Im Engadin, am Fuss des immer noch mächtigen, aber bedrohten Morteratschgletschers, versammelten sich diesen Mai Menschen zu einer Zeremonie. Ein katholischer Priester und Sozialaktivist aus den Philippinen schilderte am Beispiel der sich rasant häufenden Wirbelstürme in seinem Land, wie die Klimakrise im Globalen Süden zu dramatischen Überschwemmungen, Dürren und Hungersnöten unter den Ärmsten führt. Ein Glaziologe der ETH erklärte vor Ort, wie auch in der Schweiz Wasser zu einem knappen Gut werden kann, wenn Speicher wie der Morteratschgletscher immer kleiner werden und verschwinden. Die reformierte Bündner Kirchenratspräsidentin setzte mit ihrer Anwesenheit ein Zeichen für ein deutliches Ja zum Klimaschutzgesetz am 18. Juni.
So soll es sein: Kirchen stehen ganz selbstverständlich im Zentrum des Kampfs für die radikale ökosoziale Transformation. Die Religionsgemeinschaften stellen ihr ganzes Potenzial an globaler Vernetzung und Solidarität in den Dienst der Klimagerechtigkeit. Sie öffnen ihre Räume, Kommunikationskanäle und Anlässe für die Klimastreikbewegung, für die Klima-Allianz, an der ihre Hilfswerke beteiligt sind, für Aktionen, die zur Umsetzung der Klimaziele aufrütteln. Und vor allem: Sie entwickeln aus ihrem Traditionsschatz eine Sprache, die Menschen Mut zum Widerstand macht, gemeinsame Hoffnung wider alle Hoffnung wachsen lässt und gerade junge Aktivist*innen stärkt, wo Erschöpfung und Verzweiflung drohen. Zu dieser Sprache gehört das Zeichen am Morteratsch.
Die Koalition «Christ:innen für Klimaschutz» setzt sich für ein Ja am 18. Juni ein: «Die Klimakrise ist akut, sie ist eine Natur- und Menschheitskatastrophe von einem in der bisherigen Menschheitsgeschichte unbekannten Ausmass.» Grosse Organisationen sind mit dabei. Selbst die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz drückt sich klar aus: «Wenn das Eis auf der Erde in dramatischen Ausmassen schmilzt, droht die göttliche Zusage, auf die die Menschheit bis in die Gegenwart vertraut hat, buchstäblich in einer neuen, selbstverursachten Sintflut unterzugehen.» Einzelne Kirchgemeinden wie Johannes in Bern lassen sich bewegen: «Die Klimajugend ist immer wieder Gast in unserer Kirchgemeinde. Sie erinnert uns mit Nachdruck an unsere Verantwortung als Mitgeschöpfe und die Notwendigkeit entschlossenen Handelns.»
Nur: Vielerorts herrscht Ruhe. Nach der heftigen Debatte rund um die Positionierung von Kirchen zur Konzernverantwortungsinitiative bewegen sich die meisten Kirchgemeinden nur vorsichtig. Viele Kirchenleitungen schweigen lieber zu politischen Fragen. Auch wenn es um die ganz grossen Themen geht wie Klimaschutz und Klimagerechtigkeit, von denen Parteien und Medien jetzt im Wahlkampf gerne ablenken mit Gerede über die angeblichen Gefahren der Zuwanderung oder der Teilzeitarbeit. Was bei der Konzernverantwortungsinitiative Aktivität und Mut ausgelöst hat, fehlt: Zeichen des Glaubens setzen, dass die Welt anders möglich ist. Ein langer Atem in Bündnissen mit nichtreligiösen Kräften an den Tag legen. Auch von der Basis her in Anspruch nehmen, als «Kirche» zu sprechen. Flagge zeigen, auch ganz konkret.
Der Theologe Pierre Bühler stellt genau in diese Situation hinein mit dem Manifest Schweigen die Kirchen, oder erheben sie ihre Stimme? brennende Fragen zur Debatte. Viele Kirchenleute tragen das Manifest mit ihrer Unterschrift mit. Die Diskussion nach der Konzernverantwortungsinitiative habe Verunsicherung, zum Teil Einschüchterung ausgelöst. Politischer Druck und die Angst um eigene Strukturen und Finanzen führten zu einem gefährlichen Schweigen. Kirchen könnten aber gar nicht nichtpolitisch sein, ihr Kernauftrag sei immer gesellschaftsrelevant. Mit Verweis auf die reformierte Zürcher Kirchenordnung spricht Bühler vom «prophetischen Wächteramt» der Kirche «in der Ausrichtung aller Lebensbereiche am Evangelium [...] für die Würde des Menschen, die Ehrfurcht vor dem Leben und die Bewahrung der Schöpfung».
Das Manifest geht noch einen Schritt weiter: «Wenn alle rechtlich gewährten Wächteramtshandlungen ausgeschöpft sind, können die Kirchen in die Lage kommen, nicht nur ‹die Verantwortlichmachung des Staates› und den ‹Dienst an den Opfern des staatlichen Handelns› zu pflegen, sondern im Extremfall dem Rad des Staates ‹in die Speichen zu fallen› (D. Bonhoeffer). Das heisst etwa: dem Staat gegenüber zivilen Ungehorsam ausüben, gewaltlose illegale Handlungen vollziehen (z.B. Kirchenasyl), im Sinne kritischer Loyalität, die den Staat bei seinen rechtlich-ethischen Verpflichtungen behaftet.»
Das ist höchst aktuell, wenn Menschen zivilen Ungehorsam ausüben, um Staaten auf die Einhaltung der Klimaziele zu verpflichten. Damit das Überleben von Menschen vor allem im Globalen Süden nicht noch stärker bedroht wird. Und damit bei uns die Gletscher nicht wegschmelzen. Und mit ihnen die Bedeutung der Kirchen.●