Was kommt nach der FDP-Schweiz?

Matthias Hui, 9. September 2021
Neue Wege 9:21

Das politische Schwergewicht Ulrich Bremi ist in diesem Sommer im Alter von 91 Jahren gestorben. Er verkörperte geradezu die freisinnig-eidgenössische Erfolgsspur seit 1848. Bremi war gleichzeitig Mitglied des Nationalrats – und einmal dessen Präsident –, Oberstleutnant und Wirtschaftsführer. Der frühere SP-Präsident Peter Bodenmann hegt keinen Zweifel: «Die Stellung des Bremi-Freisinns war hegemonial.» Und er karikiert: Bremi habe sich seinerzeit am Morgen im Zug nach Bern mit engsten Vertrauten abgesprochen, sie «teilten dem Bundesrat mit, was dieser gefälligst zu tun habe, fuhren am Abend wieder zurück nach Zürich und berichteten dem Schweizer Kapital, was Bern halt so wolle».

Was Bodenmann allerdings verkannte: Bremi sah die Schweiz auch als Land der Solidarität. Er übernahm 1997 das Steuer der vom Bundesrat geplanten, schliesslich gescheiterten Solidaritätsstiftung. In einer Mischung von Grossmut und Aktion zur Rettung der eigenen Haut sollte sie das Bild der helvetischen Kriegsgewinnlerin korrigieren, was auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen um die nachrichtenlosen Vermögen dringend notwendig geworden war. Bremis Hauptkontrahent war Christoph Blocher, Leader der unverhohlenen Ego-Schweiz. 

Ulrich Bremi verstand «die intensive Teilnahme an einer Gemeinschaft» als «Grundqualität der Schweiz». In einem seiner letzten Interviews (Schweizer Monat, September 2013) kritisierte er die neuen Manager, «die keine Bereitschaft mehr zeigten, ihre Nase wunderfitzig in andere Welten zu stecken und ihre Talente in einen anderen als den eigenen Dienst zu stellen». Wie der Repräsentant des untergehenden schweizerischen politisch-wirtschaftlich-militärischen Komplexes diese Haltung lebte, erfuhr ich selber: Bremi lud den 19-jährigen Militärverweigerer, von dem er aus einem Brief vernahm, zu einem Gespräch in sein Büro ein. Er hörte aufmerksam zu, erteilte dem linken Christen ein paar väterlich-freisinnige Ratschläge und gab ihn für seine Gemeinschaft nicht verloren.

Doch die Schweiz von Ulrich Bremi geht unter. Economiesuisse schaffte es weder bei der Konzernverantwortungsinitiative noch beim CO2-Gesetz, die Volksmehrheit auf ihre Seite zu bringen, und steht auch bei der EU-Politik im Regen. Konturen einer neuen Schweiz lassen sich am feministischen Frauenstreik 2019 oder an der Fussballnationalmannschaft 2021 ablesen. Die Schweiz wurde zwar soeben zum wettbewerbsstärksten Land der Welt gekürt. (Das hätte Ulrich Bremi gefreut und gleichzeitig Lügen gestraft, gehörte er doch 1995 zu den Herausgebern des neoliberalen Weissbuchs Mut zum Aufbruch. Alarmistisch wurde davor gewarnt, dass die Schweiz ohne radikale Liberalisierungen und Deregulierungen im globalen Wettbewerb bald nicht mehr viel zu melden hätte.) Aber gleichzeitig ist in diesem Sommer offenkundig geworden: Das Land findet im Moment auf keine der grossen Fragen auch nur den Ansatz einer Antwort mehr, geschweige denn einer Vision. 

Dass dem so ist, verantwortet die FDP entscheidend mit. Verwurzelt in den Aufbrüchen des 19. Jahrhunderts, gefestigt in der Wirtschaftswunderkonkordanz der 1950er Jahre und nach dem Rausch der Thatcher-/Reagan-Ära («Mehr Freiheit – weniger Staat») ins Taumeln geraten, hat sie heute keinen Grund für Zukunft mehr. Jüngst wagte sie zwar ein Aufbrüchlein zu einer verantwortlicheren Klimapolitik; aber in der Abstimmungskampagne vermochte sie die eigenen Leute nicht zu überzeugen, was zu einem dramatischen Nein führte: Der Staat Schweiz zeigt keine politische Reaktion auf die Klimakatastrophe. In der Migrationspolitik gibt die FDP-Bundesrätin die Hardlinerin; bei der Ausgrenzung von geflüchteten Menschen wird deutlich, dass sich die FDP in den letzten 20 Jahren nie aus dem fremdenfeindlichen SVP-Schraubstock zu lösen wusste. Beim EU-Rahmenabkommen hat der dilettantisch agierende FDP-Aussenminister Mitte-Links-Allianzen torpediert; und die Partei hat keinen europapolitischen Kompass mehr, sondern setzt auf eine moralfreie Verbindung von nationalem Egoismus und globalem Freihandel.

Der Versuch von Petra Gössi, die Partei mit einer «enkeltauglichen» Politstrategie auf Kurs zu bringen, brachte weder Einheit noch Glaubwürdigkeit. Nun wählen die Delegierten der FDP Schweiz am 2. Oktober eine neue Präsidentin oder einen neuen Präsidenten. Allerdings ist die Zukunft der Partei keine Frage der Chefetage. Die Rolle der FDP – tonangebend, «staatstragend» und Wirtschaftseliten mit dem demokratischen Gemeinwesen verklammernd – wird auf der eidgenössischen Politbühne des 21. Jahrhunderts nicht mehr gebraucht. Zusatzrollen, die sie in der jüngeren Geschichte zusätzlich übernehmen wollte, spielen andere wie die SVP und die GLP nach Bedarf viel besser. So verliert die FDP – bald auch im Bundesrat – massiv an Macht.

Es gibt sie selbstverständlich auch in der helvetischen Gegenwart noch, die Spuren des grossen Liberalismus der Freiheit, der gleichen Chancen, der Menschenrechte. Es gibt einige Freisinnige, darunter sogar Ständeräte und Nationalrätinnen, die der Geschichte der Partei alle Ehre machen. Die auf andere Meinungen hören und sich nicht schämen, für Solidarität einzutreten. Auseinandersetzungen werden auch in der Schweiz zunehmen: um das Klima und die Gerechtigkeit, um Anerkennung oder Ausgrenzung von «Anderen», von Minderheiten, um schmerzliche und tödliche Ungleichheiten im Kapitalismus. In bestimmten Momenten wird es sehr darauf ankommen, ob das Fähnlein der liberalen Aufrechten im rechtsnationalen Sturm oder im unbeirrt marktgläubigen Sog ganz untergehen wird. Oder ob es an der Seite von vielen anderen Demokrat*innen und Verteidiger*innen der Menschenrechte flattert, von Klimastreikenden und der Frauenbewegung, von Gewerkschaften und der neuen, migrantischen Schweiz.●

  • Matthias Hui,

    *1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution SMRI.