Zwanzig Jahre nach ihrem Tod stellt sich die Frage, was von Dorothee Sölle geblieben ist, bleibt und bleiben wird.
Dorothee Sölle. Viele Menschen im kirch lichen Kontext nicht nur im deutschsprachigen Raum kennen diesen Namen. Vielleicht haben sie eines ihrer zahlreichen Bücher gelesen, vielleicht haben sie sie – zum Beispiel auf dem Kirchentag – persönlich erlebt. Einzelne Strassen, ein Platz in Köln oder kirchliche Gebäude tragen Sölles Namen. Doch – und das ist leider typisch für feministische The*log*innen1, zu denen auch Dorothee Sölle zählt – eine akademische Laufbahn in Deutschland blieb ihr verwehrt. Und auch jetzt, zwanzig Jahre nach ihrem Tod, sind die Wahrnehmung ihres Schaffens und die Reflexion darüber an Theologischen Fakultäten und Instituten in Deutschland und der Schweiz erst am Anfang,2 obwohl Sölle wohl zu den gesellschaftlich am meisten wahrgenommenen Christ*innen im 20. und am Anfang des 21. Jahrhunderts gehört(e).
Ich möchte kurz auf Dorothee Sölles Leben zurückblicken, weil sich daran einiges zeigt, was sie besonders macht. Dabei gehöre ich nicht zu den vielen Zeitzeug*innen, die von persönlichen Begegnungen erzählen könnten. Ich möchte als feministische The*login, die vom Alter her wohl Dorothee Sölles Enkelin sein könnte, ausserdem die Frage stellen: Ist Sölle anschlussfähig für geschlechtersensible The*logie heute? Und: Kann Sölle für intersektionale feministische The*logie aufgenommen werden? Wie kann gegebenenfalls von ihr aus weitergedacht werden?
Sölle ist als Dorothee Nipperdey 1929 in Köln in einem kirchlich nicht eng gebunden bildungs bürgerlichliberalen Kontext geboren worden und dort aufgewachsen. Sie studierte Evangelische Theologie, Philosophie, klassische Philologie und Germanistik in Köln, Freiburg und Göttingen. 1954, also mit 25 Jahren, erfolgte ihre Promotion zur Dr. phil. Nach journalistischen und schriftstellerischen Tätigkeiten arbeitete sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Technischen Hochschule Aachen im Bereich Philosophie und anschliessend als Studienrätin an der Universität Köln im Bereich Germanistik. 1971 habilitierte sie an der Philosophischen Fakultät Köln.3 Ihre formal nicht theologischen Qualifikationsschriften galten als Begründungsgrundlage dafür, dass sich sie trotz ihres weitreichenden the*logischen Werks – zum Beispiel zur Christologie, Schöpfungstheologie oder TodGottesTheologie4 – nicht auf einer Professur in der deutschen universitären Theologie etablieren könnte. Präziser als das formale Argument und polemischer titelte die Frankfurter Rundschau 1974: «Links und eine Frau, das geht zu weit.»5 Sie eckte mit ihrer The*logie an – nicht zuletzt dadurch, dass sie sie mit zeitgenössischen politischen Krisenherden verband und diese auch besuchte.
Unter Sölles Reisetätigkeit ist besonders eine Reise nach Vietnam hervorzuheben. Dort war sie 1972, also während des Kriegs, und erkannte darin den ungeheuren technischen Zerstörungswillen der Menschen, den sie anklagte. Im Zusammenhang mit ihren christlichmarxistischen Netzwerken und Aktivitäten, zu denen das seit 1968 durchgeführte Politische Nachtgebet gehörte, war auch Lateinamerika zu einem Anknüpfungspunkt geworden. Dortige Elendsviertel, die sie gesehen hatte, illustrierten ihr die Zustände der Armen im Neuen Testament. Beispielsweise war sie als Wahlbeobachterin 1984 in Nicaragua und sie war nach Santiago de Chile eingeladen, um dort Hungerstreikende zu besuchen.
Stets kennzeichnend für ihre Arbeit ist ihre Kritik am vermeintlich rein wissenschaftlich verstandenen Umgang mit Sprache. Sie wagte im eigenen Schreiben Übergänge in Richtung Poesie.6 Durch ihre Lehrtätigkeit am Union Theological Seminary in New York lernte sie eine Offenheit für die Verbindung von Religion und gesellschaftlichen oder politischen Fragen kennen, die sie in Deutschland vermisste. Ihr Ineinander von Theologie und Politik war ihr schon spätestens seit den Politischen Nachtgebeten angekreidet worden. In den USA kam sie dann aber mit Feminismus in persönlichen und intellektuellen Kontakt und erkannte für sich, dass sie auch schon zuvor feministische Positionen vertreten hatte.
Wie ist Dorothee Sölles feministische Theologie auch für eine intersektionale The*logie heute relevant? Erst mal – was heisst «intersektional»? Die Juristin Kimberlé Crenshaw entwickelte den Begriff Ende der 1980er Jahre ausgehend von ihrer Kritik an der Rechtsprechung des USSupreme Court. Sie zeigte auf, dass weibliche People of Color (PoC), also Women of Color, mehrfach von Diskriminierung betroffen seien, gegen die bisherige Antidiskriminierungsmechanismen juristisch nicht gegriffen hätten: Arbeitsrechtliche Massnahmen, die spezifisch Women of Color betrafen, wurden von Gerichten als weder rassistisch noch sexistisch beurteilt, weil sie, so die Argumentation, ja einerseits nicht gegen alle Frauen und anderseits nicht gegen alle People of Color gerichtet gewesen seien. Die Überschneidung oder, direkt übersetzt, Kreuzung (engl. intersection) verschiedener Diskriminierungen wurde zum sprechenden Symbolbild: Im Falle der Women of Color überlagerten sich sexistische und rassistische Diskriminierungen. Mehrfach überlagernde Diskriminierungsformen schliessen über Sexismus und Rassismus hinaus verschiedene Aspekte von Identität ein – darunter Milieuzugehörigkeit, Alter, sexuelle Orientierung, Religion, Gesundheitsstatus und Körperbeschaffenheit. Diese Grundannahme ist auch in der feministischen The*logie zum Bezugsrahmen geworden. In der Geschichte feministischer Theorien und The*logien haben Women of Color viel fältig kritisiert und aufgezeigt, dass eine vor nehmlich weisse und eurozentrische Prägung vorherrschte und damit nicht die Anliegen aller Frauen vertreten waren.7 Wie passt da Dorothee Sölle hinein?
Sölle blickte auf Begegnungen mit mehrfach diskriminierten Menschen auch in ihrer Autobiografie zurück. Sie schreibt über eine Begegnung mit Women of Color bei einem ökumenischen Treffen in Genf ganz selbstverständlich von «doppelt Unterdrückten»8. Bei den an dieser Konsultation anwesenden Schwarzen Frauen habe sie überdies auch mit ihrer Kritik an einem «völlig naiven Biblizismus»9 und ihrer Verteidigung der Aufklärung mehr Anklang gefunden als bei Schwarzen Männern. Ihren Wunsch, mehr Tränen und insgesamt mehr Gefühlen in Kirche und Theologie Ausdruck zu verleihen, sah sie in einer Schwarzen Gemeinde, der Canaan Baptist Church in Harlem, die sie in ihrer New Yorker Zeit besuchte, verwirklicht.10
Sie erkannte Weisssein und Männlichsein als doppelte Machtausstattung.11 So betete sie beispielsweise – und Gebet hat in ihrer theologischen Konzeption, die Sprachgrenzen zwischen Wissenschaft und anderen Kontexten verwischen möchte,12 und im Kontext ihres demokratischen, also allen Menschen (im Gebet) zugänglichen Mystikverständnisses ein grosses Gewicht:
«Wann wird man an unsern Städten sehen:
hier wohnen die Söhne und Töchter Gottes
die Schwarze nicht von Weissen apart halten
und Türken nicht von Deutschen separieren
und Frauen nicht von der Wahrheitsfindung ausschliessen [...]?»13
Sie sah also auch in der eigenen bundesrepublikanischdeutschen Gesellschaft ein Auseinanderdriften, das sowohl die Geschlechter als auch die Rassifizierungskategorie betraf.
Ebenso stellte sie das weiss und männlich geprägte G*ttesbild14 infrage, weil sie dessen mehrfach unterdrückerische Prägung entlarvt: «Unsere Vorstellung von Gott (Gott ist ein weisser Mann) ist ein Vorurteil, das wir aus einer von Männern beherrschten (sexistischen) und von der weissen Rasse beherrschten (ras sistischen) Welt herleiten.»15
Hinsichtlich der Suche nach Pronomen für G*tt hat sie beschrieben, dass sie immer mehr zwischen «er» und «sie» abwechseln wolle.16 Dieses Thema beschäftigt auch heutige liturgische Arbeit. Sprache als zentrale Vermittlungs instanz von Wahrnehmung und Wahrheit ist Gegenstand intersektionaler Fragestellungen. Sölles Sprachstil fällt dabei auf und hat schon in der Vergangenheit eine breite Leser*innenschaft angesprochen, da sie einen Fokus darauf legte, eine Sprache zu verwenden, die alle verstehen.
Ihre Wahrnehmung sowohl von mehrfachen Diskriminierungen bei Menschen wie auch der doppelten Einengung des G*ttesbildes weist sie als unmittelbar anschlussfähig für intersektionale Theologie heute aus. Wie sie Machtstrukturen erkannte, ist sicherlich auch vor dem Hintergrund ihrer marxistischen Prägung zu verstehen. Im Christ*innentum fand sie so das Paradox, dass Frauen Jesus nach folgten, in den ältesten Schrifttraditionen dann aber schon bald Frauen unterworfen werden sollten.17 Ihr Spührsinn für Unterdrückungen, die sich mehrfach überlagern, kann uns als Vorbild gelten, weitere solcher Diskriminierungsmechanismen aufzudecken.
Eines ihrer feministischen Anliegen war dabei von Anfang an, dass es nicht um einen – wie sie es nennt – separatistischen feministischen Kampf gehe, der Männer quasibiologistisch ausgrenze, sondern selbstverständlich auch Männer an Frauenrechtsbewegungen zu beteiligen sind.18 «Gott braucht alle ihre Kinder, damit sie von Furcht und Hass frei werden können und wir endlich miteinander in einen herrschaftsfreien Raum hineinwachsen.»19 Damit ist sie anschlussfähig für die heutige intersektionale The*logie, welche verschiedene Menschen verbindet und in ihren emanzipatorischen Anspruch einzuschliessen versucht.
Dorothee Sölles Umgang mit den Pronomen für G*tt weist jedoch auf etwas hin, was – möglicherweise generationenspezifisch – eine Leerstelle ist: Sehr oft verwendet sie die Gegensätze von männlich und weiblich. Die Frage nach Nonbinarität war ihr kein Anliegen. Ebenso ist mir nicht bekannt, ob sie sich mit trans oder inter Sein beschäftigt hat. Mit Verweis auf die feministische The*login Rosemary Ruether hat sie dennoch zum Ziel, nicht schlicht weibliche Göttinnenattribute zu verwenden, sondern dass alles «zu einem neuen Ganzen umgestaltet»20 werden sollte. Insofern lassen sich hier die Binarität übersteigende Gedanken annehmen oder von ihr aus weiterdenken.
Dorothee Sölles Denken benennt also vor allem hinsichtlich der Besitzverhältnisse, des Geschlechts und auch der Rassifizierung teils explizit, teils implizit, Mehrfachdiskriminierungen insbesondere bei Women of Color. Ihr the*logisches Denken zielte darauf ab, Herrschaftsverhältnisse zu überwinden. Deswegen meine ich, dass von Sölles Denkansätzen her auch auf andere Diskriminierungsmerkmale geschaut werden kann, um im Ausblick auf das Reich G*ttes Unterdrückung zu durchbrechen. Damit kann sie als Ahnin einer intersektional ausgerichteten The*logie gelten. Hoffentlich ist in ihrem 20. Todesjahr der garstige Graben zwischen ihrem Werk und der Universitätstheologie überwunden, sodass ihre Impulse auch dort weiterwirken.●
Mit «Theologie» bezeichne ich den institutionell verfestigten, historisch gewachsenen, tendenziell männlich dominierten Begriff. Wenn ich von «The*logie» schreibe, meine ich einen demgegenüber kritischen Ansatz. Hintergrund ist, dass sich Theologie etymologisch als Lehre von Gott (= ho theos, gr. der Gott) ableitet. Demgegenüber öffnet das * eine geschlechtliche Vielfalt auch beim transzendenten Wesen.
Aktuell gründet sich ein Forschungsnetzwerk am Institut für Evangelische Theologie der Universität zu Köln. (Für mehr Informationen: dorotheesoelle.de/ forschungsnetzwerk)
Alf Christophersen: Dorothee Sölle. Mystik als Kraftreservoir. In: Siegfried Hermle u. a. (Hrsg.): Protestantische Impulse. Prägende Gestalten in Deutschland nach 1945. Leipzig 2021, S. 165–172.
Tod-Gottes-Theologie oder auch Gott-ist-tot-Theologie steht einerseits in der Tradition mancher Strömungen der Aufklärung und ist andererseits ein Umgang mit Auschwitz. «Gott ist tot» ist aber auch Ausdruck der Hingabe Gottes in Jesus am Kreuz. Dieser christologische Fokus liegt auch Sölle nahe, wobei die anderen Aspekte auch von ihr aufgenommen werden. Sölle beschrieb es in ihrer Autobiografie: «Zum Beispiel habe ich in den sechziger Jahren eine massive Kritik
an dem Gott formuliert, der alles in Ordnung hält und regiert, einer Supermacht, die auch Auschwitz geschehen lässt. Es war eine Theologie nach dem Tode Gottes, weil ich diesem Gott kein Stück Brot mehr abnehmen wollte und konnte.» – Dorothee Sölle: Gegenwind. Erinnerungen. Hamburg 1995, S. 145.
So beschreibt sie es selbst in ihrer Autobiografie: Dorothee Sölle: Gegenwind. Erinnerungen. Hamburg 1995, S. 135.
Vgl. Dorothee Sölle: Gegenwind. Erinnerungen. Hamburg 1995, S. 67, 89, 92, 98, 103, 109, 129, 133, 135, 138, 163; Dorothee Sölle: Zur Freiheit befreit – zum Schweigen verdammt. Das Bild der Frau im Christentum. In: Dorothee Sölle: Mutanfälle. Texte zum Umdenken. Hamburg 1993, S. 87–101, S. 92.
Vgl. Anke Graness, Martina Kopf, Magdalena Kraus: Feministische Theorie aus Afrika, Asien und Lateinamerika. Wien 2019.
Dorothee Sölle: Gegenwind. Erinnerungen. Hamburg 1995, S. 66.
Ebd.
Ebd., S. 130 f. 59– 163.
Dorothee Sölle: Zur Freiheit befreit – zum Schweigen verdammt. Das Bild der Frau im Christentum. In: Dorothee Sölle: Mutanfälle. Texte zum Umdenken. Hamburg 1993, S. 87–101, S. 89.
Dorothee Sölle: Gegenwind. Erinnerungen. Hamburg 1995, S. 163.
Dorothee Sölle: Und ist noch nicht erschienen. Ein Gebet nach 1. Johannesbrief 3,2. In: Dorothee Sölle: Und ist noch nicht erschienen. Stationen feministischer Theologie. Stuttgart 1987, S. 7 f.
Das * räumt auch in der G*ttesbezeichnung ein weites geschlechtliches Spektrum für die Transzendenz ein.
Dorothee Sölle: Ist Gott eine Frau? Antwort auf eine Umfrage. In: Dorothee Sölle: Und ist noch nicht erschienen. Stationen feministischer Theologie. Stuttgart 1987, S. 168 f.
Dorothee Sölle: Vorwort. In: Dorothee Sölle: Und ist noch nicht erschienen. Stationen feministischer Theologie. Stuttgart 1987, S. 9–13, S. 9.
Dorothee Sölle: Zur Freiheit befreit – zum Schweigen verdammt. Das Bild der Frau im Christentum. In: Dorothee Sölle: Mutanfälle. Texte zum Umdenken. Hamburg 1993, S. 87– 101, S. 92.
Sie schreibt drastisch: «Aber wenn die Trennung [von Frauen und Männern] Separatismus wird, wenn sie die Regel statt die Ausnahme ist, dann geht etwas von der Integrität unseres Kampfes verloren. Feminismus wird dann zu einer biologischen Kategorie, einem anderen Abkömmling des Rassismus. Dann schliesst er Männer unterschiedslos aus, bloss weil sie Penisse haben, genau so, wie es die Rassisten tun mit Leuten, die eine andere Hautfarbe haben.» – Dorothee Sölle: Gegenwind. Erinnerungen. Hamburg 1995, S. 144. Aus heutiger Perspektive lässt sich kritisieren, dass sie sich an dieser Stelle nicht gegen eine Ineinssetzung von Männlichsein und Penishaben ausgesprochen hat.
Dorothee Sölle: Gegenwind. Erinnerungen. Hamburg 1995, S. 144.
Dorothee Sölle: Vorwort. In: Dorothee Sölle: Und ist noch nicht erschienen. Stationen feministischer Theologie. Stuttgart 1987, S. 9–13, S. 12.
*1993, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kirchengeschichte II an der EvangelischTheologischen Fakultät der LMU München. Dort hat sie den Arbeitskreis intersektionale The*logie mitgegründet und die Kritischen Religionswissenschafts- und The*logietage München mitinitiiert.