Oder du erzählst mir, wie du mit Panikattacken umgehst. Wie dir Gedichte, Yoga und Atemübungen helfen. Und wir versichern uns gegenseitig, dass es in Ordnung ist, zusammen vor Angst, vor dem vermeintlich unüberwindbaren Wasser, das uns bald wieder trennen wird, oder aus Verletzungen in der Vergangenheit vor, nach und zwischen dem Sex zu weinen.
Und auch mein Onkel erzählt mir von seinem Umgang mit Angst. Überkommt sie ihn im Fahrstuhl, konzentriert er sich auf sein Spiegelbild, richtet mit voller Konzentration Hemd und Haare. Und nach einer meiner Attacken schickt er mir ein Foto des Kalenderblatts, auf dem an jenem Tag ein Bibelvers aus dem Matthäusevangelium abgedruckt ist:
«Petrus konnte auf dem Wasser gehen und ging auf Jesus zu. Als er aber den Wind spürte, fürchtete er sich, als er zu sinken begann, schrie er: Herr, rette mich!»
Geteiltes Leid ist halbes Leid. Teilen verbindet. Menschen im Hier und Jetzt. Dich und mich. Aber eben auch über Generationen hinweg: mich mit meinem vierzig Jahre älteren Onkel, uns mit César Moro und Antonio, und alle, die die Bibel aufschlagen, mit Petrus und den Personen, die diesen Satz aufgeschrieben, die ihn gelesen, übersetzt und über die Jahrhunderte weitergereicht und bewahrt haben, um sich gegenseitig Hoffnung zu machen: Du bist nicht allein, wir kennen diese Erfahrung, wir haben es auch übers Wasser geschafft.
Das Göttliche liegt für mich im zutiefst Menschlichen. In der Angst und in der Liebe.
Viel zu oft wird Religiosität auf Regeln und Moral reduziert. In den Augen vieler ist es das, was sie an «der Religion» ablehnen – in den Augen anderer ist es gerade das, was sie daran anzieht. Für uns queere Menschen gäbe es mehr als genug Gründe, zu Ersteren zu gehören und wütend zu sein auf die institutionalisierten Religionen, die unsere Existenz, unser Begehren und unsere Körper grösstenteils bis heute verteufeln, negieren und uns, selbst wenn sie uns nicht explizit ausschliessen, doch nur am äussersten Rande mal liebevoll mitdenken.
Während meinem ersten Studium der Interreligiösen Studien an der Theologischen Fakultät der Uni Bern ist mir zum ersten Mal bewusst das sogenannte Doppelgebot der Liebe begegnet. Es korrespondiert erstaunlich gut mit meiner queer-polyamoren Erfahrung, dass Liebe ansteckend ist. Wer sich geliebt fühlt – von sich selber, von anderen, von Gott –, der liebt. Und umgekehrt: Wer liebt, der wird Liebe erfahren.
Finde ich in religiösen Texten Stellen, die mein Begehren widerspiegeln, berührt mich das jeweils auf eine ganz besondere Art und Weise. Seien es Gedichte von Rumi, die biblische Geschichte von David und Jonathan oder das Hohelied, das laut der Theologin Karin Hügel «queer» gelesen werden kann, beschreibt es doch sinnliche Liebe ausserhalb der Ehe und damit ausserhalb «vorherrschender Normen».
Diese queeren Texte berühren mich auf ganz besondere Art, weil sie mich erleben lassen, dass unser Begehren, unsere Lust und Liebe nicht nur uns zwei, dich, Gabriel:le, und mich, miteinander verbinden, sondern uns und alle unsere Nahbeziehungen, Vorfahren und Nachkommen – egal ob queer oder cis-heterosexuell – miteinander und mit dem Göttlichen.
Nosotros somos Dios. Wir sind Gott.
Nie komme ich der Auflösung der Welt um mich herum, der Transzendenz, so nahe, wie wenn ich mich mit einem anderen Menschen mit Leib und Seele vereinige wie mit dir. Wenn der Duschstrahl über uns rinnt wie Regen, wenn wir ineinander dringen, mit Worten, Fingern, Zungen und Genitalien, wenn sich unser Pulsschlag synchronisiert, wenn wir in einem seit Tausenden von Jahren bestehenden Rhythmus tiefste Menschlichkeit leben und dabei göttliche Ewigkeit atmen.