Solidarische Räume schaffen: Frauensache!

Ruth Ammann, 24. April 2020
Neue Wege 4.20

Die religiöse Sozialistin Dora Staudinger erklärte in den 1910er und 1920er Jahren das Dienen und die Liebe zur Grundlage der zu erkämpfenden sozialistischen Wirtschaftsordnung. Mit diesem Anspruch scheiterte sie. Die Rekonstruktion der Geschichte und der Denk­tradition dieser Forderung, auch die Provokation, die sie aus heutiger Sicht beinhaltet, sind aufschlussreich für Diskussionen zu Care-Arbeit.

Dora Staudinger wurde 1886 in Halle an der Saale in eine altehrwürdige Pfarrersfamilie geboren. Sie wuchs im späten Kaiserreich in einem religiösen Milieu auf, das säkulare Einflüsse auf Gesellschaft und Politik zurückzudrängen versuchte. Das Jüngste der sechs Kinder erhielt eine standesgemässe Mädchenausbildung und verliess die Schule mit zwölf Jahren. 22-jährig heiratete sie den Botaniker und Chemiker Hermann Staudinger, den sie auf einem Ball kennengelernt hatte, und zog mit ihm ins damals deutsche Strassburg. Bald gebar sie das erste Kind. Wenig später wurde Hermann Staudinger als ausserordentlicher Professor nach Karlsruhe berufen, und die Familie zog erneut um. Hier begann Dora Staudinger, in der Frauen- und in der Genossenschaftsbewegung aktiv zu werden.

Mit der Heirat in die Familie Staudinger und als Ehefrau eines Wissenschaftlers wechselte Dora Staudinger in ein ihr fremdes bürgerliches Milieu. Naturwissenschaftler waren in der Pfarrfamilie Förster als Ehepartner bisher nicht vorgekommen. Schwieriger noch musste es aber für ihre Mutter sein, dass sie in eine sozialdemokratische Familie einheiratete, die genau jenen Säkularismus verkörperte, den ihre eigene Familie bekämpfte. Für Dora Staudinger begann mit der Ehe nicht nur ein neuer Lebensabschnitt als Ehefrau und Mutter, sondern auch eine schmerzliche Entfremdung von ihrer eigenen Mutter. Die sozialdemokratische Einstellung der Familie Staudinger, allen voran ihres Schwiegervaters, des Genossenschaftstheoretikers Franz Staudinger, schien immerhin verheissungsvoll: Bildung nicht nur in kulturellen, sondern auch in wissenschaftlichen und politischen Belangen waren für Frauen in diesem Milieu nicht nur erlaubt, sondern Pflicht. Hermann Staudinger war es denn auch, der seiner Frau die von Clara Zetkin herausgegebene Zeitschrift Gleichheit abonnierte und sie ermunterte, sich mit dieser Bewegung vertraut zu machen.

Dora Staudinger nahm das Bildungsangebot der Familie Staudinger an und wurde bald eine interessante Gesprächspartnerin im progressiven Bekannten- und Familienkreis. 1910, nach der Geburt des zweiten Kindes, fing sie an, öffentliche Vorträge zu Genossenschafts-­ und Frauenfragen zu halten. 1912 reiste sie als Vertreterin des Karlsruher Vereins Frauenbildung-Frauenstudium an den Deutschen Frauenkongress in Berlin, ein Grossereignis, an dem sich die Bewegung aus allen Teilen des Deutschen Reichs traf. An Hermann schrieb sie Briefe über ihre Erlebnisse, ihre Begegnungen und die Fragen, die sie diskutierte. Doch ihrem Mann widerstrebte dieses Engagement auf einmal: «Er ist traurig, dass ich so viel Anregung hatte u. fürchtet, ich nähme dann das Chemieleben schwerer. Ja, das werde ich vielleicht, aber ist die Sehnsucht nicht gerade das Wertvolle beim Menschen?»1, schrieb sie während des Kongresses in ihr Tagebuch.

Chemieleben, Familienleben, Frauenleben

Das «Chemieleben»: Dora Staudinger war Mitarbeiterin, Sekretärin und Leidensgenossin des aufstrebenden Akademikers Hermann Staudinger; sie unterstützte ihn in seinem Fortkommen also nicht nur moralisch, sondern auch praktisch. Sie erledigte seine administrativen Aufgaben und schrieb Vorträge und Aufsätze nieder, die er ihr diktierte. Diese Arbeit, wie auch ihre Arbeiten im Haus und die Erziehung der Kinder, geschah innerhalb eines familiären, privaten Raumes. Ihre eigene Bildung und ein öffentliches Engagement hatten stattzufinden, wenn dazu Zeit blieb.2 Diese Hierarchisierung und Einteilung ihrer Arbeit in private und öffentliche Sphären, die Dora Staudinger in der sozialdemokratischen Familie Staudinger erlebte, war sie nicht gewohnt. Auch in der Pfarrfamilie Förster fielen Familien- und Ehearbeiten an, die Frauensache waren. Doch waren sie dort nicht privat: Die lutherische Familien- und Ehegemeinschaft, die Führung des Pfarrhauses und der Gemeinde waren öffentlich sichtbare Aufgaben, die eine Arbeitsteilung der Eheleute entlang der Scheidelinie von öffentlich und privat gar nicht erlaubten. Entsprechend selbstverständlich bewegte sich Dora Staudinger als Frau in der Öffentlichkeit. Und entsprechend anders schätzte sie die Aufgabenteilung in ihrer Ehe ein.

Es war die Frauenbewegung, die zu gros­sen Teilen religiös inspiriert war, die ihr die Begriffe für ihre «Sehnsucht» zur Verfügung stellte. Begriffe wie «geistige Mütterlichkeit», die, unabhängig von einer leiblichen Mutterschaft, eine Haltung sorgender Liebe gegenüber bedürftigen Menschen beschrieb, «Freundschaft» und «Kameradschaft», die die Beziehung von Männern und Frauen (auch in der Ehe) kennzeichnen sollten, oder «Liebe», die sich auf die Liebe zu den Menschen und auf die Liebe zu einem Freund, einer Freundin bezog und nicht an ein heterosexuelles Begehren gebunden war. Frauen waren, mehr als Männer, fähig zu solchen Gefühlen und Beziehungen. Gleichwohl mussten sie ihre innere Haltung und ihre persönlichen Neigungen erkennen, bilden und im Austausch mit anderen kultivieren. Es war diese «Vervollkommnung», die Dora der wissenschaftlichen Karriere ihres Mannes zur Seite stellte, und die Kameradschaft, die sie in der Ehe einforderte, die Hermann Staudinger Unbehagen bereiteten.

Genossenschaft der Hausfrauen

Noch 1912 zog die Familie nach Zürich, wo Hermann Staudinger als Professor an die ETH berufen worden war. Rasch fand Dora Staudinger Anschluss an die in der Schweiz ebenfalls sehr aktive Frauenbewegung. Wohl im Herbst des gleichen Jahres lernte sie Clara und Leonhard Ragaz kennen. Der religiöse Sozialismus, den das Paar verkörperte, schien Doras eigenen politischen Werdegang bereits im Namen zu spiegeln. Im Frühling 1913 gründete sie mit anderen Frauen erstmals eine eigene Frauenorganisation in einem der grössten Konsumvereine des Landes: im Lebensmittelverein Zürich (LVZ), dem heutigen Coop. In den Neuen Wegen schrieb sie: «Wo ist die Idee, unter deren Zeichen sich die Hausfrauen vereinigen können; wo ist die Organisation, die sie nicht hinausreisst aus Haus und Familie, und die ihr doch Zusammenhalt gibt mit all denen, die die gleichen Ziele haben?»3 Sie fuhr fort: «Die Genossenschaftsbewegung ist eine Bewegung der Frauen, mag es so scheinen oder nicht, mögen sie es selbst wissen oder nicht. Aber, je mehr sie es wissen, um so grösser der Segen für sie, für ihr persönliches Leben.»

Frauen sollten sich in den Konsumvereinen zusammenschliessen, denn diese organisierten den vornehmlich von Frauen getätigten Einkauf. Ausserdem, und das machte Doras Ideen für die Frauenbewegung interessant, besassen Frauen in den Konsumvereinen das aktive und passive Stimm- und Wahlrecht. Durch ihre Organisation konnten sich Frauen als Konsumentinnen, Produzentinnen, Angestellte, Wohnende, Hausfrauen und Mütter einen Einfluss auf Produktion, Bezug und Verteilung von Waren und, im Fall der Wohnbaugenossenschaften, von Wohnungen verschaffen. Waren die Genossenschaften «blutleer», weil bisher in reiner Männerhand, wie Dora Staudinger am zweiten Kongress für Fraueninteressen 1921 in Bern diagnostizierte, waren es die Frauen, die sie zum Leben erwecken konnten. «Darum», forderte sie, «ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Genossenschaftsbewegung nun die Hausfrau und die Hauswirtschaft in den Mittelpunkt der Wirtschaft stellt. Sie, die heute Spielball und Ausbeutungsobjekt aller wirtschaftlichen Mächte ist, kann auf diese Weise zum Diktator der Wirtschaft werden, soweit ihre genossenschaftliche Organisation reicht.»4 Eine genossenschaftliche Organisation, die massgeblich von Frauen mitgetragen und von deren Werten geleitet wurde, davon war Dora Staudinger überzeugt, hatte das Potenzial, die sozialistische Utopie hier und jetzt demokratisch und gewaltfrei zu verwirklichen.

Ein sozialistisches Programm

Die Wohnbaugenossenschaften spielten in Dora Staudingers Konzeption eine Schlüsselrolle, da sie die Machtverhältnisse auf dem Wohnungsmarkt in Frage stellten. 1919 wurde Dora Staudinger zusammen mit zwei weiteren Frauen in den Vorstand der Allgemeinen Baugenossenschaft Zürich (ABZ) gewählt, die 1916 mit der sich abzeichnenden Wohnungsnot gegründet worden war. Hier, wie auch als Expertin in kommunalen Wohnbaukommissionen, setzte sie sich für bauliche Verbesserungen und einen leichteren Zugang zu Wohnungen für arme Bevölkerungsschichten ein. Die Wohnküche sollte das Zentrum der Wohnung sein, in dem Frauen arbeiten und Kinder spielen konnten. In jeder Überbauung sollte ein Versammlungs­lokal für Mieter*innen zur Verfügung stehen. Wie schon im Lebensmittelverein organisierte Dora Staudinger auch in der ABZ die Genossenschafter*innen, die von der Politik der Genossenschaft direkt betroffen waren, und rief 1923 erstmals Mieter*­innenversammlungen ins Leben. Im kleinen Rahmen sollten sich die Bewohner*innen kennen lernen, sich mit den Prinzipien der genossenschaftlichen Selbsthilfe vertraut machen, Fragen des Alltags und des Zusammenlebens regeln und ihre Perspektive in der Genossenschaft einbringen. Solche Siedlungskommissionen gibt es in der ABZ noch heute.

War die Genossenschaft die Organisationsform, die der Privatisierung und Vereinzelung der Arbeit von Frauen entgegenzuwirken versprach, wurde der religiöse Sozialismus der theoretische und soziale Kontext, in dem Dora Staudinger ihre Überlegungen formulierte. Dank der Unterstützung eines Kreises Gleichgesinnter, zu dem sie gehörte, gelang es Leonhard Ragaz, sich ab 1917 als Vordenker der Bewegung zu etablieren. Begriffe wie «Liebe» und «Dienen» waren zentral für seine und Dora Staudingers Idee einer Politik der Umwälzung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung in einen «freien», das heisst genossenschaftlichen Sozialismus. 1919 veröffentlichten die religiösen Sozialist*innen Ein sozialistisches Programm, dessen wirtschaftlichen Teil Dora Staudinger verfasste. Es beabsichtigte, die Sozialdemokratie aus ihrer seit Kriegsbeginn herrschenden Orientierungslosigkeit und den internen Machtkämpfen zu führen. Zeitgleich begann der Kreis um das Ehepaar Ragaz und Dora Staudinger, unter dem Namen «Arbeit und Bildung» in genossenschaftlicher Selbstorganisation eine Gemeinschaft aufzubauen, die nach dem Vorbild von Settlements einen Ort der Begegnung, der Bildung und politischen Arbeit, der gegenseitigen Hilfe und der Freundschaft schuf. Settlements waren im 19. Jahrhundert in armen Nachbarschaften Londons gegründet worden – viele als religiöse Bruderschaften –, damit Studierende das Problem der Armut verstehen und den Menschen gleichzeitig helfen konnten. 1924 fand das Zürcher Settlement im «Gartenhof», im Haus der Familie Ragaz, seinen definitiven Ort.

Ab Mitte der 1920er Jahre erlebten Dora Staudinger und die Bewegung Rückschläge. Die Sozialdemokratie, geschwächt von der Gründung der Kommunistischen Partei 1919, positionierte sich verstärkt gegen linksradikale Vertreter*innen und damit auch gegen den religiösen Sozialismus. Eine kurze, aber heftige Rezession 1921 ruinierte viele Konsumgenossenschaften und stellte den Lebensmittelverein Zürich (LVZ) vor grosse Probleme, die durch interne Misswirtschaft verstärkt wurden. Übernommen vom VSK, dem Dachverband aller Konsumvereine, wurde er reorganisiert und die Hälfte der Mitarbeitenden entlassen. Die Frauenkommission des LVZ, von der Geschäftsleitung nunmehr besser «integriert», sollte in der Krise vor allem Mitglieder werben und verlor ihre eigenständige Politik. Die ABZ liess Dora Staudingers Klausel fallen, wonach ein Teil der Wohnungen kinderreichen Familien vorbehalten sein sollte. 1924 trat die letzte Frau aus dem Vorstand aus. 1926 wurden Wohnungsinspektionen in ABZ-Siedlungen Realität. 1928 schliesslich gründete die Geschäftsleitung eine Frauenkommission nach Vorbild des LVZ. Ihre Mitglieder wurden in der Folge besonders gefürchtete Wohnungsinspektorinnen. Dass die zunehmend repressive Verwaltungspolitik der Wohnbaugenossenschaft mit der Schaffung einer Frauenkommission «von oben» zusammenging, zeigt auch hier die Ambivalenz des Einbezugs der Frauen in die Genossenschaften im Laufe der 1920er Jahre: Von einer «Bewegung der Frauen», wie sie Dora Staudinger vorschwebte, konnte keine Rede mehr sein.

Privates wird politisch

Auch Dora Staudinger selbst verstummte in den nächsten Jahren. 1926 willigte sie in die Scheidung der Ehe mit Hermann ein. Kurz darauf beendete Leonhard Ragaz die langjährige Freundschaft. Die Gründe sind nicht bekannt, doch verlor sie dadurch den Zugang zu ihrem politischen Netzwerk und den Neuen Wegen als ihrer wichtigsten Publikationsplattform. 1929 zog sie aus Zürich weg. Mitte der 1930er Jahre sollte sie, nun als Kommunistin, erneut die politische Bühne der Stadt betreten.

Was bleibt von Dora Staudinger, wenn sie mit ihren Anliegen scheiterte? Das historisch Interessante ist die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich öffentlich einmischte und andere Frauen dazu veranlasste, sich einzumischen. Diese Selbstverständlichkeit bezog sie aus einem religiösen, bürgerlichen Milieu, das nicht für seine Gleichberechtigung der Frauen bekannt ist. Gleichzeitig musste sie diese Selbstverständlichkeit gegen die Ehe- und Gleichstellungsansichten in der sozialdemokratischen Familie Staudinger verteidigen. Dieser Befund erstaunt. Dass Dora Staudingers politisches Selbstverständnis in den 1920er Jahren gerade im «roten Zürich» unter Druck geriet, gibt weiter zu denken. Frauen sollten die von Männern geschaffenen Genossenschaften unterstützen, ohne sie zu prägen. Trotzdem gelang es Dora Staudinger, all jenen politische Räume zu eröffnen, die nicht als politische Subjekte wahrgenommen wurden: Hausfrauen, Mütter, Mieter*innen, Verkäuferinnen, Konsumentinnen. Wo immer sie sich engagierte, begründete sie Räume, in denen scheinbar Privates politisch wurde. Ihr Einsatz für die Anliegen dieser Menschen spiegeln sich in heutigen Forderungen von Care-Arbeiter*­innen. Ihre Geschichte zwingt aber auch, Fragen zu stellen: Wer ist verlässlich als Bündnispartner*­in? Und wo werden Frauen heute gerne «integriert»?

1 Dora Staudinger: Tagebuch, Eintrag vom 5.3.1912.

2 Dora Staudinger: Tagebuch, Eintrag vom 1.3.1912.

3 Dora Staudinger: Eine Aufgabe der Frau. In: Neue Wege 1 / 1913, S. 30–35, hier S. 32 und 33.

4 Dora Staudinger: Die Genossenschaft. In: Bericht über den zweiten schweizerischen Kongress für Fraueninteressen, Bern, 2.–6. Oktober 1921. Bern 1921, S. 78–87, hier S. 84.

  • Ruth Ammann,

    *1977, studierte Sozial- und Ge­schlechter­geschichte sowie Gender Studies an den Universitäten Bern, Basel und Dublin. Sie forscht zu Biografien, Oral History und der Geschichte des Feminismus. Als Forschungsleiterin der Unabhängigen Expertenkommission Administrative Versorgungen war sie verantwortlich für zwei Publikationen. Sie lebt mit ihrer Familie seit zwei Jahren in Norwegen.

    2020 erschien Ruth Ammanns Buch Berufung zum Engagement? Die Genossenschafterin und religiöse Sozialistin Dora Staudinger (1886–1964). Schwabe Verlag, Basel 2020, 440 Seiten.