Liegt Auschwitz doch in der Schweiz?

Erik Petry, 24. April 2023
Neue Wege 5.23

Das Motiv des «jüdischen Anderen» hält sich in der Schweiz hartnäckig. Schweizer Jüdinnen und Juden haben eine Geschichte als Fremde. Antisemitismus führt in der Schweiz bis heute eher selten zu physischer Gewalt, aber zu verbalen Angriffen.

Am 31.12.1996 druckte die Zeitung 24 heures ein Interview mit dem scheidenden Bundes­präsidenten Jean-Pascal Delamuraz ab, der sich darin zu den Diskussionen über die Flüchtlingspolitik und das Verhalten der Schweiz im Zweiten Weltkrieg äusserte. Vor allem ein Satz blieb in Erinnerung: «Parfois, en entendant certains, je me demande si Auschwitz est en Suisse.» In der medialen Öffentlichkeit wurde daraus schnell «Auschwitz liegt nicht in der Schweiz», ein Kernsatz, der den Blick auf den heutigen Antisemitismus in der Schweiz stark beeinflusst – und verstellt. Auschwitz steht in der Wahrnehmung Delamuraz’ als Begriff für die bewusste, umfassende industrielle Ermordung jüdischer Menschen einzig und allein aufgrund ihres Jüdischseins, das dazu noch von den Täter*innen definiert wurde. Wenn aber Antisemitismus nur dann als Antisemitismus erkannt und benannt wird, wenn er sich in gewalttätigen Angriffen bis hin zum Mord äussert, ist der Blick auf das Phänomen Antisemitismus und auf die Bedrohung durch Antisemitismus blockiert. In der Schweiz existierte und existiert bis heute keine Form eines Radau- oder Krawallantisemitismus, wie der Historiker Jacques Picard stets betont. Physische Übergriffe kommen im Vergleich zu anderen europäischen Ländern höchst selten vor. Aber heisst das, in der Schweiz sei Antisemitismus nicht virulent?

Um diese Frage zu beantworten, muss zunächst eine Definition für Antisemitismus gefunden werden → S. 5. In der Öffentlichkeit und im politischen Handeln ist dabei die 2016 erstellte Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA – ein Zusammenschluss von zurzeit 34 ­Staaten zur Bekämpfung des Antisemitismus und Stärkung der Holocaust-Education) wichtig, da sie von vielen Staaten als Grundlage übernommen wurde. Die Kerndefinition ­lautet: «Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.» In der Schweiz hat die IHRA-Definition den Status einer nicht rechtsverbindlichen Hilfe bei der Definition des Antisemitismus. ­Justiziabel ist in der Schweiz nur ein Verstoss gegen das «Anti-Rassismus-Gesetz», Paragraf 261bis des Strafgesetzbuchs. 2021 wurde die ­«Jerusalemer Erklärung» veröffentlicht, in der Wissenschaftler*innen, Kulturschaffende und «Teile der Zivilgesellschaft», wie es in der Erklärung heisst, eine weitere Definition erstellt haben, die sie bewusst gegen die IHRA-Definition stellen bzw. als Weiterentwicklung deklarieren. Die Kerndefinition lautet: «Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische).» Die Jerusalemer Deklaration enthält einen Abschnitt von Handlungen, Äusserungen und Analysen, die «per se» als nicht antisemitisch anzusehen seien. Zum Beispiel wird die Bewegung BDS (Boykott, Desinvestion, Sanktionen) explizit als legitime zivilgesellschaftliche Protestform bezeichnet, und der Vergleich der israelischen Politik mit Siedlerkolonialismus und Apartheid sei legitim und nicht per se antisemitisch. Dies hat in der Debatte zu berechtigten Abgrenzungsfragen geführt.

Lange zuvor habe ich eine eigene Definition kreiert, mit der ich bis heute Vorfälle besonders in der Schweiz anschaue und bewerte, ob sie als antisemitisch zu taxieren sind. Diese lautet wie folgt: Der Begriff «Antisemitismus» bezeichnet die als wahr angenommenen Stereotype und Vorurteile gegenüber jüdischen Menschen und der jüdischen Religion. Dies kann auf die Gesamtheit («Die Juden sind eben so») oder als Charakterisierung Einzelner verwendet werden («Er/sie tut dies, weil er/sie jüdisch ist»). Antisemitismus kann sich in Wort, Bild und Gesten äussern. Sehr häufig muss ein antisemitischer Zusammenhang nicht explizit ausgesprochen werden, weil auch die versteckten Codes von den Adressat*innen sofort verstanden werden. So wird der Name «Rothschild» synonym zu Geldbesitz und Geldgier gesehen. Die Kennzeichnung einer Person oder einer Handlung als jüdisch ist dabei grundsätzlich mit einer herabwürdigenden Absicht verbunden. Juden und Jüdinnen sind nach dieser Wahrnehmung die «Anderen» in einer Gesellschaft und nicht die Fremden, denn Fremde können zu Eigenen werden, den «Anderen» wird dies stets verweigert. Die «Anderen» müssen auch nicht zwangsläufig gerade erst angekommen sein, sie sind zumeist schon sehr lange da, aber sie bleiben «anders». Ihnen können alle die Dinge zugeschrieben werden, die in der Mehrheits­gesellschaft als nicht akzeptabel gelten, und das heisst, ihnen wird der vollständige Zutritt in die Gesellschaft verweigert.

Die «Überfremdung» und die «jüdischen Anderen»

Die Schweiz hat dabei einen ganz eigenen Zugang, denn seit Anfang des 20. Jahrhunderts existiert hier das Konzept der «Überfremdung». Ursprünglich eine Idee zur Bekämpfung der vielen nichtschweizerischen Bewohner*innen und Berufsleute in der Schweiz, vor allem aus Deutschland, Frankreich und Italien, die man zahlreicher einbürgern sollte, um sie so auf dem Papier und in der Gesinnung zu Schweizer*innen zu machen, wandelte sich Überfremdung bald zur Bezeichnung einer (vermeintlichen) Gefahr für die Gesellschaft der Schweiz durch die Einwanderung von Juden und ­Jüdinnen aus Osteuropa. Eine Anmerkung: Nach meiner Definition müsste der Begriff hierfür jetzt «Überanderung» heissen. Im Vergleich zu anderen Ländern war die Zahl der jüdischen Migrant*innen zwar stets gering, aber die Schweiz hatte eine lange Geschichte der diskriminierenden Behandlung ihrer jüdischen Bewohner*innen und den vor allem aus Frankreich in die Schweiz kommenden Juden und Jüdinnen, die hier zum Beispiel im Uhrenhandwerk tätig waren: Juden und Jüdinnen war es bis 1866, als die revidierte Bundesverfassung freie Niederlassung auch Juden zugestand, nur in den Surbtaler Dörfern Endingen und ­Lengnau gestattet, das Wohnrecht zu erwerben. Alle anderen Orte waren ihnen verboten.

Die Emanzipation der schweizerischen jüdischen Bevölkerung wurde erst 1874 komplett abgeschlossen. Es war ein langsamer, quälender Prozess, der nicht den Eindruck hinterliess, man nehme nun einen zur Gesellschaft gehören Teil in die Rechtsverhältnisse der Staatsbürgerschaft auf. Er wirkte wie von aussen erzwungen, den Zeitläuften geschuldet, denen man aber eigentlich nicht zustimmte. Den Begriff der Überfremdung gab es damals noch nicht, doch trifft er das Gefühl auch schon dieser Zeit, dass mit den Jüdinnen und Juden etwas Fremdes über die schweizerische Bevölkerung käme. «Überfremdung» ist der in ein negatives Konzept gegossene ­schweizerische Nationalismus und liess sich ohne ­grössere Schwierigkeiten auf Jüdinnen und Juden übertragen. Dies zeigt sich an vielen Fällen in den Akten der Einbürgerungsbehörden, wenn jüdische Personen versuchten, an ihrem Wohnort eingebürgert zu werden. Das Motiv des «jüdischen Anderen», der, egal wie stark er sich bemühe, nicht dazugehöre, hält sich hartnäckig.

Zwischen 1933 und 1945 brachte die Politik der Schweiz gegenüber jüdischen Flüchtenden längst vergessen scheinende Bilder wieder ins Bewusstsein: Die jüdische Gemeinschaft in der Schweiz war sich ihrer eigenen Position derart unsicher, weil sie diese als jederzeit reversibel empfand, sodass sie immer wieder in ein Verhalten zurückfiel, das eigentlich in die Vormoderne gehört: Sie versuchte, sich mit leitenden Personen in den Regierungen und Behörden (etwa bei der Fremdenpolizei und ihrem Leiter Heinrich Rothmund) gut zu stellen. So wollte man einen befürchteten Entzug der bürgerlichen Rechte, wie dies in Deutschland geschehen war, in der Schweiz verhindern. Das Vertrauen in die Schweizer Demokratie, wenn es um die eigene Situation ging, war gering.

Die Vorstellung der schweizerischen Mehrheitsgesellschaft vom Nichtdazugehören von Jüdinnen und Juden wird von einem Ereignis nach dem Zweiten Weltkrieg noch befördert, der Gründung des Staates Israel 1948. Bis heute hält sich die Vorstellung, Jüdinnen und Juden seien «automatisch» Staatsbürger*innen des Staates Israel. Selbst das ­Wissen um eine Schweizer Staatsbürgerschaft, den Dienst in der Schweizer Armee oder das Engagement in der Politik auf lokaler oder nationaler Ebene scheint diese Idee nicht zu schwächen. Gleichzeitig verbanden die ­Schweizer Jüdinnen und Juden mit der Nachkriegszeit und der Gründung ­Israels die Hoffnung, dass der Antisemitismus nun endgültig besiegt sei. Doch die Debatten um die «Nachrichtenlosen Vermögen» und um die Flüchtlingspolitik im Zuge der Forschungen der «Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – ­Zweiter Weltkrieg» liessen einen latenten Antisemi­tismus wieder manifest werden. Ein fast 90-jähriger Interview­partner machte in einem Oral-­History-Gespräch zur Geschichte der Jüdinnen und Juden in der Schweiz 2001 die Aussage: «Wir sind Schweizer, aber bleiben immer Fremde.»

Wahrnehmungen von Antisemitismus

Wie es sich mit dem Antisemitismus in der Schweiz in der Gegenwart verhält, kann in zwei Publikationen nachgelesen werden. Der jährlich erscheinende Antisemitismusbericht des «Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes» (SIG), der politischen Dach­organisation der jüdischen Gemeinden in der Schweiz, fasst die Vorfälle in der Deutschschweiz, im Tessin und in der rätoromanischen Schweiz zusammen. Für die Romandie gibt es einen eigenen Bericht, dessen Ergebnisse im SIG-­Bericht aber reflektiert werden. Es lässt sich feststellen, dass die Anzahl gemeldeter Vorfälle 2022 gegenüber dem Vorjahr leicht angestiegen ist – in der «realen Welt», aber vor allem auch im Internet, wo deutlich mehr Vorfälle zu beklagen sind. Die Bandbreite der gemeldeten Vorfälle reicht von allgemeinem Antisemitismus, Shoa-Leugnung, israelbezogenem Antisemitismus bis hin zu Antisemitismus in den Verschwörungstheorien. Tätliche Angriffe wurde nur einer gemeldet. Der jährliche Bericht ist wichtig, auch wenn das Meldesystems nicht umfassend ist, man also von einer zusätzlichen Dunkelziffer ausgehen muss. Aber der Kern eines schweizerischen Antisemitismus ist klar: Es geht nicht um körperliche Gewalt, sondern eher um verbale Entgleisungen und mehr oder minder versteckte Zurückweisung sowie Absprechen der Zugehörigkeit.

Das zeigt eine zweite Publikation noch deutlicher. Es handelt sich um eine repräsentative Umfrage des «Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention» der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) vom Juni 2020, geleitet von Dirk Baier. Thema sind «Erfahrungen und Wahrnehmungen von Antisemitismus unter ­Jüdinnen und Juden in der Schweiz». Damit kommt zur formal-­rechtlichen Komponente, wie sie §261bis abdeckt, die persönliche hinzu. Es geht weniger darum, was Antisemitismus ist, sondern wie Jüdinnen und Juden den Umgang mit ihnen empfinden. Jüdinnen und Juden sind auf der einen Seite in der Schweiz sehr gut integriert. Sie sind keinen rechtlichen Nachteilen ausgesetzt. Sie sind über die Definition «jüdisch» eine Minderheit, sehen sich aber als Teil der schweizerischen Gesellschaft. Auf der anderen Seite registrieren Jüdinnen und Juden seismografisch fein die Bewegungen und Erschütterungen in einer Gesellschaft, weil sie zu denen gehören, die die Folgen solcher Erschütterungen zu tragen haben. Die Untersuchung zeigt, dass mehr als die Hälfte der sich äussernden Schweizer Jüdinnen und Juden den Antisemitismus in der Schweiz als reales Problem wahrnehmen. Damit korrespondiert ein Gefühl der Unsicherheit, was sich darin niederschlägt, dass in den letzten Jahren die Sicherheitsvorkehrungen in jüdischen Einrichtungen massiv verstärkt wurden. Dies wiederum löste eine Debatte aus, wer für solche Vorkehrungen zu bezahlen habe. Der Staat könne, so die Kritiker*innen, doch nicht jeden Verein schützen. Die Gegenposition lautete, der Staat müsse selbstverständlich alle seine ­Staatsbürger*innen schützen. Keinesfalls dürfe man mit der aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs schon bekannten Idee kommen, «die Juden» sollten für ihren Schutz selbst bezahlen. Diese Haltung wurde schliesslich mehrheitsfähig.

In der ZHAW-Studie gaben bei der Frage nach erlebten konkreten Diskriminierungen in den drei zentralen Bereichen Bildungs­einrichtung, Arbeitsplatz und Wohnungssuche 16,2 Prozent der Personen an, so etwas erfahren zu haben. Wichtig dabei ist mit Blick auf den SIG-Antisemitismusbericht aber, dass zum Beispiel verbale Entgleisungen nur von knapp einem Viertel der Betroffenen gemeldet wurden. Um den Antisemitismus in der Schweiz einordnen zu können, ist es nun wichtig, dass sich kein eindeutiges Bild der ­Tatpersonen zeigt. Antisemitische Angriffe sind nicht einer bestimmten Gruppe oder gar einer festgefügten Organisation zuzuschreiben, sondern ­ziehen sich durch die ganze Gesellschaft.

Der Wunsch, Jüdinnen und Juden loszuwerden

Aus dem bisher Gesagten wird klar: Antisemitismus kommt in den verschiedensten, subtilsten Formen vor und wird von Jüdinnen und Juden auch so empfunden. Ein Beispiel aus dem universitären Bereich: An einem Abend im Januar 2021 bot ich eine Zoom-­Präsentation des Studienfaches «Jüdische Studien» im Rahmen des Bachelor-Informationstages der Universität Basel an. Der Link war über die Website der Universität Basel zugänglich. Zeitweise waren in meiner Wahrnehmung zwölf Personen im Meeting anwesend. Alle Teilnehmer*innen hatten Kamera und Mikrofon ausgeschaltet. Ich zeigte eine Kurzpräsentation, erläuterte das Fach und beantwortete ­Fragen. Drei Mal schaltete sich eine Person oder Gruppe dazu (mit den Tarnnamen «Tom», «Ba» und «Aron Rosenberg», soweit ich dies auf die Schnelle erkennen konnte) und zeigte über den eigenen Bildschirm Videos mit Szenen aus Nazi-Deutschland ­(Aufmärsche, SS-Paraden, Hitler-Reden), unterlegt mit Marschmusik oder Volksliedern dieser Zeit (zum Beispiel «Erika», ein in der NS-­Propaganda häufig verwendetes Lied). Dazu tauchte die Bildunterschrift «The Holocaust was a lie» auf. Ich sprach die Person jeweils nicht an, sondern schaltete jedes Mal umgehend ihren Ton aus, entfernte sie aus dem Meeting und setzte die Präsentation fort. Die zugeschalteten Schüler*innen zeigten sich vollkommen schockiert, war es für sie doch das erste Mal, dass sie Antisemitismus derart hautnah erlebten. Es war ein Antisemitismus, der sich gegen eine Institution richtet, die als jüdisch wahrgenommen wird. Dieses sogenannte «Zoom-Bombing» wurde erfolgreich zur Anzeige gebracht – immerhin.

In der Debatte über Antisemitismus in der Schweiz taucht schnell die Frage auf, ob es sich dabei nicht um eine Form des Rassismus handle, beziehungsweise ob Antisemitismus nicht Rassismus sei. Vor dem Hintergrund meiner eigenen Forschung würde ich dies klar verneinen. Antisemitismus ist nicht Rassismus und auch keine Unterform des Rassismus – was es nicht besser macht. Antisemitismus enthält mindestens zwei klar identifizierbare Komponenten, die ihn zu einem eigenen Phänomen machen, das für sich angeschaut, für sich analysiert und für sich bekämpft werden muss: Zunächst ist dem Antisemitismus das Absprechen einer Heimat für Jüdinnen und Juden eigen. Juden und Jüdinnen in der Schweiz werden nicht als Schweizer*innen betrachtet, egal, wie lange ihre Familien schon in der Schweiz leben, egal wie integriert sie sind, wobei «Integration» ein schwieriger Begriff ist. Juden und Jüdinnen werden aber auch nicht auf ein ­«Herkunftsland» reduziert, in das sie ja zurückgehen könnten. Die Wandelbarkeit des Antisemitismus zeigt sich auch daran, dass noch um 1900 in den antisemitischen Schriften «die Juden» ausgewiesen werden sollten, und zwar in den Orient, genauer nach Palästina. Heute wird den Juden und Jüdinnen von antisemitischen Vertreter*innen aber genau dies, nämlich das Leben im Staat Israel, abgesprochen. Dies wird oft als Antizionismus bezeichnet; dieser beinhaltet aber sehr häufig starke Elemente des Antisemitismus, der mit der vermeintlichen Kritik an einem Staat kaschiert wird. Dass dazu ein eigener Begriff kreiert wurde («Israel-­Kritik»), ist diskursanalytisch spannend, da in dieser Israel-Kritik die Ablehnung des Existenzrechts Israels mitschwingt. Im Grunde ist das latente Verweigern der Zugehörigkeit und das Verweigern eines eigenen Staates die komplette Persönlichkeitsnegierung.

Das spielt in den zweiten Punkt des Antisemitismus hinein: Dem Antisemitismus ist eine tatsächliche Vernichtungsfantasie inhärent. Wie deutlich wird, steht in der Schweiz, nach meiner Ansicht, der Begriff des exterminatorischen Antisemitismus weniger für das Ausführen einer physischen Vernichtung, aber für den Wunsch des «endgültigen Loswerdens». Juden und Jüdinnen würden nicht dazu gehören, würden das auch nicht erreichen, daher sollten sie eigentlich nicht in der Schweiz sein. Dies wird selten direkt geäussert, aber subtil scheint es durch. Oder plakativ ausgedrückt: Wenn die Mutter eines 12-jährigen jüdischen Mädchens in einer Berner Schule anruft und darum ­bittet, das Kind am höchsten jüdischen Feiertag, dem Jom Kippur, für einen Tag von der Schule freizustellen, und der Lehrer antwortet, das sei in Ordnung, er wolle aber noch sagen, dass er für Palästina sei – dann ist etwas in der Schweiz nicht in Ordnung. Dann wird der jüdischen Mutter signalisiert, dass sie eigentlich als ­Israelin wahrgenommen werde, nicht hierhergehöre, aber auch in Israel im Unrecht sei. Man will sie loswerden.

Hatte Bundespräsident Delamuraz recht? Liegt Auschwitz nicht in der Schweiz? Auch nicht im übertragenen Sinne? Er hat recht: Auschwitz liegt nicht in der Schweiz. Und er hat unrecht: Der Antisemitismus hat die Schweiz nie verlassen.●

  • Erik Petry,

    *1961, ist Historiker. Er ist Professor für «Neuere Allgemeine und Jüdische Geschichte» sowie stellvertretender Leiter des Zentrums für Jüdische Studien der Universität Basel.