. August 2020
Neue Wege 7/8.2020

Der Himmel blieb offen im denkwürdigen Monat April. Am Flughafen Zürich sank die Anzahl Flüge im Vergleich zum Vorjahr um 92 Prozent. Der Shutdown fühlte sich an wie ein ewiger Sonntagvormittag. (Ich mag Sonntagvormittage.) Stillstand wurde verordnet, Pandemie-Ausnahmezustand zur Rettung von Leben. Kritische Fragen zu den einschneidenden Massnahmen werden erst mit der Zeit Antworten finden. Wieso genau wird diese Bedrohung der Gesundheit ernstgenommen, während globale und regionale Katastro­phen, die viel mehr Leben zerstören und zu vernichten drohen, mit geballter ökonomischer und politischer Macht verharmlost und verdrängt werden?

Die letzten Monate waren nicht lustig. Aber sie haben mir Mut gemacht. Sie vermittelten, Tag für Tag, eine Ahnung dessen, was möglich ist und noch möglich werden muss: das wahnwitzige Tempo unserer Systeme zu stoppen und die Verschleuderung von Leben, Lebenswichtigem und Lebenserhaltendem zu unterbrechen. Ich bin für den nächsten Shutdown. Und für den übernächsten. Aber sie müssen demokratisch erstritten werden. Das schliesst zivilen Ungehorsam nicht aus.

Wir brauchen alle Kreativität dieser Welt für intelligente Strategien und in­spirierende Erfahrungsräume. Allein das muss ansteckend werden: die Einsicht in die Notwendigkeit, dass die Spirale nicht mehr weitergedreht wird. Ich wünsche mir einen nächsten Shutdown, der das Überleben des Ökosystems Erde und die Rechte aller Menschen stärkt. Er darf niemanden ausschliessen – also nicht Ungleichheiten verschärfen wie in der gegenwärtigen Krise. Ich wünsche mir, dass wir die gegenwärtigen Blindflüge für zu gefährlich erklären, einander helfen, aus Gewaltverhältnissen auszusteigen und gemeinsam herunterfahren.

Die Erde braucht Ruhe am Himmel und Erholung von der grenzenlosen Ausbeutung ihrer Rohstoffe. Die wilde Zirkulation des Kapitals zugunsten weniger und der zerstörerische Wachstumszwang müssen an ihr Ende gelangen. Zurück in die kleineren Kreisläufe und kooperativeren Wirtschaftsformen. Beziehungen zwischen Kontinenten und Staaten, aber auch die gestressten Beziehungen zwischen uns Menschen brauchen Zeit zur Heilung und für Reparationen, für Auseinandersetzungen und zur Versöhnung. Zeit, in denen die Zähler von Ungleichheit, Kapital, Schuld und Schulden wieder gegen null gesetzt werden.

Nicht nur gutbezahlte Akademiker*innen brauchen Sabbaticals. Die Idee kommt ja aus der Bibel. Alle sieben Jahre ein Jahr Sabbat oder Sonntagvormittag, aber gemeinsam. Alle haben ein Recht darauf. Auch die geschundene Erde. Ausruhen und aufräumen, die Vergessenen und Ausgegrenzten in der Gemeinschaft wieder einen Platz finden lassen, Beziehungen und Lebensentwürfe in Ordnung bringen, entspannen und gesunden, Zukunftswerkstätten betreiben, mit gerechter verteilten Chancen neu anfangen, die eigene Mitte finden und feiern. Jetzt ist der Moment da, die Idee global anzuwenden. Nicht per Notstandsdekret der Herrschenden. Sondern in einem Gesellschaftsvertrag, mit dem Notwendiges, Lebenserhaltendes weitergeführt werden kann. Mit einer Reduktion des Überflüssigen, wie am Flughafen, um vielleicht 92 Prozent.

2030 läuft die Nachhaltigkeitsagenda der UNO aus. In vielen Bereichen sollten wir dann auf netto null sein. Wir werden die globalen Ziele nicht schaffen, wenn wir das Steuer nicht herumreissen. Das lässt sich – aus Erfahrung – aus dem Stillstand heraus gefahrloser machen als in rasendem Tempo. Ich schlage vor, dass wir uns darauf vorbereiten: Shutdown 2030. Und zur Einübung in den Rhythmus schon sieben Jahre vorher: Sabbatical 2023. Natürlich kommt das nicht von selbst. Wir brauchen alle Kräfte der UNO dazu. Wir brauchen die vielen Frauen-, Klima- und Betriebsstreiks, die auf den Streik für das grosse Ganze hinzielen. Wir brauchen die Religionsgemeinschaften, die auf Einkehr, Umkehr und heilige Unterbrüche spezialisiert sind. Auf dass der Himmel offen bleibt.

  • Matthias Hui,

    *1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution SMRI.