Afghanistan im August 2021: Tage des Umsturzes. Die Taliban nehmen sich die Macht wieder. Das Kartenhaus des Nation building bricht zusammen, auch weil die USA und der Westen die Interessen der breiten afghanischen Bevölkerung gar nie wirklich ergründeten. Es ging um eigene Agenden. Ratlosigkeit wurde über Jahrzehnte mit Militärmilliarden zugekleistert. Viele Menschen müssen aus Afghanistan flüchten. Viele sind längst in Pakistan und im Iran, einige in Beatenberg und in Zürich.
Der Einzug der Taliban in Kabul wird zum Moment der Bilanz: Die Opfer im War on terror sind ohne Zahl. Aber diese imperiale Epoche ist am Ende. Der Kreuzzug gegen das Böse ist gestört, zerstört. Und mit den europäischen Reaktionen wird wie im Brennglas sichtbar, wie es um die politischen Prioritäten steht. Jeweils der erste Satz von Emmanuel Macron oder Sebastian Kurz galt den schockierenden Ereignissen vor Ort. Im zweiten und dritten Satz wurde gemauert: In Europa sei kein Platz für flüchtende Afghan*innen. Sie sollten in Nachbarländern unterkommen («Hilfe vor Ort!»). 2015 («Wir schaffen das!») dürfe sich nicht wiederholen. Stört unseren fragilen Zusammenhalt im so schön abgeschotteten, christlichen Abendland nicht! Dieser sofortige Stellungsbezug in der Festung Europa schockierte mich nicht weniger als die neuerliche Gewaltherrschaft in Kabul.
Justizministerin Karin Keller-Sutter haute empathielos in dieselbe Kerbe, mit hundert Argumenten, weshalb die Schweiz jetzt keine sicheren Fluchtwege öffnen könne. Bei der Aufnahme von Resettlement-Flüchtlingen will sie auf keinen Fall zu den offeneren EU-Staaten aufschliessen. Erleichterte Familienzusammenführungen werden schroff abgelehnt. Mario Gattiker, Chef des Staatssekretariats für Migration, sagt, dass wir jetzt nicht nur Afghanistan sehen dürften. Es gebe viel Not auf der Welt. – Afghan*innen, stört unsere humanitäre Schweiz nicht. Natürlich wollen wir die besten Samariter sein. Aber wir bestimmen, für wen am Wegrand wir Erbarmen zeigen.
Gattikers Tonfall begegnete mir im Wort der Präsidentin der Evangelischen Kirche Schweiz, Rita Famos, an der Synode vom 5./6. September wieder. Sie sei mit einer Petition der Migrationscharta konfrontiert und werde gefragt: Wieso schweigt ihr zu Afghanistan? Das Elend schreie zum Himmel und sie mit ihm. «Aber eben: nicht nur in Afghanistan.» Libanon und Syrien und Haiti, Impffrage und Organtransplantation und Ehe für alle. Überall sei man gefordert. Aber: «Ist es denn an uns, vorschnell den Mahnfinger zu erheben und Forderungen zu stellen?» Denn «manchmal ist es ehrlicher und hilfreicher, die Ohnmacht zu teilen, schweigend auszuhalten, miteinander zu weinen, sie im klagenden Gebet vor Gott zu bringen».
Bevor sie um Verständnis dafür bat, weshalb der Rat nicht «vorschnell» das Wort zu Afghanistan ergriffen habe, erklärte sie ihren reformierten Kompass: «Wir werden als kirchliche Verantwortungstragende heute auch diejenigen Kirchenmitglieder im Auge behalten, die sich nicht öffentlich zu Afghanistan geäussert haben.» Sie müssten «auch an diejenigen denken, die sich vor grossen Flüchtlingsströmen fürchten. Diejenigen, die sich um ihre Sicherheit sorgen. Als Kirche sind wir auch mitverantwortlich, dass die Gesellschaft an diesen Fragen nicht auseinanderbricht. Wer wirklich helfen will, muss die Behörden als Partner begreifen und auch die Sorgen derjenigen hören, die Angst haben, selbst unter die Räder zu kommen.»
Deshalb also gibt es beim Thema Flucht und Migration im EKS-Rat erst einmal sehr viel Kontinuität zur – nicht erst im Nachhinein – unsäglichen Ära Gottfried Locher. Deshalb beziehen sich in den aktuellen Afghanistan-Diskussionen Kirchenleitungen off the record auf das Engagement bei der Konzernverantwortungsinitiative. Statt die Erfahrung mitzunehmen, dass die Kirchen auch in Zeiten massiven Schrumpfens eine kritische Stimme und manchmal sogar das Zünglein an der politischen Waage sein könnten, wollen sie jetzt den bürgerlichen Gottesdienst im Land wieder gewährleisten. Auf dass die Kollekte beziehungsweise die Kirchensteuer auch weiterhin entrichtet werde.
Die Mahnrede von Rita Famos stand am Anfang der Synode. Am Ende war etwas anderes: die sehr deutliche Annahme einer Resolution, die fordert, Asylsuchenden aus Afghanistan in der Schweiz eine vorläufige Aufenthaltsgenehmigung zu erteilen. Zudem solle ein «substanzielles Kontingent» an Geflüchteten hier aufgenommen werden. Und die Forderung nach erleichtertem Familiennachzug von Geflüchteten sei keine «Maximalforderung» (Rita Famos), sondern ein probates Mittel, Schutz zu gewähren. Schweigen sei keine Option.
*1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution SMRI.