18. Dezember 2021

Wunder

Mauern. Zäune. Ein Wall.

Reinhild Traitler-Espiritu, 1. April 2017
Neue Wege 4/2017

1
Die Chinesen haben eine Mauer gebaut
zehntausend Li lang
Dynastie um Dynastie hat sich dort ein Denkmal gesetzt
hunderte von Jahren
tausende
Quin changcheng, Han changcheng, Ming changcheng ...
Wie viele Bauleute gestorben sind
beim Bau der einundzwanzigtausend Kilometer
weiss man nicht
Die Handelsstrassen wären so geschützt worden
Kein Feind hätte das Reich betreten
Aber: vielleicht auch keine neue Idee
Die Chinesen hätten alles aus sich selbst geschöpft, heisst es
So brauchten sie keinen Gott
Nur anwendbare Regeln des Anstands
Vielleicht ist das schon viel

2
Die Römer haben Wälle gebaut
Aufgewellt das Land an den Grenzen zu noch
nicht eroberten
nicht eroberbaren Anderen
dazwischen der Limes
Übergang, Schwelle zum Ungeheuren (Bärtigen)
jenseits des
bändigenden Einflusses der Civitas römischer
Bürger (rasiert)
aber auch Tauschort

3
In Berlin bauten die Deutschen eine Mauer
zwischen sich und sich
Sie machten es genau, mit Wachtposten und
Schiess-
Befehl ist Befehl
Das hätten
die es nicht glauben wollten
wissen müssen
In die Geschichte wird die Mauer wohl eingehen
durch die Art, wie sie geschleift wurde

4
Die Spanier haben einen Zaun gebaut
in Ceuta und Melilla
eine Trennwand zwischen dem weissen
und dem schwarzen Territorium
des dunklen Kontinents
Sechs Meter hoch und
Stacheldraht nach allen Regeln der Technik
Manche von den armen Teufeln auf der anderen
Seite schaffen es trotzdem
Die anderen hoffen

5
Die Israelis haben eine Mauer durch das Land gezogen
das ihnen gehört und auch den Palästinensern
So war das schon vor ein paar tausend Jahren
Das Land, wo Milch und Honig floss
war schon bewohnt
und von miteinander Teilen
auch damals keine Spur

Manche Amerikaner wollen eine Mauer bauen
zwischen den USA und Mexiko
eine Trennwand von Kalifornien bis Texas
gut dreitausend Kilometer Beton und Wachtürme
damit
das Land der Freiheit so richtig frei sein kann
und vielleicht auch keine neue Idee
keine Gesichter, die wie Mafia aussehn
kurz: die Gewissheit der Besten unter sich
und alle anderen draussen vor der Tür

7
Ungarn hat angefangen und jetzt baun sie alle
Zäune und messerscharfen Drahtverhau
endlich werden Grenzen wieder Grenzen
und man spürt
wichtigtuerisch
das Eigene
Der Balkan igelt sich ein und
dämmt den Flüchtlingsstrom zurück
(nach Griechenland!)
Österreich (sich seiner Bedeutung bewusst)
verbreitet einen Hauch von Ka und ka Solidarität
Und wer die neuen Osmanen sind, weiss man auch schon
Was sind das für Zeiten wo man sich rühmen darf
unmenschlich zu handeln?
Wo man sich duckt vor der Keule rechter Populisten
Und mit dubiosen Regierungen paktiert?
Wo Politiker gute Noten brauchen und so manchen Wink
mit dem Stacheldraht-Zaunpfahl
um wiedergewählt zu werden –
was sind das für Zeiten?
wo die chinesische Mauer zum Vorbild wird

  • Reinhild Traitler-Espiritu,

    ist ehemalige. Leiterin des Evangelischen Tagungs- und Studienzentrums Boldern und Mitgründerin des Europäischen Projekts für Interreligiöses Lernen (EPIL). Sie ist Mitglied des Interreligiösen Thinktank (ITT) und Autorin literarischer Texte.