Schweigen – das ist eine Strategie, die Kleriker nicht selten wählen: Schweigen zu sexueller Gewalt, zu Machtmissbrauch, zu Mobbing, zu Scheinheiligkeit und Bigotterie. Ich brauche die Beispiele nicht zu benennen, aber während der Lektüre des Zeit-Artikels tauchen sie alle sofort vor meinem inneren Auge und in meinem Gefühlshaushalt auf. Und wieder einmal kommt mit ihnen auch die Frage: Was mache ich hier eigentlich? Warum bin ich noch immer Teil von diesem Laden? Ich schäme mich.
Oft fallen in Gesprächen mit Freund*innen Witze über die Kirche, über Menschen, die religiös sind, die glauben. Für viele ist es unvorstellbar, dass sich linker Aktivismus und Religion verbinden lassen. Natürlich ist in diesem Blick von linksstehenden Weggenoss*innen auch viel Undifferenziertheit, viel Pauschalurteil auszumachen. Und die oft fast an Religionsfeindlichkeit grenzende Abwehrhaltung ist auch widersprüchlich: Wenn beispielsweise bedauert wird, dass religiöse Menschen wegen Corona gerade keine Feste feiern können, dann sind damit Muslim*innen gemeint, nicht etwa auch Christ*innen aus dem nächsten Umfeld, die vielleicht die Osterliturgie vermissen. Mit Christ*innen, linken und aktivistischen Christ*innen, wird kaum gerechnet in der Linken, den aktivistischen Kreisen. Das ist schade. Aber diese Abwehrhaltung hat auch ernstzunehmende Wurzeln. Dogmatismus, Klerikalismus, Macht und Manipulation prägen das Image der Kirche. Sie schrecken ab – zu Recht.
Vielleicht gab Corona eine Vorahnung auf das, was mit dieser Kirche geschehen wird, geschehen muss: Das Gebäude «Kirche» bleibt leer, und die dazugehörige Institution verliert an Macht und Ressourcen. Ihre männlichen Würdenträger sind plötzlich Menschen unter Menschen und müssen lernen, was Kirche ohne ihre Amtswürde bedeuten könnte. Die Marginalisierten dieser Kirche werden sichtbar und ihre kreativen Methoden von Gottesdienst gewinnen an Bedeutung: Das kirchliche Leben verlagert sich in Haushalte, Graswurzelaktionen, direkte Solidarität, politisches Engagement, persönliche und gemeinschaftliche Spiritualität. Klöster werden plötzlich Ansprechpartner für aussergewöhnliche Situationen: Wie gehen Menschen mit Isolation um? Wie kann ein Tag zu Hause sinnvoll strukturiert werden? Welche spirituelle Praxis ist hilfreich in Krisen? Und die Netzwerke von Frauen werden stärker, aktiver, sichtbarer.
Nicht selten schäme ich mich, offen zu sagen, dass ich Christin bin. Aber ich bin es, eine katholische noch dazu – gerade während der Corona-Krise. Die Kirche, die ich liebe, ist eine Graswurzelkirche, eine theopolitische, eine befreite, eine monastische, mystische, menschliche. Sie «lobt, ohne zu lügen» (Dorothee Sölle).