Die Medien in der ganzen Schweiz berichteten während Jahren über den «Fall Carlos». Der Fall wurde im Kontext ausgrenzender rechter Politik zum Synonym für «gemeingefährlich», «Sozial-Wahn» oder «Kuscheljustiz».
Hinter dem «Fall Carlos» steht die Lebensgeschichte von Brian. Zum ersten Mal kommt er als Zehnjähriger in Untersuchungshaft, weil er fälschlicherweise der Brandstiftung beschuldigt wird. Als Zwölfjähriger wird er angeblich «zu seiner eigenen Sicherheit» acht Monate lang in einem Erwachsenengefängnis inhaftiert. An seinem sechzehnten Geburtstag wird Brian in einer psychiatrischen Klinik für dreizehn Tage ununterbrochen ans Bett fixiert. Nach einem medialen Aufschrei wegen der Einrichtung eines Sondersettings wird der 17-jährige Brian sechs Monate lang ohne rechtliche Grundlage eingesperrt. Und so geht es weiter. Seit gut drei Jahren ist er nun in Isolationshaft. 23 Stunden am Tag sitzt er allein in seiner Zelle. Er erhält keine Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung und keinen Kontakt zu anderen Gefangenen. Besuche seiner Familie finden hinter einer Trennscheibe statt. Das hat nun auch den UNO-Sonderberichterstatter für Folter und die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter auf den Plan gerufen. Sie wachen über Art. 7 des UNO-Pakts über bürgerliche und politische Rechte: «Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.»
Das Kollektiv #BigDreams thematisiert die Situation in einem breit angelegten politischen Kunstprojekt (→ S. 3 und Illustrationen in diesem Heft): «Brian ist aus unserer Sicht interessant, weil er ein Extremfall ist, der uns alle etwas angeht. Die Menschenrechte beispielsweise, die in seinem Fall verletzt werden, sind da, um uns alle zu schützen. Wir wollen deshalb auf die problematischen Zustände im Schweizer Justizsystem aufmerksam machen. An seinem Fall zeigen sich die benachteiligenden Bedingungen in unserem Rechtssystem, die bis hin zu Folter reichen.» (NZZ, 22.9.21)
Mittlerweile hat der heute 26-jährige Brian ein Drittel seines Lebens in geschlossenen Einrichtungen verbracht. Als Erwachsener wurde Brian dreimal rechtskräftig verurteilt: wegen einer Sachbeschädigung während des widerrechtlichen Freiheitsentzugs, aufgrund einer schweren Körperverletzung nach einer Auseinandersetzung mit einem Kickbox-Kollegen und im Juni 2021 schliesslich (Freiheitsstrafe von 6 Jahren und 4 Monaten) wegen eines Vorfalls in der Strafanstalt, den das Obergericht als versuchte schwere Körperverletzung taxierte. Brians Strafregister entspricht aber dennoch nicht der Drohfigur eines unverbesserlichen, gefährlichen Gesellschaftsfeinds, vor dem die Allgemeinheit geschützt werden muss.
Der Justizvollzug kommt mit Brian an seine Grenzen. Und er überschreitet sie immer wieder. Der Fall steht für das uneingelöste Versprechen des Jugendstrafrechts, die Weiterentwicklung von jungen Menschen zu fördern und günstig zu beeinflussen, und den allzu oft nicht umgesetzten Auftrag des Strafvollzugs zur Resozialisierung. Brian – mit #BigDreams – provoziert uns, über den Sinn von Freiheitsentzug grundsätzlich nachzudenken und darüber zu sprechen. Den allermeisten Gefangenen fügt die immer noch viel zu häufig vorkommende Einzelhaft Leid zu und setzt verheerende Spiralen fort – in der Untersuchungshaft wie im Strafvollzug. Dazu tragen die nur spärlichen Kontakte zur Aussenwelt bei, fehlende Möglichkeiten, sich rechtlich zur Wehr zu setzen und Zukunftspläne zu schmieden, oder auch die starken Tendenzen der Psychiatrisierung, die renitente zu kranken Menschen macht. Die Frage nach den Alternativen, nach mehr offenen Institutionen, nach Settings, die Zukunft schaffen jenseits von Freiheitsberaubung und Rachevorstellungen, richtet sich nicht nur an die Justiz und an Fachpersonen. Es ist eine menschenrechtliche Kernfrage jeder Gesellschaft.●