Die jährlich steigenden Krankenkassenprämien und die anhaltende politische Unwilligkeit, mehr soziale Gerechtigkeit ins System zu bringen, sind nur ein kleines Indiz für den besorgniserregenden Zustand unseres Gesundheitswesens. Ein weiteres Zeichen dafür liegt noch tiefer: Es ist die sich schon seit längerem bemerkbar machende, verbreitete Unzufriedenheit mit einer naturwissenschaftlich-technokratischen Medizin und ihrem biologistischen Menschenbild.
Der Tod gilt hier als eine Art Feind, den es zu besiegen gilt. Es verwundert kaum, dass sich insbesondere ältere Menschen davor fürchten, eines Tages zum Austragungsort eines Kampfgeschehens zu werden. Nicht an Schläuche und Apparate angeschlossen und mit Medikamenten vollgepumpt zu werden – und damit nicht ohnmächtig vor sich hin zu vegetieren: Dieser Wunsch gehört gerade im Zusammenhang mit Sterben und Tod zu den am häufigsten gehörten Aussagen. Die zunehmende Zahl der Mitgliedschaften bei Exit und der Anstieg assistierter Suizide in der Schweiz spiegeln dies wider.
Empirische Studien belegen, dass die Suche von Menschen nach Sinn gerade im Angesicht von Krankheit, Sterben und Tod zunimmt. Jahrhundertelang waren es die institutionalisierten Religionen und Kirchen, die sich für kritische Lebensereignisse und -situationen zuständig fühlten. Ihrer alles überragenden Dominanz im Bereich existentieller Begleitung sind sie jedoch spätestens im 21.Jahrhundert verlustig gegangen. Je länger desto weniger sind Menschen religiös-kirchlich sozialisiert. Viele suchen Antworten, die nicht an eine Konfession oder Religion gebunden sind. Solche empfinden sie als partikularistisch und eng. Sie sehnen sich nach übergreifenden, alles Leben umfassenden und von einem gemeinsamen Ganzen zeugenden Perspektiven und finden sie in der Spiritualität.
Spiritual Care ist die konfessionsunabhängige und religionsübergreifende interdisziplinäre Begleitung von Menschen in kritischen Lebenssituationen, wie sie insbesondere auch im Spitalkontext anzutreffen sind. Spiritual Care ist nur vor dem Hintergrund sowohl des allgemein verbreiteten Unbehagens mit unserer modernen Medizin und ihrer Anthropologie wie auch des Relevanzverlusts von Religion und Kirchen zu verstehen.
Ob es sich bei Spiritual Care lediglich um einen weiteren kurzlebigen Trend oder um eine ernstzunehmende Sache handelt, ist gegenwärtig noch unentschieden. Alles wird davon abhängen, was unter dem Begriff verstanden wird. Der Ausdruck ist inzwischen zwar geläufig. 2013 stand in der Schweizerischen Ärztezeitung (Vol. 94, S. 125), es gebe für Spiritual Care zwar «inzwischen in München einen Lehrstuhl, aber noch keine klare Definition». Diese Unklarheit hält an und hängt nicht nur allgemein mit der Offenheit des postmodernen Containerbegriffs «Spiritualität» zusammen, sondern auch mit verschiedenen Interessen(gruppen), die um die Definitionsmacht von Spiritual Care ringen. Wir befinden uns in einem interdisziplinären Verteilkampf auf dem Sinnsektor. Die jeweiligen fachpolitischen Interessen prägen nicht nur, sondern bestimmen sogar zuweilen gegenwärtige Forschungserkenntnisse. Die Medizinerin und Theologin Doris Nauer konnte präzis aufzeigen, welche unterschiedlichen und sich zum Teil diametral widersprechenden Verstehensweisen von Spiritual Care in der Literatur zu finden sind: Die Spannweite reicht von einem zentralen Aspekt von Palliative Care – diese befasst sich mit unheilbar kranken Menschen und fokussiert deshalb nicht auf die Heilung, sondern auf den Erhalt und die Verbesserung der Lebensqualität – über ein bestimmtes Ausbildungskonzept oder eine eigene Behandlungsstrategie bis zu einer neuen medizinischen Disziplin. Die Verwendung des Begriffs sagt gegenwärtig, überspitzt formuliert, mehr über die Person, die ihn gebraucht, und ihre Absichten aus, als über ihn selbst.
Ungeachtet dessen, was jeweils genau gemeint ist: Spiritual Care bleibt nichts weiter als ein Trend, wenn die ihr zugrundeliegende Problemanzeige nicht ernsthaft reflektiert und anerkannt wird. Spiritual Care ist nicht mehr als eine Modeerscheinung, wenn die sie motivierende Sehnsucht nach Orientierung, Menschenwürde und Lebenssinn nicht glaubwürdig aufgenommen wird und zu Veränderungen im Gesundheitswesen insgesamt führt.
Seit der expliziten Berücksichtigung spiritueller Bedürfnisse im Gesamtkonzept von Palliative Care der Weltgesundheitsorganisation WHO erlebt Spiritual Care einen enormen Aufschwung. So will etwa der Palliativmediziner Gian Domenico Borasio von der Universität Lausanne den Weg dafür bereiten, dass sich im Bereich von Palliative Care die Sensibilisierung für Spiritualität in Form eines Spiritual Care-Trainings durchsetzt. Eigentlich sollten ihm zufolge alle MedizinerInnen ein solches absolvieren müssen. Doch angesichts der bestehenden Vorbehalte konzentriert er sich zunächst auf die Palliative Care. Um sein Ziel einer grundlegenden Implementierung von Spiritual Care zu erreichen, muss er einen sehr weiten Spiritualitätsbegriff verwenden. Nur so können sich möglichst alle diesem subsumieren. Zudem muss er Spiritualität rein positiv konnotieren und sie deutlich von Religiosität absetzen. Letztere kann dann der Seelsorge überlassen werden.
Das zugrundeliegende Denkschema ist dualistisch geprägt: Spiritualität ist gut und Religiosität eigentlich veraltet beziehungsweise überkommen. Eine solche Unterscheidung ist nicht nur ahistorisch, sie widerspricht auch grundlegenden religionspsychologischen Erkenntnissen, denn: Es gehört zu den Grunderkenntnissen der Religionspsychologie, hinter die wir nicht zurückfallen sollten, dass es keine Religiosität und keine Spiritualität an sich gibt; beide können lebensfördernd wie auch lebenszerstörend wirken. Sie sind ambivalent. So ist zum Beispiel angesichts einer Weltlage, die explosiver kaum sein könnte, und angesichts eines unfassbaren Ausmasses an menschlichem Leid, das unter anderem Folge ungerechter Verteilung von Ressourcen ist, kritisch zu fragen, ob individualistisch verengte und apolitische Spiritualitätsdefinitionen nicht letztlich auch ein hohes Schadens- und Abschottungspotenzial in sich tragen. Aus der Geschichte der Seelsorge wissen wir, wie nötig der prophetische Aspekt, nämlich der gesellschaftsverändernde Wille ist. Kurz: Es gibt Dinge, mit denen möchte ich nicht «copen», die will ich schlichtweg verändern. Das Mittelmeer als Friedhof flüchtender AfrikanerInnen stellt bestimmte Formen und Vorstellungen von Spiritualität grundlegend in Frage.
Wenn Spiritual Care unter anderem Ausdruck der Unzufriedenheit mit einer naturwissenschaftlich-technokratischen Medizin und ihrem biologistischen Menschenbild ist, muss die ihr zugrundeliegende Problemanzeige ernsthaft reflektiert werden. Es muss zu handfesten und sichtbaren Rückkopplungseffekten auf Medizin und Pflege – auf das gesamte Gesundheitssystem – kommen. Wie könnte dies geschehen? Welche Kriterien sollten dafür erfüllt werden? Es müssten nicht nur eigene standes- und fachpolitische Interessen offen gelegt und bewusst gemacht werden, sondern eigene Vorverständnisse geklärt werden. Dazu gehört auch eine persönliche religiös-kirchliche «Anamnese», die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte. Naives Sprechen von Spiritualität wie auch von Religiosität müsste einem differenzierten Blick auf die Vielfalt religiöser und spiritueller Ausdrucksformen weichen.
Was hingegen am allermeisten Not täte, wäre ein Anknüpfen an die ursprüngliche implizite Gesellschaftskritik von Palliative Care und an ihre inhärenten Vorbehalte der Hightech-Medizin gegenüber. Zur Zeit beobachten wir aber genau das Gegenteil, nämlich die medizinische Vereinnahmung von Spiritualität. So wird von spiritueller Anamnese, spirituellem treatment, spiritual screening, spiritual assessment, spiritueller Symptomkontrolle, spiritual skills gesprochen. Spiritualität, die das Gesundheitswesen nicht nur bändigen, sondern tiefgreifend verändern sollte, wird stattdessen sprachlich von ihm einverleibt. Sogar Eckhard Frick, Professor für Anthropologische Psychologie an der Hochschule für Philosophie in München, stellt fest: «Glauben, Religion und Spiritualität werden nunmehr unter dem Blickwinkel der evidenzbasierten Medizin mit ihren ökonomisierenden und technisch-rationalen Tendenzen gesehen.» (zitiert nach Doris Nauer: Seelsorge. Sorge um die Seele, Stuttgart 2014, S. 359).
In der Realität beobachten wir also nicht die spirituelle Beeinflussung und Veränderung der Medizin, sondern die medizinische Bemächtigung, Medikalisierung und Technisierung von Spiritualität. Dies ist nun nicht nur der Medizin anzulasten, sondern geht auch auf Tendenzen verschiedener Interessengruppen im Bereich Spiritual Care zurück, die sich der Medizin anzudienen und ihr zu gefallen versuchen.
Was hilft, um das ursprüngliche Anliegen aufzunehmen, ist das Bündeln von Kräften: An der Universität Bern ist schon zum vierten Mal ein Projekt im Gang, an dem drei Fakultäten mitsamt dem Inselspital gemeinsam und auf Augenhöhe einen Studiengang zu Spiritual Care organisieren. Der Zertifikatsstudiengang richtet sich an Personen, die sich für die besondere Bedeutung von Spiritualität als Ressource der Lebensbewältigung interessieren. Gemeinsame Trägerinnen dieses schweizweit einzigartigen berufsbegleitenden Studiengangs sind die Medizinische Fakultät, die Philosophisch-humanwissenschaftliche Fakultät und die Theologische Fakultät.
Die Teilnehmenden des Studiengangs werden in die aktuellen medizinischen, entwicklungs- und religionspsychologischen, theologisch-seelsorglichen und psychotherapeutischen Erkenntnisse zur Relevanz von Spiritualität allgemein und mit Blick auf ihr Potenzial bei der Bewältigung kritischer Lebensereignisse und Lebenskrisen eingeführt. Der Fokus auf die spirituelle Dimension menschlicher Existenz kann anknüpfen an die reiche Erfahrung der Seelsorge im Bereich religiös-spiritueller Begleitung. Wir können von ihrer besonderen hermeneutischen Kompetenz gerade auch im Umfeld von Altern, Sterben und Tod profitieren. Vor allem lernen können wir jedoch, dass Spiritual Care dringend den Stachel der Kritik in sich tragen muss, um nicht seicht, um nicht zur Seelsorge light zu werden. Im Moment zumindest scheinen die an Spiritual Care ursprünglich geknüpften Hoffnungen und die Realität noch arg auseinander zu klaffen.
Das Gros der MedizinerInnen möchte, anders als Spiritual Care dies vorsieht, nicht auch noch in die spirituelle Versorgung ihrer PatientInnen miteinbezogen werden. Sie haben keine Zeit, geschweige denn die Kompetenz, ihre PatientInnen auf spirituelle Bedürfnisse und Anliegen zu untersuchen und sich im Team mit anderen – im besten Fall unter Leitung der Spitalseelsorgerin oder des Spitalseelsorgers – darüber auszutauschen. Sie sind bei allem möglicherweise vorhandenen Interesse am Thema dennoch froh und dankbar, dies der spezifischen Fachkompetenz von professionellen Seelsorgenden überlassen zu können.
In der Schweiz besuchen TheologInnen, die sich in einer Spezialseelsorge weiterbilden möchten, eine explizit universitäre – und nicht wie in Österreich oder Deutschland eine kirchliche – Ausbildung. Dies stärkt sie im interdisziplinären akademischen Austausch. Aufgrund ihrer theologischen und spezifischen seelsorglichen Ausbildung wissen sie, dass in der Begleitung von Menschen, die Sterben und Tod vor Augen haben, eine besondere, auf fundierten Kenntnissen, intensivem Training und Selbsterfahrung beruhende Sorgfalt benötigt wird. Denn nicht nur Religion und Spiritualität sind ambivalent, sondern gerade die Begleitung von Menschen, die mit ihrem eigenen Sterben und Tod konfrontiert sind, kann eigene Ängste vor der Endlichkeit wecken. Vielleicht ist der Zustand unseres Gesundheitswesens Ausdruck der Abwehr genau dieser Ängste.
*1967, ist Professorin für Seelsorge, Religionspsychologie und Religionspädagogik an der Universität Bern.
isabelle.noth@theol.unibe.ch