«Wie schaffen wir eine vielfältige Bewegung der Bewegungen?»

Matthias Hui, Geneva Moser, 16. Juli 2019
7/8.19

Rechtsautoritäre und nationa­listische Bewegungen in Europa sind längst nicht am Ende. Rassismus, Nationalismus und Sexismus sind verschränkt mit der sozialen und ökologischen Frage. Die Forderungen nach einem Systemwandel verbinden aktuelle soziale Bewegungen mit solidarischer Praxis im Alltag und Veränderung der eigenen Lebensweise. Neue Wege-Gespräch mit der Soziologin Sarah Schilliger.

NW: Sie sind in die Hochblüte des Neoliberalismus hineingeboren worden. Nach den sozialen Bewegungen der 1980er Jahre und den globalen Veränderungen nach 1989 erlebte der Neoliberalismus seinen Siegeszug, Wirtschaft und auch Politik wurden dereguliert, privatisiert, liberalisiert. Es gab allerdings immer Widerstand  gegen diese Ordnung der Welt. 1991 haben Sie als Schülerin den ersten Frauenstreik erlebt, an dem Ihre Mutter teilnahm. Aber die Kritik an den Verhältnissen, am globa­lisierten Kapitalismus kristallisierte sich letztlich nicht an emanzipatorischen Projekten, sondern führte zu einer Stärkung rechtspopulistischer Tendenzen. Stehen wir noch mitten drin in diesem rechtspopu­listischen Schlamassel? Oder gibt es Anzeichen, dass diese historische Phase an ein Ende kommen könnte?

Sarah Schilliger: Ich bin keine Prophetin. Und auch wenn ich grundsätzlich Optimistin bin, würde ich mit Aussagen in Bezug auf die gegenwärtigen Entwicklungen vorsichtig bleiben und sicher kein Ende von rechten Tendenzen prognostizieren – trotz einzelner sprichwörtlicher Köpfe des rechtspopulistischen Lagers, die gerade rollen, wie Strache in Österreich. Wir sehen fast überall in Europa eine andauernde Dynamik von rechtsautoritären und nationalistischen Strömungen. Dazu gehören nebst Vertreter­innen und Vertretern eines etablierten autoritären Rechtskonservatismus wie der zurückgetretenen Theresa May auch offen rassistische und gar neofaschistische Parteien wie die deutsche AfD und die ungarische Fidesz unter Orbán. Auch die jüngste Europawahl zeigt einen deutlichen Rechtsrutsch. In Italien ist die Lega Nord unter Matteo Salvini die stärkste Partei, in Frankreich ist es das Rassemblement National unter Marine Le Pen. Insgesamt hat sich das ganze Parteisystem nach rechts verschoben, Mitteparteien vertreten vermehrt rechte Positionen. Die grundsätzliche Frage für mich ist da, was den Nährboden für diesen Erfolg bietet und wie er sich erklären lässt.

NW: Ihre Antwort?

Sarah Schilliger: Das ist sowohl eine politische wie eine soziologische Frage. Entsprechend gibt es unterschiedliche Erklärungsansätze, die sich nicht einfach kurz fassen lassen. Ich würde sagen, dass der Nährboden dieser Entwicklungen in der Krise des neoliberalen Projekts liegt, das zu einer massiven Zunahme von sozialen Ungleichheiten und zu einer massiven Prekarisierung breiter Bevölkerungsschichten geführt hat. Es herrscht eine allgemeine Kultur der Unsicherheit in unterschiedlichen Lebensbereichen: Ökonomische Veränderungen bringen Unsicherheit in die Erwerbsarbeit, und der Umbau des Sozialstaates führt für gewisse Schichten zu einer Verarmung. Bedeutend ist aber auch, dass sich kulturelle Identitäten durch die Globalisierung verändern und Geschlechterverhältnisse, Familienmodelle und damit verbundene Lebensweisen im Umbruch sind. Dieser Verunsicherung werden unterschiedliche Bewältigungsstrategien und Deutungsmuster entgegengehalten. Von rechts kommt ein Deutungsangebot mit einem sehr autoritären Weltbild und einem klaren Freund-Feind-Schema: «Wir» und «die Anderen», das Eigene und das Fremde. Oder alternativ: «Wir» und «die da oben» – das Establishment. Und das obwohl häufig rechte Politikerinnen und Politiker über viel Kapitalkraft verfügen und selber zum «Establishment» gehören. – All diese Konfliktlinien des neoliberalen Projekts liessen sich aber genauso gut mit einem linken Deutungsmuster bearbeiten.

NW: Sehen Sie Anzeichen, dass dies konkret gemacht wird?

Sarah Schilliger: Ansatzweise, aber die Ausgangslage ist schwierig. Denn die europäische Sozialdemokratie hat über viele Jahre hinweg eine neoliberale Politik betrieben – jedenfalls in manchen Ländern, für die Schweiz gilt dies etwas weniger. Dadurch ist sie für viele nicht mehr glaubwürdig. Der französische Soziologe Didier Eribon zeigt dies in seinem Buch Rückkehr nach Reims eindrücklich am Beispiel seiner eigenen Familie auf. Menschen, die früher stramm links wählten, wendeten sich dem Front National zu. Er sagt, die Bevölkerung würde sich beispielsweise durch Migration nicht so bedroht fühlen, wenn nicht der Sozialstaat kontinuierlich abgebaut worden wäre. Wie stark es um die Frage geht, auf welche Weise gesellschaftliche Konflik­tlinien bearbeitet werden, zeigt die Bewegung der «Gilets Jaunes» in Frankreich, die ja auch Ausdruck dieser Prekarisierung der Gesellschaft ist. Aktuelle soziologische Studien zeigen, dass dieser Protest sehr divers und politisch ganz unterschiedlich gerahmt ist, von links über eine apolitische Haltung bis rechts. Diese Revolte richtet sich gegen das politische und ökonomische System, so wie es heute funktioniert: «So geht es nicht weiter!» Sie zeigt, dass der politische Umgang mit der Ausgangslage der Verunsicherung höchst umkämpft ist – ob man die Politik von Macron dafür verantwortlich macht oder eben die Migranten … Soziale Bewegungen geben auf diese Verunsicherung gegenwärtig Antworten. Da zeigen sich, gerade bei der Jugend und in der Frauenbewegung, eine neue Mobilisierungskraft und neue Formen des Politisierens. Das stimmt mich optimistisch.

NW: Bleiben wir einen Moment bei der Frauenbewegung. Was hat sich in den Geschlechterverhältnissen eigentlich verändert in den letzten 28 Jahren seit dem ersten Frauenstreik? Und was nicht?

Sarah Schilliger: Die Lebensrealitäten sind für viele Frauen sicherlich andere als 1991, jedoch sind die Entwicklungen widersprüchlich. Heute sind massiv mehr Frauen in die Erwerbsarbeit integriert. Hier hat quasi eine Revolution stattgefunden. Gleichzeitig war diese Revolution nicht begleitet von einer Umverteilung der Reproduktionsarbeit zwischen den Geschlechtern. Viele Feministinnen hatten in den 1970er Jahren die Hoffnung, über die Erwerbsarbeit die Gesellschaft zu verändern. Der Einstieg in die Erwerbsarbeit wurde damals verbunden mit dem Ausbruch aus dem Gefängnis des Privaten – ­dem Laufgitter, wie es Iris von Roten nannte. Heute stellen sich ganz andere Fragen, weil die Erwerbsarbeit inzwischen eher zu einem Imperativ geworden ist – Frauen sollten ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen, ihr Humankapital verwerten lassen. Viele Frauen – insbesondere Mütter – machen dabei die Erfahrung: Vereinbarkeit ist ein schönes Ideal, Unvereinbarkeit jedoch die häufigere Realität.

NW: Was hat das für Konsequenzen für Sie?

Sarah Schilliger: Die Widersprüchlichkeiten in der gesellschaftlichen Organisation von Care müssen thematisiert werden. Denn es ist eine gesellschaftliche Frage, wie wir die Kinderbetreuung oder die Sorge für ältere, pflegebedürftige Menschen organisieren. Und hier etablieren sich aktuell neue Ungleichheiten auch zwischen Frauen, wenn Care-Arbeit an Migrant­innen ausgelagert wird – an Sans-Papiers-Hausarbeiterinnen, Au-Pairs, 24h-Betreuerinnen aus Osteuropa, die rund um die Uhr pflegebedürftige Menschen umsorgen. Care-Arbeit wird damit umverteilt zwischen Frauen unterschiedlicher Klassen und Herkunft – womit im Haushalt ein Niedriglohnsektor mit prekärsten Bedingungen expandiert.

Ich will mich nicht nur über die Erwerbsarbeit definieren, sondern fordere auch Zeit und soziale Absicherung ein, um Care-­Arbeit selber leisten zu können. Doch ich stelle gerade im Zusammenhang mit den Diskussionen rund um den Frauenstreik fest: Wenn ich dies als junge Mutter fordere, birgt es Konfliktpotential. Es gibt ältere Frauenbewegte, die den Kopf schütteln und darin eine Gefahr des Rückschritts sehen. Doch wird mit dieser Haltung nicht die Abwertung dieser Arbeit fortgesetzt? Im meinen Augen sollten wir in unserer erwerbs­zentrierten Gesellschaft über ein grundlegend neues Verhältnis zwischen Lohnarbeit und unbezahlter Care-Arbeit nachdenken und Zeitstrukturen schaffen, die beides ohne chronische Überbelastung vereinbaren lassen. 

NW: Vermag denn etwa der Frauenstreik dieser zuvor besprochenen Verunsicherung im Neoliberalismus und den Antworten des Rechtspopulismus Alternativen entgegenzusetzen? Es ist eine Frage nach den Inhalten, aber auch nach politischen Formen.

Sarah Schilliger: Sowohl die Klimabewegung wie auch die feministische Bewegung schaffen es, die Bedingungen, wie Politik gemacht wird, grundsätzlich in Frage zu stellen. Einerseits werden die strukturellen Fragen in den Vordergrund gerückt und es wird ein grundsätzlicher «System Change» gefordert. Gleichzeitig wird aber auch betont, dass es auf jede Einzelne und jeden Einzelnen ankommt. Die Lebensweise und der Alltag stehen ebenso im Zentrum. Das individuelle Handeln und die strukturelle Kritik werden verbunden – das ist auf diese Art neu und sehr erfrischend. 

An dogmatisch-marxistischen Diskussionen hat mich das oft gestört und genervt: Die Frage nach der Lebensweise wurde als «individualisierend» abgetan. Der Bezug zur eigenen Alltagspraxis und die Reflexion der Verstrickung in widersprüchliche Ausbeutungsstrukturen fehlte. In dieser Verbindung sehe ich ein grosses Potenzial. Wie auch immer die Bewegungen weitergehen, eines ist sicher: Diejenigen, die sich in diese Bewegung einschreiben, werden in ihrem Handeln und in ihrer Denkweise nachhaltig beeinflusst. Da wird gerade eine Generation junger Menschen politisiert. Ich habe dies selber erlebt: Die globalisierungskritische Bewegung wie auch die Anti­kriegsbewegung haben mich als Person und in meinem Handeln stark geprägt.

NW: Welche Rolle spielen denn die Aktionsformen dabei? Judith Butler beschrieb schon vor ein paar Jahren, was sie beim Ara­bi­schen Frühling, aber auch anderswo beo­bachtete: «Was wir aber vor allem sehen, wenn Körper auf Strassen, Plätzen oder an anderen öffentlichen Orten zusammenkommen, ist die – wenn man so will, performative – Ausübung des Rechts zu erscheinen, eine körperliche Forderung nach besseren Lebensbedingungen.» Was passiert da gerade?

Sarah Schilliger: Das physische Zusammenkommen, die Versammlung, wie Judith Butler sagt, ist gerade angesichts der zunehmenden Digitalisierung sehr wichtig. Es ist aber auch so, dass manche Formen des Politisierens sichtbarer sind als andere. Ich finde es wichtig, das Augenmerk gerade auch auf die unsichtbareren zu richten. Wenn wir nur die besetzten öffentlichen Plätze anschauen, also beispielsweise die «Fridays for Future»-Demonstrationen, dann sehen wir nur das, was ohnehin im Scheinwerferlicht ist. Viele Formen unsichtbarer Politiken, Umwälzungen im Alltag, bleiben unsichtbar. Gerade beim Frauenstreik wird ja viel damit experimentiert, wie mit politischem Widerstand umgegangen werden kann, weil Streiken in vielen Bereichen der unbezahlten Arbeit nicht so einfach möglich ist.

NW: Der System Change, von dem die Klima­bewegung spricht, heisst dementsprechend für Sie nicht einfach eine Revolution am Tag X. Er zeigt sich gerade auch in den kleinen Umwälzungen im Alltag, in den Beziehungen. Wie kann die Überwindung des Systems konkret aussehen und erfahrbar werden, und wie stellen Sie sich diesen Prozess vor? 

Sarah Schilliger: Beziehungen sind ein wichtiges Stichwort. Bini Adamczak beschreibt in ihrem Buch Beziehungsweise Revolution sehr schön, wie es um das Revolutionieren von Beziehungen geht, um den Aufbau von solidarischen Praktiken und um das Schaffen von Räumen. Ich habe diesbezüglich viel gelernt in der Bleiberecht-Bewegung, die die Missstände im Asylwesen skandalisiert und gleichzeitig für die Vision einer globalen Bewegungsfreiheit kämpft. In diesem Zusammenhang wurde in Zürich vor gut zehn Jahren die Predigerkirche besetzt, woraus sich dann die Autonome Schule entwickelt hat. Diese Erfahrung, dass ein Raum geschaffen werden konnte, in dem das Experimentieren möglich war und im Alltag neue Beziehungsweisen erlebbar wurden, hat mich sehr geprägt. Das Protestieren hat sich übersetzt in den Versuch, mit diesen zum Beispiel in Bezug auf ihren Aufenthaltsstatus sehr unterschiedlichen Menschen gemeinsam aktiv zu sein und neue solidarische Praxen im Alltag zu leben. Ein Recht, was Menschen verweigert wird, das Recht auf Bildung, wurde in diesem Raum autonom organisiert – und gleichzeitig weiterhin von der Gesellschaft eingefordert. Ich glaube, dass auch in den Emanzipationsbewegungen, die wir heute sehen, diese Frage nach selbstbestimmten Räumen zentral ist.

NW: Sie sprechen von fliessenden Veränderungen. Müssen die Bewegungen, die für einen Systemwandel eintreten, aber auch auf Knackpunkte, auf Momente hin­arbeiten, in denen sich bestehende Herrschaftsverhältnisse schlagartig verändern?

Sarah Schilliger: Ich will natürlich nicht sagen, dass es nur um das Lokale und die eigenen Lebenswelten geht. Es braucht das Verbindende, das Zusammenkommen in einer gemeinsamen Politik. Es braucht eine politische Rahmung dieser Alltagskämpfe. Dass die Frauenstreikbewegung und die Klimabewegung auch zusammenkommen, wird ja nicht nur gerne gesehen. Ich finde das toll und wichtig – aber es ist natürlich eine Herausforderung, wie gemeinsam Politik gemacht werden kann, ohne die jeweiligen Perspektiven und Positionen zu vereinnahmen. Wie schaffen wir eine vielfältige Bewegung der Bewegungen? 

NW: Bleiben Sie hier ganz im Modus der Frage, oder haben Sie selber Vorstellungen davon, wo und wie grosse, kollektive politische Entwürfe formuliert werden können? Hat eine fortschrittliche politische Partei 
in dieser Konstellation eine Bedeutung?

Sarah Schilliger: Ich bin fragend, weil ich in der schweizerischen Parteienlandschaft diese Kraft momentan nicht sehe. Ich sehe innerhalb der Sozialdemokratie, der JUSO und der Grünen zwar Tendenzen, eine bewegungspolitische Strategie zu verfolgen, nah bei sozialen Bewegungen zu sein, ohne sie zu vereinnahmen. Einzelne Figuren versuchen das. Aber trotzdem ist eine Sozialdemokratische Partei heute für mich nicht in allen Belangen glaubwürdig, weil sie als Regierungspartei auch neoliberale Projekte mitträgt. Ich argumentiere nicht grundsätzlich gegen Parteipolitik, sondern vielmehr für eine produktive, sowohl konfliktive wie auch kooperative verbindende Praxis zwischen Parteien, Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Die US-amerikanische Aktivistin und demokratische Abgeordnete im Repräsentantenhaus Alexandria Ocasio-Cortez finde ich inspirierend. AOC, wie sie genannt wird, ist ein Phänomen – sie steht für mich für den Aufbruch und diesen Suchprozess nach wirklicher Demokratie. Sie verkörpert etwas Charismatisches, ohne dabei autoritär zu wirken. Wohl deshalb, weil sie sich selber nicht zu ernst nimmt und selbstreflexiv ist. Und man spürt, dass sie von einer Bewegung mitgetragen wird. Da ich im Rahmen meiner Tätigkeit für die Rosa-Luxemburg­-Stiftung häufig in Deutschland bin, verfolge ich dort die Entwicklung der Partei «Die Linke» mit. Auch dort fällt mir auf, dass bewegungspolitisches Engagement innerhalb der Partei Zuspruch findet, auch wenn das nicht unumstritten ist. Ich finde es erfrischend, wie damit experimentiert wird, bewegungspolitische Anliegen in institutionelle Politik zu übersetzen, aktuell gerade im Bezug auf Miet- und Wohnungspolitik. In der Bewegung um «Urban Citizen­ship», bei der es um gleichberechtigte Teilhabe aller am städtischen Leben geht, bin ich genau an solchen Fragen interessiert: Wie schaffen wir es, grosse Visionen und Fragen in politische Strategien bis zur kommunalen Ebene zu übersetzen und dabei Bewegungspolitik und institutionelle Politik nicht gegeneinander auszuspielen?

NW: Sehen Sie da auch Defizite in der Theorie? Ist es Ihrer Meinung nach produktiv, in der heutigen politischen Konstellation auch wieder von Klassenpolitik zu sprechen?

Sarah Schilliger: Die Diskussion um verbindende Klassenpolitik ist wichtig, sie fliesst zu wenig in unsere Diskussionen ein. Es frustriert mich manchmal, dass es in der Schweiz so wenig Gefässe für solche Debatten gibt. In Deutschland sind sie stärker institutionalisiert, beispielsweise in den politischen Stiftungen wie der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Das bedeutet auch, dass Gelder vorhanden sind für kritische Wissensproduktion. Sowas gibt es in der Schweiz nicht. Kritische Intellektuelle sind oft ziemlich vereinzelt und an Universitäten eher marginalisiert. Dann gibt es Debatten in zivilgesellschaftlichen Organisationen, in den Kirchen und in gewissen NGOs oder im Think­tank Denknetz. Aber das ist wenig. Es wäre toll, wenn wir einen Zusammenhang schaffen könnten, wo grundsätzliche Fragen systematisch angegangen werden. Das braucht aber eben auch finanzielle Mittel.

NW: Sie beobachten verschiedene soziale Bewegungen und sind darin auch selber aktiv. Im Moment verlaufen die Entwick­lungen noch fragmentiert: Stimmt der Eindruck, dass in der Klimastreikbewegung Gymnasiastinnen und Studenten aktiv sind, andere Jugendliche noch weniger? Sie untersuchen, wie Menschen heute im digitalen, deregulierten Zeitalter prekäre Arbeit leisten. War der Frauenstreik auch von jenen Frauen getragen, die gegenwärtig am Heftigsten unter die Räder kommen, weil sie sowohl zuhause als auch im Beruf unter- und nicht bezahlte Carearbeit leisten? Oder sie forschen zu Racial Profiling, diskriminierenden Kontrollen von Personen­gruppen, welche von den Polizist­Innen als ethnisch oder religiös «andersartig» wahrgenommen werden. Sind diese Gruppen auch an Klima- oder Frauen­streiks anzutreffen? Wie kommt es zu einer breiten «hegemonialen» Bewegung, um die gegenwärtigen Verhältnisse, unter denen so viele Menschen leiden, gemeinsam umzuwerfen?

Sarah Schilliger: Ich stimme Ihnen zu, dass auch in den aktuellen Bewegungen marginalisierte Stimmen häufig nicht erhört werden. Und dass es hierzulande nicht selten zu einer Gegenüberstellung von Identitätspolitik und der sogenannten sozialen Frage kommt, ohne zu thematisieren, dass Klassenfragen mit rassistischer Diskriminierung und geschlechtlicher Benachteiligung untrennbar verquickt sind. Doch gerade der Frauenstreik stimmt mich diesbezüglich zuversichtlich – weil sich hier eine sehr vielfältige und ansatzweise intersektionale Bewegung manifestiert. So wird in der aktuellen Debatte um Care-Arbeit beispielsweise deutlich, dass sowohl die ungleiche Verteilung dieser Arbeit zwischen den Geschlechtern angegangen werden muss als auch die rassistische Arbeitsteilung im Care-Sektor – und dass wir dies nicht losgelöst von einer Kapitalismusanalyse tun können. Mich hat am Frauenstreik beeindruckt, wie sich Frauen mit ganz unterschiedlichen Perspektiven und Hintergründen zusammengefunden haben, um die bestehende Ordnung in Frage zu stellen. Natürlich haben sie keine einheitlichen Forderungen formuliert, und selbstverständlich gibt es darin auch Widersprüche. Aber an dieser unglaublichen Kraft, die an dem Tag spürbar war, lässt sich nun doch produktiv ansetzen!

Eine wichtige Rolle kommt dabei auch den Gewerkschaften zu. Hierzu bräuchte es aber eine Erneuerung der Gewerkschaftspolitik: weniger Campaining, wieder mehr Basispolitik, die nah an den Alltagssorgen der Menschen ist. Eine wichtige Rolle nimmt auch die kritische Wissenschaft ein. Was beispielsweise Racial Profiling betrifft, habe ich soeben an einer Studie mitgearbeitet. Unser kritischer Anspruch war es, die Bagatellisierung von Racial Profiling seitens der Polizei zu widerlegen. Die Studie zeigt deutlich, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt, sondern dass eine Systematik dahintersteckt. Das Erfahrungswissen und das alltägliche Erleben rund um Racial Profiling einzufangen, es zu dokumentieren und zu belegen, war uns wichtig. Diese Systematik von institutionellem Rassismus muss benannt werden. Es ist eine Aufgabe der kritischen Wissenschaft, oft überhörten Stimmen Gehör zu verschaffen.

NW: Was motiviert sie, in diesem Zusammenhang von sozialer Bewegung und wissenschaftlicher Tätigkeit weiterzuarbeiten?

Sarah Schilliger: Der Kampf gegen Ungerechtigkeiten treibt mich an. Es ist ein Privileg, mit meinem wissenschaftlichen Handwerk eine gewisse Aufmerksamkeit dafür schaffen zu können. Durch eine Studie wie jene zu Racial Profiling kann etwas in den politischen Diskurs eingespiesen werden, das dann auch verhandelt wird. Es geht hier ja um ein Phänomen, das ich selber nicht erleben muss. Aber im Wissen darum, dass dieser Rassismus die ganze Gesellschaft betrifft und gerade in der Schweiz tabuisiert ist, kann ich meine Privilegierung einsetzen. Gleichzeitig sind es aber auch die persönlichen Begegnungen mit Forschungssubjekten, die mich immer wieder antreiben und motivieren. Menschen erzählen mir von ihrem Leben, wobei ein Interview ja eine soziale Beziehung schafft. Oft ist dabei das spürbar, was der Soziologe Pierre Bourdieu die «Wohltat des Sich-Aussprechens» nennt. Bourdieu beschreibt damit das Gefühl, in einer Interviewsituation ernst genommen zu werden und häufig lange verschwiegene oder unterdrückte Erfahrungen auch aussprechen zu können. Und noch viel bedeutender ist dies, wenn das unter Menschen geschieht, die das ähnlich erlebt haben. Damit kann der Ausbruch aus der Individualisierung gelingen. Wissenschaftliche Arbeit kann diese Analyse leisten und zeigen, dass es eben nicht um Einzelfälle geht, sondern um eine Systematik. Das motiviert mich: Mein erlerntes Handwerk einzusetzen, um darauf hinzuarbeiten, erstarrte Strukturen aufzubrechen. Das ist durchaus sehr lustorientiert: Gemeinsam mit anderen eine kritische Wissensproduktion voranzutreiben, macht mir viel Freude. 

NW: Was ist Ihr politisches Lebensgefühl heute?

Sarah Schilliger: Ich bin ein optimistischer Mensch und falle dann wieder auf die Nase. Dass soziale Bewegungen kommen und gehen, habe ich bereits gelernt. Es war für mich eine grosse Enttäuschung, dass beispielsweise die globalisierungskritische und die Anti-Kriegs-Bewegung einen grossen Aufschwung erfuhren und danach verpufften. Sicherlich bleibt etwas davon bestehen. Trotz der Gefahr, die von rechtsautoritärer Seite her ausgeht, stimmen mich die aktuellen Bewegungen hoffnungsfroh. Das Tina-Prinzip ist aufgebrochen worden: Diese Überzeugung, es gäbe keine Alternative, der Kapitalismus sei das beste aller Systeme, ist brüchig geworden – und damit das neoliberale Projekt. ●

○ Sarah Schilliger,*1979, ist Soziologin, lehrt am Zentrum Gender Studies der Universität Basel und forscht aus einer intersektionalen Perspektive zu Migration, Care, Citizenship-Politiken und sozialen Bewegungen. Sie ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Rosa-Luxemburg-Stiftung und engagiert sich im Netzwerk Wir alle sind Bern sowie in der Allianz gegen Racial Profiling.
sarah.schilliger@unibas.ch

○ Aktuelle Publikationen: 
Mohamed Wa Baile/Serena O. Dankwa/Tarek Naguib/Patricia Purtschert/Sarah Schilliger (Hg.): Racial Profiling. Struktureller Rassismus und antirassistischer Widerstand. Bielefeld 2019. 
Kollaborative Forschungsgruppe Racial Profiling: Racial Profiling: Erfahrung, Wirkung, Widerstand. Berlin 2019. 

 

 

  • Matthias Hui,

    *1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation humanrights.ch.

  • Geneva Moser,

    *1988, studierte literarisches Schreiben, Geschlechterforschung und Philosophie an der Kunsthochschule Bern und der Universität Basel. Sie ist Tanztherapeutin, schreibt freiberuflich und ist Co-Leitung der Neue Wege-Redaktion.