Neue Wege als eine kritische Zeitschrift im Bereich Christentum und Sozialismus hat Theologien und Spiritualitäten mit unermüdlich fragenden und ehrlichen Beiträgen zu begleiten. Hier müssen die Neuen Wege radikaler werden; den Rest überlassen sie anderen. Die Neuen Wege haben etwas vom Geist und Mut des Ökumenischen Rates der Kirchen nach dem Zweiten Weltkrieg und des Zweiten Vatikanischen Konzils aufzunehmen und furchtlos weiterzuführen. Umkreisend halte ich fest, was mir vorschwebt.
Sowohl die Bibel als auch die Theologie sind mehr als ein Zitatenlexikon. Zitate der Bibel, aus dem Kontext gerissen, genauso wie Verweise auf Kirchenväter «beweisen» nichts. Primär zeigen sie auf, was damals als brennende Themen im Raum stand. Bibel und Theologie können uns höchstens eine mögliche Denkweise oder einen möglichen Faden aufzeigen, weitergehen müssen wir selber.
Es entstanden mehrere Verarbeitungen des Lebens Jesu. Wir kennen Ansätze in bis zu 15 Apokryphen. Paulus kann und darf nicht mit den vier Evangelien gleichgestellt werden. Das Alte Testament ist nicht einfach ein Vorwort zum Neuen Testament; es zeigt, dass wir in einer langen Tradition stehen. Daraus ergibt sich der Schluss, dass es diese Traditionen, in denen wir stehen, für uns auch in anderen Religionen gibt. Der Geist Gottes weht weltweit. Gott kennt eine Welt, bevorzugt nicht einzelne Gegenden. Oder doch?
Das Christentum ist ein geschichtliches Ereignis: vom Judentum ins Römerreich, zu den Alemannen und Iren,
nach dem Osten oder nach Nordafrika. Stets entsteht das Christentum neu und verändert sich, wird erweitert, aber
auch teilweise verstümmelt.
Die Neuen Wege haben alle Berechtigung, diesen Weg weiterzuführen, mutig, gar verwegen. Denn, falls Gott wirklich Mensch wurde, schwingt Menschliches im Christentum permanent mit. Damit haben die Neuen Wege zu leben und nicht sofort zu reinigen, zu trennen und zu verurteilen, sondern zu beurteilen und zu fragen, warum? Gottes Inkarnationsabsichten müssen Mélange, Vermischung und Parallelismus gewollt haben.
Das Christentum – wie jede Religion – kann nie rein und nur wahr sein, genauso wenig wie Kapitalismus oder Marxismus. Ein Demokrat, eine Demokratin kann nicht mit Eindeutigkeiten leben; er/sie hat die Bürde des Kompromisses zu ertragen. Die Neuen Wege haben auf diesem Hintergrund den Sozialismus nicht als Heilslehre, sondern als eine zeitbedingte theologische Variante mit einzubeziehen. Dennoch müssen sich die Neuen Wege vor allen – auch versteckten – Dualismen hüten: Selbst alles Gute ist menschlich, es ist omnipräsent und gleichzeitig abwesend. Es ist die Lage Hiobs.
Die Neuen Wege müssen wegkommen von allen Kyrios- (Herr) und Reich Gottes-Vorstellungen; denn Gott wollte Menschwerdung und darin eingeschlossen Demokratie. Wir befinden uns auf dem schwierigen Pfad der Säkularisierung, der Entmythologisierung. Dennoch gehen das Heilige und das Profane weiterhin zusammen, immer neu, stets anders.
Theologie kann heute nicht mehr isoliert arbeiten; sie hat andere Fächer von der Paläontologie bis zur Soziologie
einzubeziehen. Echte Theologie sollte wie eine Verteidigerin vor Gericht arbeiten: Jedes Argument wird auseinandergenommen, von allen Seiten durchleuchtet, um vielleicht bei etwas – a little bit of truth – anzulangen. Ein Theologe, eine Theologin hat frech und mutig zu sein, stets am Rande des Verdachts. In den Neuen Wegen brauchen wir keine theologische Korrektheit.
Die Neuen Wege müssen mutig jeglichen Monotheismus (Kyrios) aufgeben; denn wozu entstand die urchristliche Sicht der Dreifaltigkeit? Der Theologe, die Theologin hat Gott zu kultivieren, zu zähmen, unter uns zu bringen – taming the Gods (Ian Buruma). Somit kommt der alte Begriff der Bekehrung zum Verschwinden.
Etwas von zuvor tragen wir weiter mit uns herum. Altes bleibt; es muss nur in neues Licht gesetzt werden. Viele Traditionen werden im neuen Kontext sinnlos werden. Der Theologe, die Theologin hat beinahe heroisch in der Gegenwart zu stehen, zu denken und zu lehren. Sowohl Vergangenheit als auch Zukunft werden für ihn oder sie leicht zur Aus-Flucht.
Apokalypse und Eschatologie sind mythische Bilder, die fast alle Religionen der Welt in irgendeiner Form kennen. Wir leben stets dazwischen. Eine Spiritualität des Alltags muss radikaler ins Auge gefasst werden. Mut zum Unspektakulären und Gewöhnlichen, zum Kleinen und Vergessenen sollte mehr gepflegt werden. Das braucht Illustration und Beispiele. Wer zu sehr die Vergangenheit betont, landet leicht in einer Form des Fundamentalismus. Zu sagen: So steht es in der Bibel oder im Koran, ist irrelevant für die ernst genommene Gegenwart sowohl von damals als auch – und erst recht – von heute. Gott selbst hat Kontexte geschaffen und somit gewollt.
Theologinnen und Theologen haben verschiedene Denkweisen klar zu machen: etwa Mythos und Wirklichkeit oder Gleichnisse und Symbole im Kontrast zu Fakten und Daten. Als Grundlage dient stets die Kultur bestimmter Völker und Gegenden. An diesen kommt kein Gott vorbei. Wir haben von der traditionellen Theologie eine Stück wegzukommen, um mehr mit Religionswissenschaft zu arbeiten, zu forschen und zu suchen.
Alle Völker und wir alle leben in einem gewaltigen Prozess der Entkolonisierung. Das betrifft nicht nur die einstigen Kolonien Asiens und Afrikas; das geht auch Mann und Frau an; selbst die Sprache muss entkolonisiert werden.
Gefordert sind die Kirchen und ihre Theologien, unter Beschuss kommen alle Religionen. Immer herrscht ein Zeitgeist, dem alle (mit ganz wenigen Ausnahmen) zum Opfer fallen. Beispiele sind Albert Schweitzer in Lambarene und Schwester Teresa in Kalkutta/Indien. Bescheiden haben auch die Neuen Wege sich zu hinterfragen: Was denken einmal andere über das, was wir meinen, es sei gut.
Anstatt stets nur auf Kirchenväter oder die Reformatoren – alle waren auch vom Zeitgeist gefangen – zurückzugreifen, sollte in der Theologie viel mehr mit aufwühlenden und zeitsprengenden Theologinnen und Theologen der Jetztzeit gearbeitet werden. Ich erwähne meine InspiratorInnen: Rudolf Bultmann, Paul Tillich, Gott-ist-tot-Theologen wie Thomas J.J. Altizer, William Hamilton, Dorothee Sölle, die koreanische Minjung-Theologie, die asiatischen Theologen Kosuke Koyama aus Japan/Thailand (Mt. Fuji and Mt. Sinai. A Critique of Idols, 1985) und Tissa Balasuriya aus Sri Lanka (Planetary Theology, 1984), aus Afrika Marc Ela (Kamerun) und Kä Mana (Kongo, Senegal).
Ich zweifle, also bin ich ein Theologe. Und: Gott ist tot, also suche ich ihn. Für Bantu in Afrika ist der Mensch erst dann tot, wenn er vergessen wird und niemand mehr eine Erinnerung an ihn pflegt. Wer bloss das tut, was üblich ist, lebt nicht.
1935-2017, war Missionar und Priester, studierte katholische und evangelische Theologe, und wurde exkommuniziert. Als Schriftsteller und Publizist befasste er sich mit Afrika und Fragen der Entwicklung er - auch in der Redaktion der Neuen Wege.