Mitte September wurden Sie nach siebzehn Monaten aus Schweizer Haft entlassen. Wie geht es Ihnen?
Was soll ich sagen? Ich fühle mich unter Druck und eingeschränkt. Ich wollte mir etwas Zeit nehmen, um mich von der Ungerechtigkeit, die ich erlebt habe, zu erholen und um zurück in den Alltag zu finden. Aber die Bürokratie stresst mich und lässt mich nicht weitermachen: Mein Asylgesuch ist immer noch hängig. Daher ist es sehr ähnlich wie im Gefängnis: Alles ist kompliziert und geht sehr langsam. Und es gibt immer noch keine Anerkennung meiner Foltervorwürfe, weder von Spanien noch von der Schweiz. Meine Freilassung ist durch die Hintertüre passiert, es ist eine rein juristische respektive politische Lösung – das ist für mich noch nicht die ganze Freiheit. (Anm. d. Red.: Die Freilassung erfolgte, weil spanische Gerichte im Februar 2017 die ursprüngliche Freiheitsstrafe reduzierten und im September für verjährt erklärten.) Die Anerkennung der Foltervorwürfe wäre für mich persönlich wichtig, um das Kapitel abzuschliessen und die Sicherheit zu haben, dass ich nicht wieder gefoltert werde. Die Gesetze und die Incommunicadohaft, welche das Foltern ohne Strafverfolgung zulassen, sind in Spanien immer noch in Kraft. Es wäre aber auch politisch wichtig, wenn durch den kollektiven Kampf endlich anerkannt würde, dass der spanische Staat systematische Folter gegen baskische AktivistInnen ausübt.
Wie sah Ihr Alltag im Zürcher Gefängnis aus?
Es war ein Wiedererleben der Foltererfahrungen auf der Polizeistation der Guardia Civil in Spanien. Es gab alltägliche Situationen, die mich mit Erinnerungen konfrontierten und Stress auslösten. Daher war die Zeit hier im Gefängnis eine Retraumatisierung für mich. Die Schweizer Behörden haben das nie verstanden und wollten es auch nicht verstehen. Es war schwierig, in der Isolationshaft das Gleichgewicht zu finden – dreiundzwanzig Stunden am Tag alleine und getrennt von meiner Tochter –, ich hatte keinen Zugang zu sportlichen Aktivitäten und konnte mich nur selten mit einer anderen Person austauschen. Die Knastpolitik versucht, all deine kulturellen, affektiven und politischen Beziehungen zu verunmöglichen, um dich zu brechen, sodass der Widerstand im Alltag sehr schwierig ist.
Mit was für konkreten schwierigen Situationen waren Sie konfrontiert?
In der Untersuchungshaft gibt es für Frauen keine gynäkologische Kontrolle. Ich hatte jedoch Beschwerden und wollte eine Abklärung. Zuerst wurde sie mir verweigert, weil das während der UHaft nicht gehe. Aber aufgrund der Menschenrechte habe ich als Frau ein Recht darauf. Also kämpfte ich solange, bis ich eine gynäkologische Kontrolle bekam. Und dann, was passierte? Ich wurde so unwürdig behandelt, dass ich die Untersuchung abbrechen musste: Zum Spital haben sie mich in Hand- und Fussfesseln gebracht. Die Ärztin wurde vorab informiert, dass ich eine hoch gefährdete Gefangene sei, also hatte sie Angst vor mir und sich nicht dafür eingesetzt, dass mir die Fesseln abgenommen wurden. Diese Situation war für mich eine Retraumatisierung
der Vergewaltigung in Spanien: in Hand- und Fussfesseln in Präsenz der Polizei untersucht zu werden. Das wollte ich nicht, ich habe mich gewehrt. Aber als Antwort kam nur, ich müsse die Kontrolle ja nicht machen. Ich musste am Schluss zwischen meiner Gesundheit und meiner Würde entscheiden: Ich will eine Kontrolle, aber nicht unter diesen Bedingungen. Ich musste anerkennen, dass für diese Leute die Gesetze vor der Gesundheit von Gefangenen stehen. Das geht nicht! Es war ein Überlebenskampf, unter solchen Umständen Subjekt zu bleiben.
Wie haben Sie Widerstand geleistet, wie sind Sie Subjekt geblieben?
Es war wichtig, Grenzen zu setzen. Wenn ich Rassismus erlebte, habe ich reagiert und die WärterInnen damit konfrontiert – zum Beispiel wenn sie blöde Sprüche oder Kommentare gemacht haben, im Speziellen gegenüber Roma. Ich habe das bürokratische und hierarchische System ausgenutzt: Die Angestellten befinden sich in einer Hierarchie und mögen es nicht, wenn eine Gefangene sich an die nächsthöhere Stufe wendet. Ich habe viele Klagen und Beschwerden an den Gefängnisleiter geschickt, und wenn er nicht reagierte, habe ich an die nächsthöhere Stelle geschrieben Rechte Privilegien seien. Manchmal haben sie mich aber auch einfach ignoriert, das war das Schlimmste für mich. Die Behandlung der Gefangenen in der Schweiz entspricht leider oft nicht den menschenrechtlichen Grundsätzen, und das wissen die Behörden ganz genau. Daher haben sie mir immer wieder Rechte zugestanden, damit ich nicht weiterkämpfe. Aber ich kämpfe immer und überall für meine Rechte und für Gerechtigkeit.
Die Behandlung der Gefangenen in der Schweiz entspricht leider oft nicht den menschenrechtlichen Grundsätzen, und das wissen die Behörden ganz genau. Daher haben sie mir immer wieder Rechte zugestanden, damit ich nicht weiterkämpfe. Aber ich kämpfe immer und überall für meine Rechte und für Gerechtigkeit.
Briefe schreiben war zu Beginn sehr mühsam, Sie haben erst nach einem Jahr einen eigenen Computer erhalten.
Die Gefängnisse sind von Männern für Männer gemacht. Als Frauen waren wir ganz unten in der Hierarchie. Es gab sehr wenige Computer, die Männer unter den Häftlingen kamen zuerst dran. Ja, die Schikanen gehörten zum Alltag. Mit Verboten versucht das System, dich zu erziehen und still zu halten. Die WärterInnen und Gefängnisleitung hatten Angst, dass ich noch mehr Briefe und Beschwerden schreibe. Ich musste jeden Tag für viele Dinge kämpfen, die für Menschen in Freiheit unvorstellbar sind. Aber ich gab nicht auf und erhielt schliesslich einen Computer. Das half, meine Gedanken und Ideen zu kanalisieren und zu verbreiten.
Inwiefern unterscheiden sich die Erfahrungen von Frauen und Männern im Gefängnis sonst?
Das Patriarchat reproduziert sich hier noch stärker. Die Frauen machen sogenannt «typische Frauenarbeit»: Bettwäsche bügeln oder Putzen. Männer machen hingegen handwerkliche Arbeit. Frauen müssen Hygieneartikel wie Binden und Tampons selber kaufen, während die Männer Rasierer und Rasierschaum vom Gefängnis bekommen. Ein anderer Punkt ist der Dienstplan: Am Abend und am Wochenende gibt es keine Wärterinnen auf der Frauenabteilung, sondern nur Männer. Wärter dürfen aber die Türen zu den Zellen der Frauen nicht öffnen. Das führte zum Beispiel dazu, dass eine Frau ihr Kind alleine in ihrer Zelle gebären musste. Sie hatte mehrmals den Notfallknopf gedrückt, aber die Wärter reagierten nicht. Dann klingelten auch andere Gefangene und wollten auf die Situation aufmerksam machen. Erst nach einer Stunde kamen zwei Männer und sagten nur: «Ah, wollen Sie die Nabelschnur selber durchschneiden? Oh, wir müssen die Schere noch sterilisieren.» Später kam zwar die Ambulanz, aber alles war schon vorbei. Solche Geschichten passieren in Schweizer Gefängnissen!
Das Beispiel zeigt aber auch Solidarität unter den Gefangenen.
Das Gefängnissystem will dich zerdrücken. Alleine bist du verletzlicher, daher haben wir uns gegenseitig geholfen. Zum Beispiel gibt es viele Frauen aus Lateinamerika, die direkt vom Flughafen ins Gefängnis kommen und die deutsche Sprache nicht können. So helfen sich Frauen gegenseitig beim Übersetzen von Briefen des Gerichts, oder sie erklären einander, wie das Gefängnis funktioniert. Zum Beispiel gibt es eine Bibliothek, aber es wird nirgends erklärt, wie du ein Buch ausleihen kannst.
In der Spazierstunde habe ich versucht, anderen klar zu machen, dass wir als Gefangene auch Rechte haben. Das Bewusstsein dafür fehlt vielen. Wir haben alltägliche Probleme und juristische Fragen zusammen diskutiert, und ich habe aufgrund meiner bisherigen Erfahrungen Tipps gegeben. Nebst der Spazierstunde hatten wir freitags immer auch eine Stunde, während der wir andere Gefangene in ihrer Zelle besuchen durften. Dann haben wir zum Beispiel Geburtstage gefeiert und Musik gehört – es waren schöne Momente, ausserhalb der alltäglichen Schikanen. Als Gefangene darfst du das Lachen nicht verlieren, das ist mir sehr wichtig. Wir haben in dieser inhumanen Situation unsere Humanität gepflegt und einander gezeigt: Es ist hart, klar, aber das Knastsystem macht uns nicht kaputt.
Sie scheinen sehr viel Kraft zu haben. Inwiefern hat Ihnen die Unterstützung von aussen, zum Beispiel von der Solidaritätsgruppe Free Nekane, geholfen?
Natürlich ist ein Teil von mir sehr kämpferisch, und meine Tochter gibt mir die Motivation, nicht aufzugeben. Aber es half mir auch zu sehen, dass draussen viel passiert und meine Ideen und mein Kampf eine Wirkung haben. Ich habe gemerkt, dass ich nicht alleine bin: Ich gab und ich konnte nehmen.
Wo könnte da die Linke aktiv werden, gerade auch für Gefangene, die nicht so bekannt sind wie Sie?
Zuerst hatte ich Angst, dass mit der Kampagne Free Nekane eine Personalisierung stattfindet. Aber nun ist es ein kollektiver Kampf geworden: Meine Erfahrungen können wir nutzen, um die Probleme in Schweizer Gefängnissen allgemein sichtbarer zu machen. Im Grunde bin ich Abolitionistin und für die totale Abschaffung der Gefängnisse. Das ist vielleicht eine Utopie angesichts der Tatsache, dass das Thema in der Schweiz kaum diskutiert wird. Im Baskenland ist das ganz anders: In jeder Familie sitzt jemand im Knast, und es gibt viele politische Gefangene. Das Gefängnis gehört zum Alltag. Hier in der Schweiz ist das Gefängnis scheinbar für Ausländerinnen und Ausländer und für Arme; politische Gefangene wie mich gibt es fast keine. Vielleicht ist das der Grund, warum das Thema ein Tabu ist: Die Gesellschaft denkt, dass nur Verliererinnen und Versager im Knast sind – und mit diesen identifiziert sich niemand. Die Linke sollte das Knastsystem als Unterdrückung im Zusammenhang von Klasse, Identität und Geschlecht sehen und dagegen kämpfen! Die Kirche hat auch viel zu tun ...
Was sollte sie tun?
Eine sozial orientierte Kirche sollte alle Gefangenen besuchen und Hilfe anbieten, um damit die Isolation zu durchbrechen. Es gibt ein paar wenige Seelsorger für viele Gefangene, und manchmal sind sie die einzigen Bezugpersonen. Sie haben unterschiedliche Haltungen; die einen kommen mit der Bibel und wollen mit dir beten, da habe ich als Atheistin Mühe. Aber mit manchen konnte ich über meinen Alltag sprechen, über persönliche Fragen oder Themen, die ich nicht mit anderen Gefangenen diskutieren wollte oder konnte. Das Teilen von Gedanken ist sehr wichtig, wenn du dreiundzwanzig Stunden am Tag alleine bist. Die Seelsorger haben eine professionelle Schweigepflicht, daher ist das Vertrauen zu ihnen stark. Das ist psychologisch sehr viel wert. Leider haben sie aber zu wenig Zeit für die einzelnen Gefangenen, und in Zürich traf ich nur auf Männer, es gab keine Seelsorgerinnen. Die Linke und die Kirche sowie alle anderen Menschen könnten sich dafür einsetzen, dass die Gefangenen mehr Besuch haben dürfen. So werden die Gefangenen im Alltag gestärkt und können sich besser gegen das System wehren.
Was finden Sie an diesem System besonders schlimm?
In der Untersuchungshaft ist es oft so, als ob keine Unschuldsvermutung existieren würden; das heisst, dass die
Gefangenen bereits bestraft werden und striktere Haftbedingungen als im Vollzug haben. Die sogenannte Kollusionsgefahr ist eine Waffe von Staatsanwälten, um die Gefangenen klein zu halhalten: Viele dürfen während der ersten drei Monate oder länger keinen Besuch erhalten und nicht telefonieren, nicht einmal mit den Anwältinnen und Anwälten. Obwohl ich in Auslieferungshaft war, eigentlich eine rein administrative Haft, haben mich die Schweizer Behörden erneut wegen meinen Überzeugungen bestraft. Und nicht nur ich wurde bestraft, auch meine Familie und insbesondere meine Tochter. Das System bestraft nicht nur die Gefangenen, sondern auch ihr Umfeld – mit dem Ziel, die Menschen zu brechen.
Sie haben nun mehrfach Ihre Tochter erwähnt. Wie haben Sie Ihre Beziehung in den letzten siebzehn Monaten gepflegt?
Als ich am 6. April 2016 verhaftet wurde, passierte dies vor der Schule meiner Tochter. Die Polizei hatte mich psychisch unter Druck gesetzt: Sie würden meine Tochter in ein Heim stecken, wenn ich nicht kollaboriere. Später im Gefängnis durfte ich meine Tochter nur mit Trennscheibe sehen – für drei Monate keine Umarmung, keine Nähe. Es war mir sehr wichtig, dass meine Tochter versteht, dass nicht ich sie verlassen habe, sondern dass die Polizei und die Schweizer Regierung uns getrennt haben. Auch hier habe ich für meine Rechte gekämpft, und schliesslich wurde ich nach Dielsdorf verlegt, wo ich meine Tochter ohne Trennscheibe sehen konnte (Anm. d. Red.: Das Gefängnis Dielsdorf ist auf die Unterbringung von Frauen spezialisiert, die bei Bedarf auch mit ihren Neugeborenen, Kleinkindern sowie weiblichen Jugendlichen aufgenommen werden können). Es war hart: Wenn meine Tochter zum Beispiel im Hort oder in der Schule etwas für mich gebastelt hatte, durfte sie es mir im Gefängnis aus Sicherheitsgründen nicht geben, sie musste alle Geschenke wieder mitnehmen. Auch Zeichnungen wurden zensuriert. Das hat mich so wütend gemacht! Ist es die Arbeit einer Justizbehörde, die Liebe zwischen Tochter und Mutter kaputt zu machen? Was ist das für ein krankes System?
Wie haben Sie die Angestellten im Gefängnis erlebt: Sind sie bloss Rädchen in diesem kranken System oder auch menschlich, empathisch?
Es gibt sicher beides. Manche sind wie Automaten und denken nicht über das System nach. Das finde ich schlimm. Wie kann man so passiv leben und diese Ungerechtigkeit mitmachen? Andere sind sehr aktiv und schikanieren dich. Dort leistete ich mehr Widerstand als in Begegnungen, wo jemand menschlich zu mir war. Zum Glück gab es das auch, leider zu wenig.
Sie üben viel Kritik an diesem System. Gab es auch Erfahrungen, wo Sie einen Rechtsstaat erlebten, der Sie unterstützte?
Ehrlich gesagt nicht. Alle schützen sich gegenseitig, so dass es keine Lücke gibt. Aber die Leute sollten sich positionieren müssen, auch zum Thema Folter. Man ist entweder dagegen oder dafür, es gibt keine Neutralität. Mit meinen Briefen und Beschwerden wollte ich erreichen, dass sich jede und jeder positioniert. Ich wollte nicht, dass jemand plötzlich sagt: Wir wussten von nichts. Also habe ich etwas gesagt, laut. Das sehe ich auch als meinen Kampf für die Zeit nach dem Gefängnis: Erzählen und sichtbar machen, was in Schweizer Gefängnissen passiert, damit die Menschen wissen, was los ist. Dann können sie selber entscheiden, ob sie die Augen davor verschliessen oder nicht.
Nekane Txapartegi, *1973, war Gemeinderätin im baskischen Dorf Asteasu, als sie 1999 von der Guardia Civil festgenommen wurde. Sie wurde in Polizeigewahrsam schwer gefoltert. Folter im Baskenland ist seit 1960 gut dokumentiert. Nach einem erzwungenen Geständnis wurde Nekane Txapartegi auf Kaution freigelassen. 2007 wurde sie in einem Massenprozess wegen «Unterstützung einer terroristischen Vereinigung» zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Sie tauchte unter. Seit einigen Jahren lebt sie mit ihrer Tochter in Zürich.
2016 wurde Nekane Txapartegi aufgrund eines spanischen Haftbefehls aus Spanien in Zürich in Auslieferungshaft genommen. Das Bundesamt für Justiz und das Bundesstrafgericht bewilligten ihre Auslieferung. Eine breite Bewegung, aber auch renommierte MenschenrechtsexpertInnen zeigten sich empört im Blick auf das Folterverbot, das die Verwendung von möglicherweise unter Folter erfolgten Aussagen verbietet sowie eine Untersuchung und Verurteilung von Folterern verlangt. Im September 2017 zog Spanien den Auslieferungsantrag zurück, weil ein Gericht auf Antrag von Txapartegis Anwälten die gegen sie verhängte und kürzlich reduzierte Strafe für verjährt erklärt hatte. Am 15. September 2017 kam sie frei.
*1987, studierte Religionswissenschaften und Gender Studies. Sie ist Fachjournalistin Religion und Mitglied der Neue Wege-Redaktion.