Jüngst erhielt ich ein Mail eines Journalisten, er recherchierte für die Weltwoche. Es ging ihm um Israel und um Menschenrechtsarbeit. Sein Ton war rüpelhaft: Fakten würden meine «antijüdische Agitation» belegen. Er rate «zur gelegentlichen Selbstreflexion».
Auf der Grundlage von Menschenrechten für alle würde ich ihm gegenüber argumentieren, weshalb ich Diskriminierungen von Menschen auch in Israel/Palästina nicht akzeptiere. Wir würden uns vermutlich nicht finden. Erst recht nicht in Zeiten der angekündigten Annexion und Apartheid. Seinen diffamierenden Vorwurf weise ich höflich an den Absender zurück. Ich will mich stets daran messen und messen lassen, dass der Kampf gegen Antijudaismus und Antisemitismus die Ausrichtung meiner theologischen, menschenrechtlichen und journalistischen Arbeit prägt. Seinen Ratschlag hingegen nehme ich auf: Selbstreflexion verstehe ich in diesem Zusammenhang als Anstrengung zum fortwährenden Verlernen von Antisemitismus.
Ich stehe nicht – sozusagen kraft meines aufgeklärten Selbstverständnisses, meines theologischen Nachdenkens, meiner Freundschaft zu jüdischen Menschen – schon mal auf der guten Seite, jenseits aller Verstrickungen in Antisemitismus und Judenhass, frei von Gewalt und Diskriminierung. Was die deutsche Autorin Alice Hasters aktuell zum Rassismus formuliert, gilt auch in Bezug auf den Antisemitismus: «Er ist schon so lang und so massiv in unserer Geschichte, unserer Kultur und unserer Sprache verankert, hat unsere Weltsicht so sehr geprägt, dass wir gar nicht anders können, als in unserer heutigen Welt rassistische Denkmuster zu entwickeln.»
In unserem gesellschaftlich-kulturellen Bodensatz fressen sich diese gewaltförmigen Traditionen weiter. Wir sind, oft unbewusst, geprägt von Narrativen der Rechtfertigung von Herrschaft, Abwertung, Ausgrenzung und letztlich von Unsichtbarmachung, Auslöschung. Unsere Sozialisation, zum Beispiel in der Schweiz, und die Tradierung von Wissensbeständen, zum Beispiel in der Theologie, geschehen in Räumen, die nicht frei sind von Rassismen und von Antisemitismus. Unsere Kirchen und politischen Bewegungen stehen nicht per se auf der richtigen Seite. Auch die Neuen Wege nicht, so stolz ich darauf bin, dass Leonhard Ragaz nach seinem Tod 1945 vom Religionsphilosophen Martin Buber mit den aussergewöhnlichen Worten charakterisiert wurde, der «echteste Freund, den das jüdische Volk in unserer Zeit besessen hat», gewesen zu sein.