Die Grausamkeit des Schönen

Serena Owusua Dankwa, 30. Juli 2020

Ein barock vergoldeter Bogen nach dem anderen wölbt sich über mir, als ich durch die unendlichen Korridore einer der ältesten und grössten Kunstsammlungen der Welt wandle: die vatikanischen Museen. Kuratiert von Generationen von Päpsten. Geistlichen. Männern.

Feinteilige Mosaiken, von weit hergeholt und in unendlicher Sorgfalt neu zusammengesetzt, textile Landkarten und leuchtende Wandteppiche, an denen jahrelang gearbeitet wurde, reliefartige Fresken, die Schatten zu werfen scheinen, aber optische Täuschungen sind, filigrane Marmorfiguren und architektonische Wunderwerke. Hoch oben in der Sixtinischen Kapelle thront Michelangelos Fast-­Berührung der Fingerspitzen von Gott und Adam. Und weit unten schaudert mir.

Im Petersdom ziehe ich mich in eine Seitenkapelle zurück. Zwei Nonnen of Colour beten. Auch ich bekreuzige mich, knie mich hin, obwohl ich es nie gelernt habe. Ich tue es aus Respekt vor dieser Tradition und in Solidarität mit den beiden Schwestern, sage ich mir. Ich bin nicht Katholikin, aber die Sinnlichkeit, um nicht zu sagen die materielle Kultur des Katholizismus – Weihrauch und Kerzen­licht, Weihwasser und Mutter Gottes – faszinieren. Die 57 Euro, die ich für diese Tour ausgegeben habe, sind es mir wert. Trotz der homophoben Tourleiterin, die Michel­angelos Misogynie in Verbindung bringt mit seiner Homosexualität.

Ein tiefes, körperliches Unbehagen mischt sich in die Leichtigkeit des Schwindels. Denn ich sehe nicht nur irdische Gewalt und päpstlich-kirchlichen Geltungsdrang, sondern auch den Drang, über das Irdische hinauszuwachsen, das Verlangen nach Schönheit, nach Unendlichkeit und Transzendenz. Und die Sehnsucht, Gott und der schöpferischen Kraft im Menschen näherzukommen. Es werde Licht. Dafür liessen unzählige Menschen ihr Leben. Unfreiwillig. Andere taten es im Glauben an ihren freien Willen, im Glauben an den Himmel über der Kuppel, im Glauben an die Kunst und deren göttliche Kreativität, im Glauben, an etwas Höherem zu arbeiten, hin zu etwas Grösserem, hin zu dem Geheimnis, das die menschliche Existenz und Sinneskraft übersteigt.

Was war wohl die Geschichte dieses versklavten Jungen mit kurzem Afro und afrikanischen Gesichtszügen, der mich in Form einer kleinen Statue irgendwo zwischen marmornen Musen und Machthabern erstarrt anlächelt? Er erinnert mich daran, dass sich das Römische Reich auch auf die andere Seite des Mittelmeerraumes erstreckte und auch Italien und der Vatikan am Kolonialhandel und dem Handel mit Millionen von Menschen beteiligt waren. Die Weisheit dieser Menschen interessiert mich, ihre Mystik und Lebenskunst. Die Kunst des Überlebens angesichts der alltäglichen Gewalt, im Schatten imperialer Monumente.

So frage ich mich angesichts dieser gigantischen Kunstwerke, die ich nicht missen möchte, ob sie auch anders hätten entstehen können. Eine Frage, die mich umtreibt – als religiösen Menschen und als Person, für die soziale Gerechtigkeit und die Würde einer jeden unantastbar sind, und als eine, die sich dem Bann dieser Werke, die auf so viel Leid und Ausbeutung basieren, gleichzeitig nicht entziehen kann. Wiegt die Manifestation menschlich-göttlicher Kreativität mehr als das einzelne Menschenleben? Vielleicht ist das Leiden an der Kunst und im Namen der Ästhetik gerechtfertigt. Aber ist die Macht und Herrschaft gerechtfertigt, welche diese Werke und deren Konsum ermöglicht und damit vielen Menschen die Möglichkeit ihrer eigenen Entfaltung geraubt hat? Sahen auch die Handlanger und Zudienerinnen, die Bergarbeiter, die den Marmor abbauten, das Göttliche in diesen Werken? Waren sie zufrieden damit, Teil eines grösseren Ganzen zu sein? Konnten sie sich mit den entstehenden Monumenten identifizieren, obwohl ihre Namen und Geschichten nirgends aufgeschrieben sind? Ihre Träume und Imaginationen gehen nicht in die Geschichte ein. Ist grosse Kunst immer eine Geschichte der Reichen und der Mächtigen, aufgebaut auf Strukturen der Gewalt? Mir schwindelt angesichts dieser Fragen und dieser grausamen Schönheit.

 

In der Kolumne Anstoss! richten Menschen of Colour rund um das Netzwerk Bla*Sh ihre Blicke auf hiesige gesellschaftliche Machtstrukturen.Sie wechseln sich Monat für Monat ab mit der Kolumnistin Iren Meier.

  • Serena Owusua Dankwa,

    *1975, ist Sozialanthro­pologin, Moderatorin, Musikerin und lebt in Bern. Sie ist Mitherausgeberin des Sammelbands Racial Profiling: Struktureller Rassismus und antirassistischer Widerstand (Bielefeld 2019) und Autorin der Ethnografie Knowing Women: Same-Sex Intimacy, Gender, and Identity in Postcolonial Ghana (Cambridge, im Erscheinen).