Demokratie als fürsorgliche Praxis

Birgit Sauer, 1. Januar 2017
Neue Wege 1-2/2017

Damit eine Demokratie wirklich demokratisch ist, muss sie über Institutionen, Repräsentationsverfahren und Regeln hinausgehen. Erst wenn sie vom Leben und Arbeiten der Menschen her gefasst wird, kann Demokratie Geschlechterungerechtigkeiten und biopolitische Trennungen überwinden. Eine feministische Neubestimmung des Verhältnisses von Demokratie, Geschlecht und Arbeit

Die Politisierung von Arbeit

Notwendig ist ein geschlechterdemokratischer Neuentwurf und die Überwindung hierarchischer geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung. Auf diese Weise können nicht allein die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie die Forderung nach gleichberechtigter Integration von Frauen zum Beispiel in Spitzenpositionen der Wirtschaft erreicht werden – sondern es geht um die Demokratisierung der ganzen Gesellschaft.

Ein politisches Arbeitskonzept begreift Arbeit als soziales Verhältnis, als Kräftefeld, in dem um die Bedeutung von Arbeit – für die Gesellschaft wie auch für das Leben der Menschen – gerungen wird, in dem definiert wird, was Arbeit ist und was nicht. Die Definition von Arbeit (und Nicht-Arbeit) ist also ein notwendig politischer Prozess, in dem die Kategorie Geschlecht eine zentrale Rolle spielt. Eine Neudefinition von Arbeit bildet den Ausgangspunkt für eine Form von Demokratie, die nicht auf der hierarchischen Konstruktion zweier Geschlechter und auf exklusiven Vorstellungen von Zugehörigkeit, Stimme und Mitbestimmung basiert. Und umgekehrt: Nur in einem geschlechterdemokratisch organisierten Gemeinwesen kann jegliche Form von Arbeit demokratisch und sozial gestaltet werden.

In der Folge werden fünf Dimensionen eines gesellschaftstheoretischfeministischen Konzepts von Arbeit dargestellt.

Erstens: Arbeit kann nicht nur als lohnförmige Arbeit gedacht werden, sondern muss Sorge- und Familienarbeit sowie andere Formen von Eigenarbeit beinhalten. Nicht mehr nur Erwerbstätigkeit gilt dann als gesellschaftlich anerkannte Arbeit, aus der allein Menschen ihren Lebensunterhalt bestreiten, auf der allein sie ihre Identität gründen können und die alleine es erlaubt, politische Rechte zu realisieren. Erwerbsarbeit muss – dies folgt daraus – zwar als relevante Dimension für das Leben der Menschen wahrgenommen werden, darf aber nicht als das Wichtigste im Leben einer Person mystifiziert werden. Arbeit wird so nicht allein in ihrer Bedeutung für die kapitalistische Wertgewinnung und -vermehrung begriffen, sondern als menschliche Tätigkeit.

Zweitens: Ein erweiterter Arbeitsbegriff umfasst die mehrdimensionale Verknüpfung von Erwerbs- und Sorgearbeit: Zum einen basieren kapitalistische Erwerbsarbeit und kapitalistische Produktion auf unbezahlter Sorge- bzw. Reproduktionsarbeit im Familienzusammenhang. In neoliberalen Konstellationen wird diese einst unbezahlte Sorgearbeit aber zunehmend kommodifiziert, zu einer bezahlbaren Ware gemacht, und über den Markt erbracht (in der Regel als schlecht bezahlte Arbeit). Zum anderen ist die Sorge für andere stets auch Element von Erwerbsarbeit. In der Erwerbsarbeit wird ungleiche Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität notwendig hergestellt; dies macht die implizite geschlechtsspezifische Dimension in allen Erwerbsarbeitsverhältnissen deutlich. Doch auch Emotionalität und Affektivität sind Grundlage von Kooperation und Beziehung in der Erwerbsarbeit. Sorge und Sorglosigkeit sind somit ein Element auch von Erwerbsarbeit.

Drittens: Sorge- und Erwerbsarbeit müssen als eine Form politischen Handelns und demokratischer Partizipation begriffen und dementsprechend gestaltet werden. «Arbeit muss wieder als Ort der Kommunikation und Kooperation, der gesellschaftlichen Partizipation und der Möglichkeit zu solidarischem Handeln verstanden werden.» (Gisela Notz) Wenn Arbeit als politisch betrachtet wird, dann müssen Arbeitsverhältnisse demokratisiert werden. Die Demokratisierung von Arbeit muss sich als geschlechtersensible Demokratisierung, als Auseinandersetzung mit und gegen hierarchische Zweigeschlechtlichkeit auf Erwerbsarbeit wie auch auf privat-intime Verhältnisse beziehen.

Viertens: Nicht Profitmaximierung, «sondern die Verwirklichung menschlicher Lebensinteressen und damit die
Verfügung über die relevanten Lebensbedingungen zur Befriedigung grundlegender Bedürfnisse» (Gabriele Winker) rücken mit einem Umdenken im Sorgekontext ins Zentrum. Es wäre allerdings naiv, Sorgearbeit als Gegenbegriff zur Logik der Akkumulation und der Profitorientierung, als Logik des Lebens gegen ausbeuterische Lohnverhältnisse zu sehen. Vielmehr ist auch diese Arbeit Teil kapitalistischer (Re-)Produktionsverhältnisse. Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung ist Teil eines modernen biopolitischen Arrangements, der Organisation und Gestaltung des Lebens. Die Politisierung von Sorge ist daher eine Möglichkeit, die Trennungen in Frage zu stellen und zu überwinden. Auf dieser Basis geraten die entfremdenden, aber auch die  widerständigen und solidaritätsstiftenden, also politischen Dimensionen auch der neuen, «entgrenzten» Arbeitsverhältnisse in den Blick. Sorgekämpfe und Streiks sind neue Formen demokratischer Arbeitskämpfe, die inzwischen auch von Gewerkschaften unterstützt werden.

Fünftens: Sinnvolle und qualifizierte Tätigkeit soll Frauen und Männern eine eigenständige Existenzsicherung, die Chance zur Sorge für sich und für andere, für Liebe und Begehren, für gegenseitigen Respekt und zugleich Teilhabe an Gesellschaft und Politik ermöglichen. Dies macht es nötig, sich durch Arbeit und in der Erwerbsarbeitszeit ökonomische, kulturelle und zeitliche Ressourcen für politische Partizipation und politisches Handeln anzueignen.

 

Demokratie in allen Bereichen

In der Konsequenz umfasst Demokratie mehr als Institutionen, Verfahren und Regeln. Demokratie muss also das Leben, Fühlen, Empfinden und Denken der Menschen einbeziehen. StaatsbürgerInnenschaft, citizenship als Recht und Praxis bezieht sich dann nicht allein auf den politisch-staatlichen Bereich im engeren Sinne, sondern stets auf Partizipation und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

Ein arbeitssensibles Demokratiekonzept eröffnet Möglichkeiten, Demokratie auch geschlechtergerecht zu konzipieren. Das Recht auf soziale Sicherung (social citizenship) und das Recht auf Erwerbsarbeit  beziehungsweise eigenständiges Einkommen (economic citizenship) müssen mit politischen Rechten (political citizenship) verknüpft werden und bleiben.

Fünf Ansätze zu einem arbeits- und geschlechtssensiblen Konzept von Demokratie sollen nun ausgeführt werden.

Erstens: Geschlechterdemokratisierung ist notwendig verbunden mit einer Veränderung des Arbeitsbegriffs und der Arbeitswelt, welche die moderne Demokratien begleitenden Trennungen von öffentlich und privat sowie von produktiver und unproduktiver Arbeit überwindet. Dies impliziert die Kritik am «Mythos» der Erwerbsarbeitsgesellschaft und seiner einseitigen Festlegung auf Erwerbstätigkeit. Geschlechtsspezifische Relevanz hat ein solches Demokratiekonzept deshalb, weil es die Definition von Nicht-Arbeit in Frage stellt und Haus-, Familien- oder Sorgearbeit zum genuinen Gegenstand von Arbeits(markt)politik – und nicht von Familienpolitik – macht. Der erweiterte Arbeitsbegriff ist deshalb relevant für Demokratie, weil er nicht nur die Erwerbsarbeit als ein zentrales demokratiepolitisches Feld begreift, sondern die herrschaftliche und ausschliessende Definition von Nicht-Arbeit als demokratisches Problem bewusst macht.

Zweitens: In feministischen Demokratiekonzepten geht politisches Handeln weit über den Wahlakt hinaus. Sie begreifen Arbeit als demokratisches Handeln, als Partizipation am Ringen um die Organisation des Lebens. Ein solch «substanzielles» geschlechtssensibles Demokratiekonzept macht somit die gesellschaftlich-materiellen Bedingungen zum Ausgangspunkt für Demokratisierung: Zu diesen Bedingungen zählen in der Erwerbsgesellschaft Arbeit, aber auch die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung, affektive, emotionale und sexuelle Arbeit, Sorgetätigkeiten wie auch Selbstsorge und gemeinnützige Tätigkeit.

Drittens: Demokratie kann als blosse politische «Freizeitbeschäftigung» der BürgerInnen jenseits ihres (Arbeits-)Lebens nicht funktionieren. Genau dies aber ist bei der Reduktion von politischem Handeln und demokratischer Partizipation auf die kurzen Momente der Wahl von Parteien und RepräsentantInnen der Fall. Dies produziert Ausschlüsse und Marginalisierungen und damit «Verdrossenheit». Eine Voraussetzung für demokratische Praxis ist die Verfügung über Zeit. Demokratisches Handeln muss somit auch als Teil der Arbeitszeit und des Arbeitsprozesses konzipiert werden. Es geht um Politik, die Erwerbsarbeitszeit reduziert, die aber auch Zeit für das BürgerInnensein zur Verfügung stellt. Arbeitsorte im weiteren Sinne sind daher als soziale Räume zu denken, in denen Menschen gemeinsam arbeiten, leben, sich umeinander kümmern, sich lieben, Konflikte austragen und damit politisch handeln. Mehr noch: Demokratie muss an diesen Orten immer wieder erstritten, realisiert und hergestellt werden. Dies impliziert, alle Arbeitsbereiche als zu demokratisierende Bereiche zu betrachten und sie auf ihre geschlechtsspezifischen Herrschaftsmechanismen hin zu durchleuchten.

Viertens: Ein solch geschlechtssensibles Demokratieprojekt kann einen Gegenentwurf zu Prozessen der Entdemokratisierung und Entpolitisierung bilden und die Vereinzelungswirkungen neuer herrschaftlicher Steuerungstechniken ebenso wie sogenannte workfare-Strategien (Verpflichtung von Erwerbslosen zu Aktivierungsprogrammen) zurückweisen. Menschen können nicht nur als Erwerbssubjekte, sondern müssen auch als bedürftige Personen wahrgenommen werden. Angesichts zunehmender Prekarisierung von Erwerbsarbeitsverhältnissen werden in jüngster Zeit neue Definitionen von Prekarität diskutiert. Diesen geht es darum, die geschlechtsspezifische Sicherheitsfiktion zu entlarven, die mit dem männlichen Familienernährermodell verbunden war. Prekarität wird nicht als prinzipiell «zu überwindende Bedrohung» gefasst, «sondern meint eine grundlegende, existenzielle Gefährdetheit des Sozialen, die durch gegenseitige Abhängigkeit entsteht» (Michèle Amacker). Damit wird auf zweierlei aufmerksam gemacht: zum einen darauf, dass Sorge-Arbeitsverhältnisse immer schon prekär organisiert waren, zum anderen dass Sorge eine Arbeit ist, die im Rahmen notwendiger Abhängigkeit von anderen Menschen stattfindet, für diese Abhängigkeit sensibilisieren, diese freilich auch ausnutzen kann. Das Wissen um gemeinsame Abhängigkeit und das Angewiesen-Sein aufeinander können zur Grundlage gemeinsamen demokratischen Handelns werden. Demokratie kann in diesem Sinne als «fürsorgliche Praxis» re-formuliert werden.

Fünftens: Das Konzept «sozialer Infrastruktur» schlägt im Unterschied zu Konzepten eines Mindest- oder Grundeinkommens eine nicht-geldliche Sorgeinfrastruktur vor. Solche öffentlichen Vorkehrungen sollen den Widerspruch zwischen Produktions- und Reproduktionsarbeit nicht prekär auf Dauer stellen, sondern perspektivisch auflösen. Dies ist anschliessbar an die Forderung nach einem sorgenden Staat, der über die bisherigen Sozialstaatsvorstellungen hinausgeht und Sorge als soziale Infrastruktur abzusichern gewillt ist. Damit ist auch eine Perspektive der Überwindung von Arbeitsteilung verbunden.

Demokratie als sorgende Praxis und Widerstand gegen Trennungen

Ein gegen hegemoniales geschlechtssensibles Demokratieprojekt muss vor allem die vereinzelnden Wirkungen neuer herrschaftlicher Steuerungstechniken zurückweisen. Die individualisierenden Selbsttechnologien im Erwerbs- wie im Sorgebereich müssen in kollektiven Prozessen demokratisch zugänglich, das heisst gemeinsam veränderbar werden. Ein «Recht auf Arbeit» – und zwar auf Erwerbs- und/oder Sorgearbeit – sollte daher als demokratisches Recht gefordert werden. Dies muss also ein Recht auf Freiheit von Erwerbsarbeit und zu reproduktiven Tätigkeiten beinhalten.

Vor allem ist durch die Befreiung vom «Zwang» zur Erwerbsarbeit eine Neukodierung politischer Identitäten intendiert: Gesellschaftliche Integration und politische Teilnahmechancen sollen von der Vorstellung von Erwerbsarbeit gelöst werden, um über diese Möglichkeit die Freiheit und die Zeit für sinnvolle Tätigkeit für alle Geschlechter zu schaffen. Neue Arbeitskonzepte können dann als eine transformative Strategie der  Demokratisierung begriffen werden, die die kapitalistischen Grundfesten der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in Frage stellt.

Ein feministisches Demokratiekonzept möchte der Repräsentationsidee, in der sich Demokratie in periodischen
Wahlen von Menschen erschöpft, die andere Menschen vertreten, etwas entgegensetzen und sie ausser Kraft setzen. Dies geschieht, wenn Demokratie vom Leben und Arbeiten der Menschen her gedacht wird. Neben Kooperation, gemeinsamem Handeln, Solidarität am Arbeitsplatz müssen dazu auch Konflikte deutlich gemacht werden, auch Konflikte am Arbeitsplatz Familie. Demokratie muss also Arbeitskämpfe, Auseinandersetzungen um Leben aufgreifen und bearbeiten. Nur in diesem widersprüchlichen Feld kann Demokratie als sorgende Praxis oder als «affektive Demokratie» gefasst werden, nur so kann gemeinsames Handeln als Bezogenheit und Beziehung, als Nähe, Distanz und als Ringen darum sinnvoll gefasst werden.

Kurzum, Demokratie muss Menschen in allen Lebensvollzügen, nicht nur im öffentlichen Bereich, als politische Personen wahrnehmen, die nolens volens ihr Leben gemeinsam mit anderen gestalten müssen. Arbeit hier als einen  Ausgangspunkt zu nehmen, scheint mir eine Chance, dem biopolitischen Regieren durch Trennungen zu widerstehen.

Dieser Beitrag ist eine gekürzte und stark überarbeitete Version des Beitrags von Birgit Sauer: Demokratie, Geschlecht und Arbeitsteilung, in: Alex Demirovic (Hrsg.): Transformation der Demokratie – demokratische Transformation. Münster 2016, S. 156-173. Dort finden sich auch zahlreiche Literaturhinweise.

  • Birgit Sauer,

    *1957, ist Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Wien. Im Zentrum ihrer Forschung stehen Governance und Geschlecht, die Politik der Geschlechterverhältnisse, Staats- und 
Institutionentheorien, Politik und Emotionen.