18. Dezember 2021

Wunder

Verwegene Hoffnung auf namhafte Auferweckung

Magdalene L. Frettlöh, 6. Dezember 2020
Neue Wege 12.20

Gottes Versprechen, uns bei unserem Namen aus dem Tod ins Leben zu rufen, begründet die Hoffnung, dass wir uns durch den Tod hindurch nicht verloren gehen. Unsere Lebensgeschichten bleiben namentlich notiert. Das mahnt uns, hier und heute unsere Namen zu achten und sie in Ehren zu halten.

«Uns bleibt als Einziges der Name,
Ein Wunderklang für lange Zeit –
Aus meinen Händen nimm als Gabe
Den Sand, der zu dir weitereilt.»

Ossip Mandelstam1

Die Bibel kennt keine Unsterblichkeit der Seele, denn der ganze Mensch stirbt. Die Spaltung des Menschen in Leib, Seele und Geist ist biblischer Anthropologie fremd. Das, was Martin Luther mit «Seele» übersetzt hat, ist ein Körperteil: die Kehle, mit der wir Atem schöpfen, durch die wir Speisen und Getränke zu uns nehmen. Und weil wir ohne dies nicht lebensfähig sind, kann die «Seele» auch für die ganze Person als lebendiges Wesen stehen.

Wenn aber der Tod den ganzen Menschen trifft, wo bleibt dann unser gelebtes Leben? Und wie kann es, wenn wir auf ein Leben nach dem Tod im Angesicht Gottes hoffen, Kontinuität zwischen diesem vergänglichen und jenem bleibenden Leben geben? Wie kann unsere Identität durch die radikale Zäsur des Todes hindurch bewahrt werden? Wie werden unsere irdischen Lebensgeschichten der Vergänglichkeit, Vergeblichkeit und Vergleichgültigung entzogen?

Fragen wie diesen können wir uns nur im Sprechakt der Hoffnung nähern und tastende Antworten zu geben versuchen. Mein Antwort­versuch kreist um das grosse Gewicht, das Namen, Eigennamen in der biblischen Tradition haben.

Aufgeweckt mit einem namentlichen Weckruf Gottes

Auferweckung – so meine begründete Hoffnung – wird Ereignis durch einen göttlichen Weckruf, der aus dem Tod ins Leben ruft. Dieser Weckruf ergeht als Namensruf, als Gerufenwerden beim Eigennamen. Namen aber sind nach biblischem Zeugnis verdichtete Lebensgeschichten. Wer uns beim Namen nennt, spricht uns damit auf unser Lebensnarrativ an. Mit dem in der Auferweckung neu zugesprochenen Namen empfangen die Auferweckten ihre je unverwechselbare, einzigartige Lebensgeschichte wieder. Aber nicht einfach die alte Geschichte, das alte Leben, sondern ein schöpferisch von Gott verändertes, ein geheiltes Leben: «Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden» (1. Johannes 3,2), aber dann wird es offenbar. Dann, wenn Gott uns mit unserem Namen unser Leben so zurückgibt, dass wir eine neue Sicht darauf gewinnen, dass wir uns mit anderen Augen sehen – im Licht der Gnade.

An die Stelle der Vorstellung einer unsterblichen Seele tritt in dieser Hoffnung der bei Gott erinnerte Name. Genauer: der ins himmlische Buch eingeschriebene Name: «Schreib den Namen, den wir geben, in dein Buch zum ewgen Leben» (Reformiertes Gesangbuch, Lied 174,4), heisst es in einem Tauflied. Dass bei der Taufe der Name des Täuflings laut genannt wird, zielt nicht nur darauf, dass die Gemeinde ihn hört, sondern soll auch bewirken, dass Gott ihn sich merkt, ihn ins himmlische Lebensbuch einträgt.

Namentliche Neuschöpfung aus dem Tod

Die metaphorische Rede von der Auferweckung der Toten, die erst ihre Auferstehung ermöglicht, impliziert einen von aussen kommenden Weckimpuls. Dieser Weckimpuls lässt sich als Ruf Gottes verstehen, der das, was nicht ist, ins Leben ruft: «Abraham glaubte angesichts des Gottes, der die Toten lebendig macht und das Nichtseiende ruft, dass es sei», schreibt der Apostel Paulus der Gemeinde in Rom (Römer 4,17). Auferweckung ist Neuschöpfung. Indem das Nichtseiende die Adresse dieses Rufs ist, wird deutlich, dass der Ruf selbst das Gerufene schafft. Es gibt auf Seiten der Toten keinen Anknüpfungspunkt, an den der göttliche Weckruf adressiert werden könnte. Allein der Namensruf Gottes macht die Toten ansprechbar. Denn beim Namen genannt, werden sie lebendig und nehmen sich als namhafte Menschen wahr.

In der einfachen Gottesrede des Kirchenliedes finde ich die Analogie von göttlichem Schöpfungs- und Auferweckungsruf und ebenso die Identifikation des Weckrufs aus dem Tod als namentliche Anrede: «Gott hat das erste Wort. / Eh wir zum Leben kamen, / rief er uns schon mit Namen / und ruft uns fort und fort.» «Gott hat das letzte Wort. / Er wird es neu uns sagen / dereinst nach diesen Tagen / im ewgen Lichte dort» (Reformiertes Gesangbuch, Lied 260,2.4).

Der wiederholte Namensruf ist hier als Urwort der Kommunikation Gottes mit dem Menschen entdeckt, und Gottes Kenntnis aller Namen wird zum Inbegriff der Erlösung: «Dann stehen Mensch und Mensch zusammen / vor eines Herren Angesicht, / und alle, alle schaun ins Licht, / und er kennt jedermann mit Namen» (Reformiertes Gesangbuch, Lied 375,8). Weil ihre Namen bei Gott bekannt sind, wird keine*r der Namensträger*innen vergessen werden und verloren gehen.

Auch die Erschaffung nichtmenschlicher Kreatur wird als Namensruf inszeniert: «Weisst du, wie viel Mücklein spielen / in der heissen Sonnenglut, / wie viel Fischlein auch sich kühlen / in der hellen Wasserflut? / Gott der Herr rief sie mit Namen, / dass sie all ins Leben kamen, / dass sie nun so fröhlich sind …» (Reformiertes Gesangbuch, Lied 531,2). Dass Gott selbst die unzählbare Menge der Mücken und Fische namentlich ins Leben rief, soll bei den in diesem Abendlied angeredeten Kindern (und nicht nur bei ihnen!) die Gewissheit wecken: «Gott im Himmel hat an allen / seine Lust, sein Wohlgefallen; / kennt auch dich und hat dich lieb …» (Reformiertes Gesangbuch, Lied 531,3). Namentliche Kenntnis impliziert Interesse und Aufmerksamkeit, Achtung und Zuneigung.

Der Rufname als geschenkte Identität

Gott ruft durch die Nennung des Rufnamens aus dem Tod ins Leben. Was aber hat es mit dem Namen auf sich, dass ihm diese Bedeutung zukommt? Warum nicht Trompeten- und Fanfarenklänge, sondern der göttliche Namensruf? Es ist die enge Verknüpfung von Name und Person, Name und Lebensgeschichte, Name und «Identität», die dem Rufnamen diese prominente Rolle einbringt. Nach biblischem Wirklichkeitsverständnis sind Namen gerade nicht «Schall und Rauch», sondern dem «Namen hängt an, woraus, wofür und woraufhin einer lebt, was sein Leben ausmacht und ausdrückt. So wird er zum Kennmal der Person, zur Abbreviatur der Wege und Umwege, der Aufbrüche, Entdeckungen und Konflikte, die sie […] geprägt haben.»2 Namen entziehen sich jeder Definition. Ihre Bedeutung liegt in der Geschichte und den Geschichten, die sie erzählen.

Repräsentiert der Name die Identität des Menschen, dann verweist die Namensgebung wie die Anrede mit dem Rufnamen auf geschenkte Identität. In der Gabe des Namens spricht sich das Gegebensein des Daseins aus. Führt der Namensruf der Auferweckung zur Selbsterkenntnis, erkenne ich mich im Hören auf den mir zugerufenen Namen wieder und neu zugleich, so ist die dabei wahrgenommene Identität keine selbstkonstituierte. Sie wird empfangen im Rufnamen und bewährt sich im Antworten auf die namhafte Anrede. Identität ist Gabe.

Der Eigenname als fremder Name

Meinen Namen haben mir andere gegeben. Bevor ich ihn selbst nennen, mich mit ihm vorstellen kann, bin ich benannt und genannt worden. Bevor ich mir einen Namen machen (oder auch – wie es heute so marktförmig heisst – mit meinem guten Namen bezahlen) kann, habe ich ihn immer schon empfangen. Eigenname ist er zunächst, indem er zugeeigneter Name ist. Die Aneignung beginnt mit der Annahme des fremden Namens, mit dem ich mich vertraut machen, in den ich vielleicht auch erst hineinwachsen muss. Ganz wird er dabei seine Fremdheit wohl nie verlieren. Der Namensruf ist Anrede, die Benennung dagegen ein Bereden, das ohne Gabe auskommt und auf keine Antwort aus ist.

Der Rufname hat identifizierende Kraft, was sich schon darin zeigt, dass wir uns durch einen namentlich adressierten Gruss deutlicher angesprochen und mehr beachtet fühlen als durch ein blosses «Guten Tag!» oder «Tschüss!». Der Eigenname wäre unterbestimmt, wenn er als blosses Pars pro Toto der Person gelten würde, geht der Name doch selbst aufs Ganze. Dies zeigt sich insbesondere in der Kommunikation Liebender. Sie kann sich bisweilen im Aussprechen des Namens des/der Anderen erschöpfen und sagt darin alles: «Zwei Menschen, die sich lieben, hängen über alles an ihren Namen.»3 Wo mir mein eigener Name zugesagt wird, werde ich, die ich mir als Liebende enteignet bin, mir selbst wieder zugeeignet. Mehr noch: Mit der Nennung meines Namens empfange ich mich anders zurück, als ich mich selbst bisher gekannt habe. Der eigene Name klingt auf einmal anders, er wird zum versprochenen Namen, zum Versprechen. Mit Namen erkannt und benannt, werde ich mir anders kenntlich, als wenn ich mich selbst namentlich bekannt mache – eine bedenkenswerte Fremderfahrung mit dem Eigennamen.

Beim neuen Namen oder neu beim Namen gerufen werden?

Wenn die durch den Tod hindurch bei Gott aufbewahrte «Identität» uns im Namensruf der Auferweckung als von Gott verwandelte zugeeignet wird, wirft dies die Frage auf, ob der Name, bei dem Gott uns ruft, unser irdischer Rufname oder ein neuer Name ist. Macht die Verheissung «Siehe, ich mache alles neu!» (Apokalypse 21,5) vor dem Namen Halt?

Nun gibt es biblische Spuren einer neuen Namensgebung, der Verleihung eines ewigen Namens. So verheisst der Gott Israels in Jesaja 56,4 f. «den Eunuchen, die meine Sabbate halten und wählen, woran ich Gefallen habe», er gebe ihnen «in meinem Haus und in meinen Mauern Denkmal und Name [hebräisch: jad waschem], was mehr ist als Söhne und Töchter. Einen ewigen Namen werde ich ihnen geben, der nicht getilgt wird.» Ebenfalls in die Ankündigung einer neuen Heilszeit, in der Gottes Gerechtigkeit universal hervorbrechen wird, gehört die Verheissung in Jesaja 62,2b: «… du wirst mit einem neuen Namen benannt werden, den der Mund Adonajs bestimmt.»

Göttliche Arbeit am Eigennamen

Die Bedeutung des Namens für die als Neuschöpfung erhoffte Auferweckung geht nicht auf im Namensruf. Auch andere Metaphern sind schwanger mit dem Gewicht des Namens für eine Neukonstituierung unseres Lebens, die nicht unser eigenes Werk ist.

Seit ich mich mit der Bedeutung der Namen für eine Hoffnungslehre beschäftige, begleitet mich ein Bild, das Epitaph des Iacob Rosenwirth, der – 1715 in Nürnberg verstorben – auf dem dortigen Johannesfriedhof beerdigt ist: Über einem barocken, mit dem Namen des Verstorbenen spielenden Dreizeiler: «Hier ruht, wer wol den Lauff vollführt, / bis dieser Erden Dornen Bürd / zu milden Himmelsrosen wird» findet sich ein geschmiedetes Bild: ein Haufen ineinander verhakter und wirr durcheinanderliegender Buchstaben, die so kein lesbares Wort ergeben. Lesen lassen sie sich nur, weil wir wissen, dass unter dieser Platte Iacob Rosenwirth beigesetzt wurde.

Es ist sein Name und mit diesem seine Identität, die hier in ihre Einzelteile auseinandergefallen ist, wie ein Mensch nach seinem Tod verfällt. Das Buchstabendurcheinander setzt die Vergänglichkeit irdischen Lebens ins Bild. Doch die hat hier nicht das letzte Wort. Denn es gibt zwei kleine Engel, die sich an dem Buchstabenhaufen zu schaffen machen und aus ihm bereits ein «I», die Initiale des Namens Iacob, herausgesucht und aufgerichtet haben. So ist ein Anfang der Zusammenfügung des Namens (von) Iacob Rosenwirth gemacht.

Es sind die Engel, die in einigen Traditionen auch als Schreiber*innen des himmlischen Lebensbuches gelten, die hier als Bot*innen Gottes und Mittler zwischen der himmlischen und irdischen Welt den Namen Iacob Rosenwirth(s) neu zusammenfügen. Das lese ich zum einen als Hinweis darauf, dass unsere Identität bei Gott aufbewahrt wird, dass die Kontinuität diesseits und jenseits des Todes allein im göttlichen Gedächtnis unserer Namen und damit unserer Lebensgeschichte(n) verbürgt wird. Gott hält zusammen, was für uns auseinanderfällt. Gott bewahrt, was unsererseits zerfällt. Mit ihrem neu zusammengefügten und aufgerichteten Namen empfangen sich die Auferweckten von Gott zurück. Bei Gott ist ihr Leben durch den Tod hindurch gerettet und aufgehoben.

Zum anderen sehe ich im Buchstabengewirr auch ein Sinnbild für das, was in unserem irdischen Leben durcheinander und in Verwirrung geraten ist. Das Ordnen der Buchstaben zur Neukomposition des alten Namens wäre dann das Versprechen, dass Gott in Ewigkeit nicht nur unser Leben neu zusammenfügt, sondern auch zurechtbringt. So gelesen enthielte Iacob Rosenwirths Epitaph nicht die Verheissung auf Wiederherstellung des alten Lebens, sondern auf Neuschöpfung – einer Neuschöpfung, die sich am gelebten und bei Gott erinnerten Leben ereignet und die diesem Gerechtigkeit widerfahren lässt. Eine Neuschöpfung, die nichts und niemanden verloren gibt, die verwandelt, statt zu zerstören, in der Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit untrennbar zusammengehören.

Wenn es denn unser irdischer Eigenname ist, den Gott neu zusammenfügt, dann wird auch dieser uns noch einmal in einem neuen Licht erscheinen, als ob es ein neuer Name wäre...

Literatur:

Magdalene L. Frettlöh: Namhafte Auferweckung.
Tastende Annäherung an die eschatologische Funktion des Eigennamens.
In: Magdalene L. Frettlöh, Andreas Krebs, Torsten Meireis: Tastend von Gott reden.
Zürich 2013, S. 73–127.

Reformiertes Gesangbuch: Gesangbuch der evangelisch-­reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz. 5., aktualisierte Auflage, Basel/Zürich 2019.

1 Ossip Mandelstam: Vier Gedichte für Marina Zwetajewa. In: Marina Zwetajewa, Ossip Mandelstam: Die Geschichte einer Widmung. Gedichte und Prosa. Aus dem Russischen übertragen, hrsgg. und mit einem Nachwort-Essay versehen von R. Dutli, Zürich 1994, S. 35.

2 Christian Link: Die Spur des Namens. Zur Funktion und Bedeutung des biblischen Gottesnamens. In: Christian Link: Die Spur des Namens. Wege zur Erkenntnis Gottes und zur Erfahrung der Schöpfung. Theologische Studien. Neukirchen-Vluyn 1997, S. 44.

3 Walter Benjamin: Einbahnstrasse. In: T. Rexroth (Hrsg.): Gesammelte Schriften IV/1, Frankfurt a. M. 1980, S. 119.

 

  • Magdalene L. Frettlöh,

    *1959, ist seit 2011 Professorin für Systematische Theologie/Dogmatik und Reli­gions­philosophie an der Theologischen Fakultät der Universität Bern.