Nothilfe – Angst, Willkür und Isolation

Christoph Albrecht SJ, 16. Dezember 2019
Neue Wege 12.19

Abgewiesene Asylsuchende werden in die Nothilfe und in Lager gezwungen. Durch Repression und Kontrolle sollen schutzsuch­ende Menschen zur Ausreise aus der Schweiz bewegt werden.

Eigentlich ist die Nothilfe ein Instrument zur Verhinderung äusserster Armut in der Schweiz. Sie ist im Artikel 12 der Bundesverfassung verankert, dort steht: «Wer in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, hat Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind.»

Doch im Falle von abgewiesenen Asylsuchenden, die nicht arbeiten dürfen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, wird die Nothilfe zur Umsetzung einer fragwürdigen Asylpolitik missbraucht. Der «Anspruch auf Hilfe, Betreuung und Mittel für ein menschenwürdiges Dasein» wird an die Einhaltung von willkürlich anmutenden und schikanösen Regeln geknüpft, um die Geflüchteten zur ‹freiwilligen› Ausreise zu bewegen.

Die Administration der Nothilfe für abgewiesene Asylsuchende liegt in der Verantwortung der Kantone. Im Kanton Zürich erhält jede Person pro Woche 60 Franken. Damit müssen alle Lebensbedürfnisse abgedeckt werden. Weiter sind die Nothilfe-Bezüger*innen einer kollektiven Krankenversicherung für die medizinische Notversorgung angeschlossen und ihnen wird eine Unterkunft zugeteilt. Medizinische Notversorgung bedeutet allerdings, dass aufwendigere Behandlungsmethoden nicht in Betracht gezogen werden – bei Zahnproblemen beispielsweise werden Zähne nicht behandelt, sondern einfach gezogen.

Eine solche Politik, die zur Durchsetzung von politischen und administrativen Beschlüssen Menschen und Gruppen von Menschen in Ohnmacht, Angst, existenzielle Not, Willkür und Isolation treibt, muss die Grundlagen ihrer eigenen Logik revidieren, sonst führt sie in die Barbarei.

Blickwechsel

«Ich kann in keiner Stadt ruhig spazieren, weil ich immer Angst vor Polizeikontrollen habe. Da schauen immer viele Leute zu und meinen, ich sei ein Dieb. Doch ich bin seit drei Jahren in der Schweiz und habe mich immer korrekt verhalten», erzählt Haidari, der vor einem Jahr mit einem Negativentscheid konfrontiert wurde. Geri, ein abgewiesener Asylsuchender, der seit fünf Jahren in einer Notunterkunft wohnt, ergänzt: «Wenn ich in der Schweiz auf der Strasse laufe, fühle ich mich nicht dazu berechtigt. Ich sehe einen Hund mit einem Menschen, der läuft ganz normal und frei. Und ich bin nicht einmal so wie dieser Hund.» Auf die Frage, was er mir von seinen Erfahrungen in der Schweiz erzählen kann, sagt Haidari: «Meine Situation ist sehr schlecht. Ich muss jeden Tag unterschreiben, damit ich 8.70 Franken bekomme. Damit kann ich nicht drei Mal am Tag essen. In unseren Zimmern gibt es sechzehn Betten. Leider sind viele Leute nicht nett. Nur die Natur um dieses abgelegene Haus herum tut mir gut. Aber das Schwierigste ist das Leben ohne Bewilligung. Deshalb bin ich ja in einer so schlechten Wohnsituation, abhängig von den Launen des Zentrumsleiters.»

Haidari, Geri und etwa ein Dutzend andere abgewiesene Asylsuchende beteiligten sich in diesem Sommer an der Velotour d’Horizon. Die Teilnehmenden fuhren durch die Schweiz mit dem Ziel, andere Nothilfelager und Bundesasyllager zu besuchen. Haidari sah bei der Tour, wie viele andere so wie er selbst von dieser Nothilfepolitik betroffen sind. Er fragt: «Warum muss ein Wohnheim für Asylsuchende wie ein Gefängnis sein? Ich habe Familien mit Kindern gesehen, und das betrübt mich sehr. Ich hoffe, in Zukunft kommen gute Nachrichten für Geflüchtete. Leute, die nach Europa kommen, haben grosse Probleme in ihrer Heimatstadt, in ihrem Heimatland. Ich bin in einem Dorf aufgewachsen. Immer, wenn ich an meine Jugend denke, werde ich so traurig. Meine Freunde, wir spielten, wir gingen in die Schule; all das verloren zu haben, ist so schrecklich für mich. Ich bin vor dem Krieg in Afghanistan geflüchtet. Ich war sechs Monate im Militär in Afghanistan. Dann bekam ich grosse Probleme mit anderen Gruppen in Herat. Wenn ich anderen Leute hier zuhöre, macht es mich betroffen, denn auch sie haben viele Probleme in ihrer Heimat.»

Ausgeliefertsein

Die Wohn- und Lebenssituation für geflohene Menschen ist in vieler Hinsicht prekär und bedeutet für viele eine Verlängerung der fluchtbedingten psychischen Extremerfahrung. Je länger sich die Zeit bis zum Asylentscheid zieht und je lagerähnlicher das Leben in den Asylstrukturen ist, desto grösser ist die Gefahr entmündigender, demütigender, re-­traumatisierender Auswirkungen.

Und für alle, die am Ende mit einem Nega­tiventscheid konfrontiert sind, fängt der Dauerstress erst richtig an. Können sie nicht zurück in ihre Heimatländer, hält diese Ungewissheit noch weitere Jahre an. Das Elend des Nothilferegimes wie auch der fehlenden Perspektive durch Arbeits- und Ausbildungsverbot wird noch verschärft durch die ständige Angst, von der Polizei kontrolliert, festgenommen und für ein paar Monate inhaftiert zu werden.

Für abgewiesene Asylsuchende aus Algerien, Äthiopien, Eritrea und Afghanistan ist der Stress seit Sommer 2019 noch grösser. Regierungswechsel oder andere Veränderungen in den diplomatischen Beziehungen zur Schweiz ermöglichen den Schweizer Behörden nun, Menschen aus diesen Ländern in ihre Heimat «zurückzuführen», sprich, sie gewaltsam auszuschaffen. Manche der Betroffenen habe ich in den letzten Monaten begleitet, so auch Isma. Nach neun Monaten Ausschaffungshaft wurde er Anfangs August nach Algerien deportiert. Isma lebte seit achtzehn Jahren in der Schweiz, sechs davon im Nothilferegime. Fünf Mal war er wegen des «Dauerdelikts illegalen Aufenthalts» jeweils mehrere Monate im Gefängnis. Er klagte mir wiederholt sein Leid: «Sie glauben, wir hätten keine Seele.» Und Sumi, der kurz vor der Möglichkeit stand, ein Härtefallgesuch zu stellen, wurde Mitte September frühmorgens im Containerlager einer Notunterkunft aus dem Bett geholt und verhaftet. Nun ist er in Ausschaffungshaft. Die Behörden bereiten seine Zwangsausschaffung nach Afghanistan vor. Die anderen, die das mitbekommen, sind sehr beunruhigt.

In den Familiennotunterkünften ist die Angst vor den überfallartigen Ausschaffungsaktionen noch grösser. Im Kanton Zürich gibt es fünf Notunterkünfte, die seit Inkrafttreten der 13. Asylgesetzrevision am 1. März 2019 offiziell «Rückkehrzentren» genannt werden. (Solidarische Organisationen und Gruppen nennen diese Strukturen «Nothilfelager», was der Wirklichkeit näherkommt.) In zwei von diesen fünf Lagern sind auch Familien und Alleinerziehende mit Kindern untergebracht. Die Kinder dürfen theoretisch am Unterricht in der jeweiligen Dorfschule teilnehmen, was auch manchmal klappt. In den Containern des Rückkehrzentrums Adliswil gibt es einen Spielzeug­raum für Kinder im Vorschulalter. Doch dieser wird nur geöffnet, wenn Freiwillige von den Besuchsgruppen kommen, um mit den Kindern zu spielen. Auch für anderes gibt es wenig Raum. Grosse Familien leben in einem Zimmer. Sanitäranlagen teilen sie mit anderen Familien. Ebenso die Küche. Privatsphäre existiert kaum oder wird regelmässig verletzt. Das Schlimmste aber ist die permanente Angst der Eltern und Kinder, mitten in der Nacht von der Polizei abgeholt zu werden: Eltern bringen ihre Kinder am Abend mit angezogenen Schuhen ins Bett.

Tägliche Traumatisierung

Um Asylsuchende, die nicht ausreisewillig sind und nicht ausgeschafft werden können, zur Ausreise zu bewegen, soll ihnen das Leben in der Schweiz möglichst unerträglich gemacht werden. Die gesundheitlichen Folgen für die Betroffenen werden kaum bedacht. Durch das System der Nothilfe werden die Menschen in einer konstanten Ohnmachtssituation festgehalten. Ihre Lage erscheint ihnen als ausweglos. Gefühle der Hoffnungslosigkeit und der Verzweiflung, sowie ein Verlust des Selbstwertgefühls, der Identität und der Sinnhaftigkeit breiten sich aus. Es fehlen Perspektiven für die Zukunft. Die Menschen sind existenziell abhängig von den Anweisungen und Entscheidungen der privatwirtschaftlichen Nothilfelager-Betreiberin ORS und des Kantons. Dies betrifft den Aufenthalt im Nothilfelager, die Bewilligung für Arztbesuche, die Bezahlung von ÖV-Tickets sowie die tägliche Auszahlung des kleinen Barbetrags. Die Männer und Frauen sind willkürlich und schikanös anmutenden Vorschriften und Massnahmen ausgeliefert, die sich jederzeit ändern können und deren Nichteinhaltung Sanktionen bis zum Entzug des existenziellen täglichen Geldbetrags zur Folge hat. Sie leben in konstanter Angst vor den unvorhersehbaren, meist frühmorgens durchgeführten, mit Ausschaffungen verbundenen Kontrollen durch die Polizei oder die unangemeldeten Zimmerkontrollen der ORS. Sie sind in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt infolge der Eingrenzungen, wegen denen sie das Gemeinde- oder Bezirksgebiet nicht verlassen dürfen, und wegen der Abgelegenheit der Nothilfelager. Sie werden dadurch isoliert von sozialen Kontakten.

Es gibt in den Nothilfelagern keine Lebensbedingungen, die die Gesundheit traumatisierter Menschen verbessern oder zumindest stabilisieren könnten; sie werden im Gegenteil aller noch vorhandenen emotionaler Ressourcen beraubt. Das Regime der Nothilfe ist somit direkt verantwortlich für die (re-)traumatisierenden Situationen und deren gesundheitliche Folgen für Tausende abgewiesener Asylsuchender in der Schweiz.

Illegalisierung und Kriminalisierug

Die Asylstatistik des Bundes gibt keine Auskunft zur Anzahl von abgewiesenen Asylsuchenden in der Schweiz. Aber laut kantonaler Sicherheitsdirektion gab es im Frühling 2019 allein im Kanton Zürich 665 Nothilfebeziehende, hinzu kommen einige der 2 304 Asylsuchenden mit N-Ausweis, die auf die Beantwortung eines Mehrfachgesuchs warten und ebenfalls Nothilfe beziehen und Notunterkünften zugeteilt sind.

Wie schon erwähnt, können abgewiesene Asylsuchende wegen des «Dauerdelikts illegalen Aufenthalts» wiederholt bis zu jeweils einem Jahr Gefängnisstrafe verurteilt werden. Diese Strafe steht in keinem Verhältnis zu Strafen, welche andere Menschen für ähnlich schwere Gesetzesübertretungen erhalten. Es gibt eine Dynamik der Stigmatisierung: Wer «illegal» ist, ist auch schon «kriminell». Das zeigt sich an einer weiteren Massnahme: Obwohl in der Öffentlichkeit immer noch der Grundsatz gilt, dass DNA-Profile nur bei Verdacht auf schwere Verbrechen erstellt werden sollen, erstellt die Zürcher Kantonspolizei seit 2016 systematisch DNA-Profile von Nothilfe-Bezüger*­innen, deren einziges Vergehen darin besteht, keine gültige Aufenthaltspapiere zu haben. Die Polizei stellt in ihren Formularen «Verbrechen» und «Vergehen» auf dieselbe Ebene.

Die Kriminalisierung von Menschen, die solidarisch mit Asylsuchenden sind, folgt der einer ähnlichen Dynamik und Logik (siehe hierzu auch den Artikel von Paul Leuzinger: Solidarität ist kein Verbrechen). Die Kriminalisierung von Solidarität schreckt Bürger*innen davon ab, zugunsten der Schwachen und Marginalisierten aktiv zu werden. Diese Entwicklung ist die Konsequenz einer Asylpolitik, die nur in die Sackgasse der Barbarei führen kann.

Wenn die dominante Mehrheit einer Gesellschaft durch die Verschärfungen des Asylrechts beschliesst, dass ihre schwächsten Mitglieder ihrer Grundrechte beraubt werden, beispielsweise indem ihre Anwesenheit als Delikt definiert wird, bereitet sie sich selbst den Weg in ein totalitäres Regime, welches die des illegalen Aufenthalts Beschuldigten schliesslich mit allen Mitteln zum Verschwinden bringt. Dies ist das Elend der abgewiesenen Asylsuchenden, der administrativ produzierten Sans-­Papiers. Wer an einer solchen Asylpolitik festhält, muss hinnehmen, dass in der Schweiz Dinge geschehen, die «nie wieder!» geschehen sollten. Höchste Zeit, an eine grundlegend andere Migrations- und Asylpolitik zu denken, wie sie beispielsweise die migrationscharta.ch anregt.

Die Informationen für diesen Text sind im Austausch mit den interviewten Asylsuchenden wie auch mit seit Jahren engagierten Menschen in Rechtsberatungs- und Besuchsgruppen zusammengetragen worden. Die Namen aller genannten Personen wurden anonymisiert.