Es ist nicht der Pazifismus, der in den letzten Monaten versagt hat. Gescheitert sind fast alle anderen Formen von Politik. Der Pazifismus war nicht an der Macht, als das russische Regime gegen alles Völkerrecht die Ukraine überfiel und Menschenleben zerstörte. Pazifismus wird auch anderswo in unserer Gegenwart nicht politisch getestet. Die Attacken auf den Pazifismus, die der Krieg in Feuilletons, sozialen Medien oder Parlamenten auslöste, sind Scheingefechte. Die einen hauen auf ihn ein, um angesichts von offenkundiger Ohnmacht und Ahnungslosigkeit vermeintlich klare Fronten zu schaffen. Andere benutzen Pazifismusschelte zum Zweck der Aufrüstung und zum Ablenken von eigener Verantwortung für den Zustand der Welt. Das passiert gerade in der Schweiz, der Finanz- und Rohstoffhandelsdrehscheibe.
Bei den Neuen Wegen können wir uns auf eine pazifistische Tradition beziehen. Es ist keine, die naiv von Feindesliebe und Geht-aufeinander-zu-Friedensverhandlungen säuselt. Sie dient nicht «als Götze der eigenen Bequemlichkeit oder Schwäche», wie Leonhard Ragaz eine Gefahr ausdrückte. Es war Leonhard, der zusammen mit seiner Frau Clara, die ihm meist einen friedenspolitischen Handlungsschritt voraus war, die pazifistische Linie unserer Zeitschrift begründete.
Die Auseinandersetzung mit dem Pazifismus von Clara und Leonhard Ragaz erhellt in meinen Augen 2022 einiges. Eine Situation, die geprägt ist von einer Diktatur in Russland, die faschistische Züge angenommen hat und ein autokratisches Herrschaftsmodell durchsetzt, das auch anderswo, in Demokratien inklusive, weiterzuwuchern droht. Eine Weltlage, die unter die Räder einer gigantischen Aufrüstung von den USA bis in die Schweiz gerät, welche die Frage, ob die Welt mit allen Ressourcen gegen die Klimakatastrophe kämpft, gewissermassen mit Gewalt beantwortet. Ein Kriegsgeschehen, das geprägt ist von einem neu erwachten eindimensionalen Glauben an das Militär, an Militärbündnisse und an militärische Siege.
Für mich ist die Ragaz-Tradition in heutigen Debatten relevant. Politischer Pazifismus argumentiert von einem Standpunkt tiefster Menschlichkeit aus, mit Empathie für alle Menschen, die kriegerisch angegriffen und unterdrückt werden. Er bezieht sich auf sie, ihren Widerstand und ihren Alltag, statt allein auf angeblich höhere Werte zu setzen wie die Ablehnung von jeglichem Nationalismus, die Verhinderung des Atomkriegs oder den Kampf gegen den US-Imperialismus. Radikaler Pazifismus verfolgt in allen Politikfeldern die Vision einer Welt, in der Frieden ohne Waffen geschaffen wird, in der gewaltfreies Handeln die persönlichen, gesellschaftlichen und ökonomischen, also auch internationalen Beziehungen bestimmt. Er verweigert sich jeglicher Logik von Gewalt. Und doch stellt er sich einer «Dogmatik der Gewaltlosigkeit» (Ragaz) entgegen. Er bleibt nicht vornehm und feige abseits im Kampf gegen Diktatur, Faschismus und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Er antwortet auf konkrete politische Situationen. Als Ultima Ratio steht er hinter Aktionen militärischer Gewalt. Wenn «auf der einen Seite Unrecht und Lüge stünden, aber als Preis des Friedens, und auf der anderen Seite Recht und Wahrheit, aber mit der Gefahr des Krieges», wählt er, so Ragaz, «ohne Besinnen das Zweite».
Radikaler Pazifismus, so stelle ich ihn mir vor, wehrt sich aber – gerade weil er sich einmischt und Allianzen eingeht – gegen Gewöhnung an Gewalt, gegen die Militarisierung von Gesellschaften, und auch gegen «fortschrittliche» Politik, die auf Armee- und Gewaltstrukturen aufgebaut ist. Seine Grundhaltung besteht in einem prophetischen Antimilitarismus, seine «Weltlosung» ist Abrüstung (Ragaz). Realpolitisch geht um kollektive Friedenssicherung. Er kämpft für das Völkerrecht, Institutionen wie die UNO, die OSZE, den Internationalen Strafgerichtshof und die unteilbaren Menschenrechte. Druckmittel wie Sanktionen und die Verfolgung von Kriegsverbrechen sind entscheidend.
Politischer Pazifismus stellt dem «Sicherheitswahn» ein inklusives Verständnis von Sicherheit und Kriegsprävention entgegen. Er bekämpft Diskriminierungen, Ausbeutung und Ungleichheiten – gerade auch aufgrund von Geschlecht. In Ragaz’scher Tradition geht es um den Aufbau eines genossenschaftlichen, anarchistischen, freiheitlichen und selbstverständlich internationalistischen Sozialismus. Nur Menschen, die in gerechten Verhältnissen leben können, müssen nicht zu Waffen greifen und werden nicht zum Kriegführen gezwungen.
Im Kampf zwischen Demokratie und Diktatur, im Kampf für ein gutes Leben für alle gibt es keine Neutralität. Auch für die Schweiz nicht. Radikaler Pazifismus sucht globale Solidarität statt egoistische Kollaboration mit Mächtigen. Und: Der politische, prophetische Pazifismus ist keine Taktik. Er ist die radikale Entscheidung, biografisch und gesellschaftlich alle Weichenstellungen an dem zu orientieren, was noch nicht ist: am Bruch mit Gewalt und Herrschaft, an der Utopie des gerechten Friedens. In der Sprache von Ragaz: am Reich Gottes. Über diesen Pazifismus müssen wir sprechen.
*1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution SMRI.