Neue Wege: Sie tun das Schlimmste, was ein Muslim seit 9/11 machen kann: In Ihrem neuen Buch Muslimaniac rufen Sie zum Dschihad auf. Bei Ihnen ist es ein Aufruf zum «Queer Dschihad». Was beabsichtigen Sie damit?
Ozan Zakariya Keskinkılıç: In den Debatten der Mehrheitsgesellschaft wird Dschihad fast ausschliesslich mit Terror, Gewalt und Brutalität in Verbindung gebracht. Das wird der spirituellen Bedeutung des Begriffs in keinster Weise gerecht. Unter muslimisch sozialisierten Menschen ist klar, was Dschihad bedeuten kann: zielgerichtete Bemühung und Anstrengung auf dem Weg Gottes, ein Ringen mit der Seele, auch sozialer Einsatz. Aber selbst unter vielen Muslim*innen ist es schwierig geworden, das Wort in spirituellen Zusammenhängen auszusprechen. Das religiöse Vokabular wird dämonisiert, man verliert die Definitionshoheit, auch weil es von Gewalttätern instrumentalisiert wird. Ich füge dem Begriff nun noch ein weiteres für manche umstrittenes Wort hinzu: «queer». Queerfeindlichkeit ist weiterhin eine Realität, auch in Deutschland oder in der Schweiz. Queere Menschen werden in den seltensten Fällen mitgedacht; wenn sie muslimisch sind, existieren sie in den Köpfen vieler gar nicht. Man kann sich queere Muslim*innen nicht vorstellen, weil der Diskurs sagt, dass der Islam queerfeindlich, homophob ist. Die Erfahrung queerer Muslim*innen wird systematisch unsichtbar gemacht.
Queer Dschihad ist eine emanzipatorische Botschaft: Queer und muslimisch zu sein stellt keinen Widerspruch dar. Aber es geht gleichzeitig um ein grösseres Anliegen, nämlich darum, die Diskriminierungserfahrungen von Menschen zusammenzudenken. Wenn ich über antimuslimischen Rassismus spreche, kann ich gleichzeitig über andere Formen von Diskriminierung und Unterdrückung sprechen, über Sexismus und Queerfeindlichkeit beispielsweise. Queer Dschihad ist ein Plädoyer zur Bildung von Solidaritäten, Allianzen, Banden: Jeder Mensch soll unabhängig von seiner sexuellen Orientierung oder religiösen Zugehörigkeit die Möglichkeit haben, sich selbst zu sein. «Queer Dschihad» kann provozieren, das ist gewollt.
Sie haben konkrete Subjekte vor Augen. Welchen Menschen möchten Sie Ihren Begriff «Queer Dschihad» zur Verfügung stellen?
Mir ist es wichtig, die Erfahrung von queeren Muslim*innen selbst ins Zentrum zu rücken. Wir existieren. Unser Leben ist keine Sünde. Ich lasse mich nicht vereinnahmen gegen den Rest der Muslime. Es gibt immer mehr Räume, in denen wir gemeinsam sein können, unserer Leidenschaft nachgehen und künstlerisch oder aktivistisch arbeiten. Wie zum Beispiel im Berliner Kollektiv Queer Arab Barty oder beim queeren Fastenbrechen im Noon Festival. Die Erfahrung von antimuslimischem Rassismus oder Queerfeindlichkeit muss uns nicht dazu zwingen, uns von unserer Religion zu verabschieden – aus Angst oder aufgrund schlechter Erfahrungen, wegen Stigmatisierung oder Schamgefühlen. Menschen, die an Schnittstellen leben, stehen oft unter Druck: Muss man sich entscheiden, muslimisch oder queer zu sein? Wo kann ich beides sein? Queer Dschihad ist die Gleichzeitigkeit der Widerstände. Wenn sonst gegen Queerfeindlichkeit vorgegangen wird, wird das Thema oft gegen Asylsuchende, gegen Migration, gegen Muslim*innen instrumentalisiert.
Den Begriff «Muslimaniac», den Sie schaffen, verstehen Sie als «eine jahrhundertealte Diagnose, die Muslim*innen zum Problem erfindet – sexuell, gesundheitlich, kulturell, religiös, politisch», sodass sie «misstrauisch beäugt und pathologisiert, mit Krankheit und Gefahr in Verbindung gebracht, herabgewürdigt und deklassiert» werden können. Weshalb steht in Ihrer Aufzählung zuerst «sexuell»?
Das Sexuelle ist ein Schlüsselelement im Politischen. Beide Kategorien verzahnen sich. Das sehen wir in Sicherheitsdebatten: Mit dem Argument, «unsere Frauen» vor «fremden» Männern zu schützen, wird gegen Einwanderung protestiert und Abschiebung verlangt. Muslimische Männer werden kollektiv zum Sündenbock. Dadurch werden «wir» entlastet und aus der Verantwortung für gesamtgesellschaftliche Probleme gezogen, und die Anderen werden diskriminiert. So wächst Hass und Misstrauen gegen Muslime. Gleichzeitig werden sie zu Projektionsflächen für eigene sexuelle Fantasien. Das tauchte bereits in der Geschichte des europäischen Orientalismus auf. Es entwickelte sich selbst eine Art Unterhaltungsindustrie um die Körper der Anderen. In Märchen, in der Malerei, den ethnografischen Fotografien und in Kolonialpostkarten wurde mit Haremsfantasien gespielt, mit Motiven der Entschleierung und der sexuellen Kontrolle nichtweisser Menschen. Der Topos der Barbarei und Bedrohlichkeit begleitet den der Exotik und Erotik. Dadurch kann zugleich das koloniale Projekt als Zivilisationsmassnahme legitimiert werden, um angeblich nichtweisse Frauen vor nichtweissen Männern zu schützen und die Anderen nach «unserem» Massstab zu entwickeln. Dabei ging mit der kolonialen Gewalt auch eine sexualisierte einher. Sexualität ist keine Randerscheinung im Kolonialdiskurs, sondern ein zentrales Motiv.
Welche Rolle spielt denn Homosexualität in der westlichen Auseinandersetzung mit dem Islam?
In zeitgenössischen Debatten werden Muslime beschuldigt, Homofeindlichkeit nach Deutschland zu «importieren». Sie stehen ihrer Herkunft nach unter Verdacht und sollen überprüft beziehungsweise abgewehrt werden. Im baden-württembergischen «Muslimtest» von 2006 mussten Einwanderer aus islamischen Ländern, die sich um die Einbürgerung bewarben, gegenüber den Behörden die Frage beantworten, was sie täten, wenn ihr Sohn sich outen und mit einem Mann zusammenleben wollen würde. Unter dem Schlagwort der «Leitkultur» wird so getan, als würde «unsere» gesamte Gesellschaft queerfreundliche Politik bejubeln. Hier gilt eine quasi natürliche Unschuldsvermutung. Während der Islam heute für Queerfeindlichkeit steht, war er historisch Sinnbild der Homosexualität. Daran kann man die instrumentelle Funktion der Debatte um Sexualität ablesen. Bereits in der Zeit der Kreuzzüge kam die Rede von der sexuellen Gefahr im «Orient» auf, wo Mohamed die «Sodomie» popularisiert hätte. Das rechtfertigte die militärische Bekämpfung, die «Missionierung» und «Zivilisierung» dieser Menschen und gleichzeitig die Stigmatisierung von gleichgeschlechtlicher Liebe in der eigenen, «abendländischen» Gesellschaft.
Sie zeigen auf, wie die orientalistische Rede vom Islam im Westen instrumentell verwendet wurde. Besteht nicht auch eine Gefahr darin, dass Ihr Diskurs von muslimischen Communitys ebenfalls instrumentell verwendet werden kann? Entlastet der Hinweis auf die (post-) kolonialen Herrschaftsmechanismen nicht von der Aufgabe der Selbstkritik?
Es geht mir um den grösseren Zusammenhang des kolonialen Eingriffs. Selbst vielen Muslim*innen ist das eigene historische Erbe nicht wirklich bewusst. Der Lernprozess muss auf allen Seiten geschehen: Wie ist es zur heutigen Situation gekommen? Über welche Vergangenheit wissen wir Bescheid, was wurde verdeckt? Der Kolonialismus spielte eine zentrale Rolle darin, dass ein offenerer Umgang mit Sexualität, mit Intimität, mit gleichgeschlechtlicher Liebe verschwunden ist. Heute heisst es schnell, der Islam sei für die Homofeindlichkeit verantwortlich und das Problem würde durch Migration importiert werden. Dabei wurde die Homofeindlichkeit im Zuge des Kolonialismus aus Europa exportiert, sogar in Form kolonialer Gesetzgebungen. Wenn also schon über Exund Import geredet wird, müsste eigentlich von einem Re-Import europäischer Queerfeindlichkeit gesprochen werden, die sich in anderen Ländern mit lokalen Diskursen vermengte und durch nationale Staatenbildung und entsprechende Kontrolle der Bevölkerung wirkmächtig wurde. Die eigene Geschichte wurde umgeschrieben unter dem Druck, eindeutig zu sein und europäischen Kategorien standzuhalten. Binäre Genderkategorien oder Konzepte von Homo- und Heterosexualität existierten in dieser Form in vielen Ländern gar nicht.
Wie kamen Sie dieser «eigenen Geschichte» auf die Spur?
In der Dichtkunst von Abu Nuwas (756– 814), Saadi Shirazi (1210–1292) oder Hafis (1315–1390) tauchte in frühen islamischen Gesellschaften das, was wir heute als «homosexuell» bezeichnen würden, oft als Topos auf. In vielen Gedichten erscheinen Liebe, Sexualität und Intimität zwischen Männern als kulturelle Gegebenheit. Das wird nicht tabuisiert, sondern künstlerisch verarbeitet und auch religiös artikuliert. Ich möchte an diese Geschichten erinnern, denn diese Dichter wurden aus dem Kanon entfernt beziehungsweise umgedeutet, auch von arabisch-muslimischen Eliten. Unter dem Einfluss der Debatten in Europa ging es plötzlich um Sünde, Schande, Abnormalität und Krankheit. Diese islamisierten Kopien europäischer Debatten überdeckten die eigene islamische Geschichte der «Ambiguität», wie es der Islamwissenschaftler Thomas Bauer nennt. Denn in frühislamischen Gesellschaften konnten oft mehrere Meinungen, auch Rechtsmeinungen, nebeneinander existieren. Es geht mir um eine Rückkehr zu einer gelebten Pluralität. Es liegt im Interesse von uns allen, sich mit Queerfeindlichkeit zu beschäftigen. Wir müssen uns alle im globalen historischen Geschehen verorten können. Sonst begreifen wir nicht, wie wir zu den Menschen geworden sind, die wir heute sind, und wie uns die Möglichkeiten geraubt werden, so zu sein, wie wir sein wollen. Mir geht es darum, die Dinge komplizierter zu machen.
Wie kann ich mir den Prozess Ihrer Wiederaneignung überdeckter religiöser Überlieferungen oder vergessener literarischer Traditionen ganz konkret vorstellen? Ist das eine individuelle Geschichte? Durchstöbern Sie Bibliotheken? Oder geschieht das in Kommunikation mit anderen?
Auf einem Flohmarkt stiess ich auf eine französische Übersetzung der «homoerotischen» Gedichte von Abu Nuwas (757–815), in einem Museum auf eine Illustration des Künstlers Mu’in Mussavir (ca. 1610/15–1893). Das Bild zeigt eine Szene aus dem persischen Literaturklassiker Haft Awrang von Jami (1414–1492) unter dem Titel Das Schicksal des launischen alten Mannes. Ein junger Mann empfiehlt auf einem Hausdach seinem älteren Geliebten, nach einem schöneren Geliebten Ausschau zu halten. Als jener sich dafür umdreht, stösst er ihn vom Dach. Die Botschaft: «Es gibt nur eine wahre Liebe. Wenn ich sie bin, warum schaust du dich nach anderen um?» Ich kannte dieses Bild und die ihr zugrunde liegende Geschichte nicht. Und ich frage mich, wie wir heute daran anknüpfen können. In Australien gibt es Omar Sakr und in den USA etwa Seema Yasmin, die über queeres Begehren dichten. Dass in Deutschland die Anthologie Araf –Un:::Sichtbar mit Gedichten von queeren Muslim*innen erscheint, wäre vor einigen Jahren noch nicht möglich gewesen.
Sie haben Ihre kulturelle und literarische Spurensuche beschrieben. Sie gehen aber auch auf eine religiöse Suche im engeren Sinn. Ist das nochmals herausfordernder?
Ich kann mich auf viele Menschen stützen, die dieses Feld bereits bearbeiten. Beispielsweise gibt es eine feministische Koranlektüre, wie sie Amina Wadud in Qur’an and Woman oder Lana Sirri in Einführung in islamische Feminismen diskutieren. Die antipatriarchale Lesart islamischer Quellen zeigt, dass die göttliche Botschaft nicht per se sexistisch oder homophob ist. Auch Ali Ghandour legt in seinem Buch Liebe, Sex und Allah dar, wie in der Tradition Ambiguität möglich war. Diese Stimmen stellen die Frage, woher der Drang nach Eindeutigkeit und religiöser Legitimierung für sexuelle Unterdrückung kommt. Mir geht es um Neugierde: Was gibt es noch an Möglichkeiten und an Wissenssträngen, um Religion, das Göttliche, das Spirituelle auch im Zusammenhang mit Begehren, Geschlecht und Sexualität besser zu verstehen?
Wo sehen Sie Schwierigkeiten auf diesem Weg?
Es gibt einen Druck auf queere Muslim*innen, sich zu outen. Wenn sie den herrschenden Performanzregeln nicht folgen, gibt es keinen Eingang in die Community. Ein Coming-out funktioniert aber nicht für jeden Menschen. Ich höre in letzter Zeit immer mehr von der Einladung zu einem «Coming-in», wie es die australisch-libanesische Psychologin Sekneh Hammoud-Beckett formuliert hat: Wir wollen und müssen uns nicht immer nach aussen zeigen. Wir können innerlich stolz sein, ohne diesen «Pride» gegen aussen aufführen zu müssen. Wir können Menschen, die uns etwas bedeuten, in unser Leben einlassen, sie einladen. So gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, Queerness zu verstehen, aber im öffentlichen Raum oft nur eine Lesart. Darin hat das Kopftuch beispielsweise keinen Platz. Wer «queer» sagt, kann sich eine queere Frau mit Kopftuch eigentlich gar nicht vorstellen. Aber muslimische Menschen mit Kopftuch, die sich als queer verstehen, lesbisch oder nonbinär sind, existieren. Es geht um eine Erweiterung des queeren Spektrums, der Vielfalt der Lebenspraxen: Wie ist es auch noch möglich zu leben? Warum soll ich mein Religiössein wegen meiner sexuellen Orientierung, wegen meines Begehrens ablegen? Ich stelle auch innerhalb von Gruppen, die sich selbst als progressiv, nicht religiös und atheistisch verstehen, ein Unbehagen im Umgang mit Muslim*innen fest. Hier haben wir es mit einer grösseren Baustelle zu tun: Wie viel Platz hat der Islam, wie viel Platz hat Religion im Queersein? Es geht in diesen Prozessen um Existenzielles, darum, dass Menschen sein können.
Wie kam es in Ihrer Biografie als Politikwissenschaftler dazu, dass Sie nicht mehr nur in wissenschaftlicher Sprache öffentlich reden, sondern auch andere Sprachen nutzen, die religiöse, die lyrische?
Ich habe mich wissenschaftlich mit antimuslimischem Rassismus und mit Orientalismus beschäftigt. Dabei habe ich Werkzeuge und eine Sprache an die Hand bekommen, um Phänomene historisch zu kontextualisieren und zu erklären. Ich konnte eine Distanz aufbauen, die schützt. Aber das kann dazu führen, sich von sich selbst zu distanzieren. Mit dem Objektivitäts- und Neutralitätsbegriff, wie er im wissenschaftlichen Setting immer wieder auftaucht, kann ich nicht viel anfangen. Wir sind alle irgendwo positioniert. Ich wollte mir in der Auseinandersetzung mit dem Rassismus und der Frage der Gegenwehr jetzt selber Raum geben, ich wollte das Persönliche zulassen.
Es ist schwer, in der deutschen Wissenschaftstradition «ich» zu sagen. Andere Menschen haben dies in ihren Büchern gemacht, der martiniquanische Vordenker der Postkolonialen Theorie Frantz Fanon etwa, der palästinensisch-US-amerikanische Literaturwissenschaftler Edward Said oder die afrodeutsche Wissenschaftlerin und Poetin May Ayim. Bei ihnen überlappen sich biografische, literarische, wissenschaftliche und politische Erkundungen, sie schöpfen aus verschiedenen Töpfen. Ich habe mich nach einem anderen Zugang auch zu mir selbst gesehnt, einer Sprache, die nicht künstlich und verhärtet ist. Der entscheidende Schritt war, Verletzlichkeit zuzulassen und die dicke Haut, die man sich im Laufe eines Lebens zugelegt hat, wieder aufzuweichen. Das Lyrische zieht sich durch mein ganzes Buch bis zum Höhepunkt des Kapitels «Poetischer Islam». Die Lyrik als Arbeitsfeld verspricht sehr viel, sie kann auch in das Wissenschaftliche intervenieren. Für mich persönlich war es eine grosse Freude, Gedichte in Literaturzeitschriften wie Glitter aus der Schweiz publizieren zu können, in denen ich Themen gleichzeitig spirituell-muslimisch und künstlerisch-literarisch bearbeiten kann.
Wenn Sie von sich selbst sprechen, geht es um alle Facetten des eigenen Seins, der eigenen Identitäten, der eigenen Erfahrungen. Ein Stück weit im Widerspruch dazu steht die Tatsache, dass in Ihrem Buch eine Dimension dominiert, vom Titel Muslimaniac bis zum letzten Satz, in dem Sie beschreiben, wer Sie sein möchten: «Jemand, der ohne Scham und ohne Angst muslimisch ist.» Was bedeutet es, dass Sie Ihre muslimische Identität ins Zentrum stellen?
Das ist sozusagen mein Coming-out. «I am Muslim and proud.» Muslim*innen entwickeln aufgrund der gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrem eigenen Sein Angst und Scham. Trauen wir uns zu sein, wer wir sind, auch religiös zu praktizieren und uns damit sichtbar zu machen? Das Wort «Muslim*in» löst in der Gesellschaft Allergien aus. Sogar bei denjenigen, die selbst muslimisch sind. Versuchen wir, unser Leben zu leben, unseren Leidenschaften nachzugehen und gleichzeitig muslimisch zu sein!
Aber tatsächlich: Das Problem ist, dass man auf das Muslimische reduziert wird. Die Menschen sehen in dir in erster Linie einen Muslim. Alles, was du tust und sagst, wird unter dieser Markierung gelesen und verstanden. Wenn ich auf eine Bühne gehe und als Politikwissenschaftler und Autor vorgestellt werde, wird mein Handeln nicht unbedingt unter dem wissenschaftlichen Aspekt bewertet. In all den Jahren werde ich als Repräsentant der muslimischen Minderheit wahrgenommen, der den Islam erklären sollte. Das ist ein Problem.
Und gleichzeitig wollen Sie ja muslimisch sein und sich nicht dafür nicht schämen müssen.
Ich will selbst bestimmen, wer ich bin und mich nicht einem Fremdbild unterwerfen. Ich bin links – wie kann es sein, dass mein Muslimischsein auch in diesen progressiven Kontexten immer wieder als Widerspruch wahrgenommen wird? Man ist unter Druck, sich für etwas entscheiden zu müssen. Es gibt Verratsvorwürfe. In jedem Raum, in den man als Muslim geht, steht man unter Verdacht und wird misstrauisch beäugt: Passt du in diesen Raum? Passt du in den queeren Raum? Passt du in den linken Raum? Passt du in den feministischen Raum? Passt du in den progressiv-ökologischen Raum? Passt du in den demokratischen, europäischen Raum? Wir passen nie – wie ein Puzzlestück, das falsch liegt. An jeder Ecke müsste noch rumgeschnippelt werden. Es ist ein Prozess der Emanzipation. Aber er steht immer wieder unter der Gefahr der Vereinsamung. Deshalb nehme ich diese Erfahrung zum Ausgangspunkt. An diesem Punkt verknoten sich bei mir verschiedene Fäden, verschiedene Erfahrungen, verschiedene Feindbilder, mit denen ich konfrontiert bin. Diesen Spuren will ich folgen. Es geht um muslimische Zugänge zum Leben, aber immer gleichzeitig auch um feministische, queere, um literarische, künstlerische. Aber am Anfang und am Ende ist immer diese Erfahrung, dass dein Muslimischsein eigentlich nicht sein darf. Das ist immer die Kategorie, die stört und wegmuss. Das will ich nicht zulassen. Wir können nicht im Namen von Demokratie und Freiheit andere Menschen diskriminieren. Deshalb beginne und ende ich selbstbewusst mit dem Muslimischsein. Aber gleichzeitig höre ich auch nicht damit auf. Ich bin mehr als das. Ich lerne Saxofon zu spielen, auch wenn mich niemand danach fragt. Und ich will mehr Lyrik.
Ozan Zakariya Keskinkılıç, *1989, ist Politikwissenschaftler, freier Autor und Lyriker. Er studierte in Wien und Berlin und lehrt und forscht an Berliner Hochschulen. Er ist Mitglied der Expert*innenkommission gegen antimuslimischen Rassismus im Land Berlin.
Ozan Zakariya Keskinkılıç: Muslimaniac. Die Karriere eines Feindbildes. Hamburg 2021.
*1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution SMRI.