NW Sie haben gemeinsam mit anderen zum Donnerstagsgebet aufgerufen. Was vermag diese spezifische Form gegenüber anderen Formen der Sensibilisierungsarbeit oder des Protests?
IG Es gibt die Dimension der Aktivität und die Dimension der Kontemplation. Beide Formen sind notwendig, um Dinge in Bewegung zu bringen. Es braucht Menschen, die hinstehen, Dinge verbalisieren und sich stark machen für etwas. Aber es braucht eben auch jene unsichtbare Kraft des Gebets. Das Gebet kann Menschen wiederum zur Aktivität anregen und neuen Schwung bringen. Ich erlebe viele Menschen, die dankbar für gerade diese Form sind und zu mir sagen: Jetzt kann auch ich etwas tun. Beten kann grundsätzlich jede und jeder.
NW Wie kam es denn zur Lancierung des Donnerstagsgebets?
IG Der erste Funke entstand letzten Herbst, als ich zwei Petitionen zum Unterschreiben im Briefkasten fand. Beide wollten eine Veränderung in der römisch-katholischen Kirche bewirken. Mein Weg als Benediktinerin ist es aber nicht in erster Linie, Petitionen zu unterschreiben. Kurz darauf war eine Gruppe Frauen aus einer Pfarrei hier für einen Tag unter dem Titel «Frauensache». Da habe ich einen ganz intensiven und dichten Moment erlebt, in dem eine grosse Ohnmacht von uns Frauen deutlich wurde. Es war spürbar: Wir lieben diese Kirche, und wir leiden mit ihr. Wir kamen auf die Friedensgebete der achtziger Jahre in der damaligen DDR zu sprechen. Diese Gebete haben später die Friedensdemonstrationen begleitet, und man staunte, wie friedlich schliesslich die Mauer fiel. Ein Politiker sagte: Wir haben mit allem gerechnet, aber nicht mit dem Gebet. Ein dritter Moment war dann die Vernissage des Buchs Ein weiter Weg zum Pilgerprojekt «Für eine Kirche mit den Frauen». Bischof Felix meinte in der Laudatio, dass es neben dem Projekt auch die Kontemplation brauche. Ich ging auf ihn zu und sagte: «Danke, jetzt weiss ich, was ich zu tun habe!» Er antwortete: «Aber gell, mach kein Deutschschweizer Projekt, mach es international!» So haben wir am 10. Februar, am Fest der heiligen Scholastika, der Schwester des heiligen Benedikt, das Donnerstagsgebet lanciert und es am Donnerstag darauf das erste Mal durchgeführt – und die Kirche war voll.
NW Zahlreiche Pfarreien und andere Klöster haben sich angeschlossen. Die Resonanz ist gross.
IG Genau, und das Gebet wurde auch schon in mehrere Sprachen übersetzt. Menschen werden aktiv. Das alleine ist schon eine Veränderung: handeln, statt sich täglich an den schlechten Neuigkeiten in der Kirche aufzureiben.
NW Rund um Frauen, Macht und Religion ist vieles in Bewegung. Wo sehen Sie Ihre Rolle darin?
IG Es ist hilfreich, mir immer wieder in Erinnerung zu rufen, dass ich Benediktinerin bin. Ich gehöre hierhin, und meine Hauptaufgabe ist hier. Im Zusammenhang mit dem kürzlich von Arte gezeigten Dokumentarfilm Gottes missbrauchte Dienerinnen, der zahlreiche Fälle von sexueller Gewalt von Priestern gegen Ordensfrauen aufdeckt, ist mir bewusst geworden, dass hinter diesen Machtmissbräuchen eine Struktur steht: Zwischen geweihten Priestern und Frauen besteht ein grundlegendes Machtgefälle. Sie haben eine andere Position als wir Frauen. Ich bin überzeugt: So lange sich das so verhält, kann sich die Kirche nicht erneuern und kommt nicht aus der Krise heraus. Diese Krise, in der die Kirche steckt, verlangt danach, dass wir fragen: Wie kommen wir hier wieder raus? Das Donnerstagsgebet ist eine Einladung, ein Weg, ein Versuch.
NW Gerade als Klostergemeinschaft betrifft Sie dieses Machtgefälle ja direkt: Um das Zentrum Ihres Tagesablaufes feiern zu können, sind Sie auf einen Priester angewiesen.
IG Genau, das ergibt eine Abhängigkeit. Wir Frauen sind enorm kreativ geworden, was die Wortgottesdienste betrifft, stossen aber immer wieder an die Grenzen, wenn es darum geht, Eucharistie zu feiern. Man kann schon sagen: Frauen, seid kreativ! Das sind wir schon längst. Jetzt sind mutige Äbte und Bischöfe gefragt, um das zu verändern. Die Rechnung geht sonst nicht auf: Als Katholikinnen und Katholiken sagen wir, dass die Eucharistie das Höchste ist, und gleichzeitig werden wir sie irgendwann nicht mehr feiern können, weil die Priester fehlen. Wenn uns als Kirche der Schatz der Sakramente wichtig ist, müssen wir sein Fortbestehen sichern.
Ich finde die Benediktsregel da inspirierend. In einem Kapitel über die Priester schreibt Benedikt: «Wenn der Abt einen Priester braucht, wählt er einen Bruder aus, der würdig ist, diesen Dienst zu erfüllen.» Wir können das für uns übersetzen und lesen: «Wenn eine Priorin für die Gemeinschaft eine Person braucht, die eine priesterliche Aufgabe erfüllt, dann wählt sie eine aus, die dazu fähig ist.» Als Kloster könnten wir experimentieren: So pflegt eine der Schwestern ihre betagten Mitschwestern. Sie wäre hervorragend geeignet, die Krankensalbung zu spenden. Eine andere ist in der geistlichen Begleitung tätig und könnte das Sakrament der Versöhnung spenden. Ich bin überzeugt: Die Krise überwinden wir nicht, indem Frauen in Messgewänder und Stolen schlüpfen und Männerämter übernehmen. Neuer Wein braucht neue Schläuche. Wir können nicht den Klerikalismus mit Frauen füllen, sondern müssen diese Chance nutzen und kreativ werden
NW Sie haben es erwähnt: Sie haben als Gemeinschaft den Film "Gottes missbrauchte Dienerinnen" angeschaut. Wo und wie sind wir als Kirche gefragt, solche Übergriffe zu verhindern?
IG Wir alle sind gefragt, uns selber zu prüfen, wie wir mit Macht umgehen und wo wir Grenzen überschreiten. Gerade als Priorin habe ich eine grosse Macht, die eine enorme Verantwortung bedeutet. Ich frage mich immer: Geht es um das Ganze oder um mich? In Bezug auf die sexuellen Übergriffe gibt es für die Kirche keinen Schritt zurück mehr. Niemand kann das mehr verharmlosen. Durch den Film ist das Thema auf dem Tisch und muss global behandelt werden.
NW Als benediktinisches Kloster ist das Zusammenleben Ihrer Gemeinschaft von klaren Hierarchien und Ämtern geprägt. Wie gehen Sie als Gemeinschaft heute damit um?
IG Benedikt spricht dem Abt, der Äbtissin oder Priorin eine grosse Macht und Verantwortung zu. Gleichzeitig werden die wichtigen Entscheidungen stets gemeinschaftlich und demokratisch getroffen. Macht steht in Wechselwirkung mit Gehorsam. Das traditionelle Verständnis von Gehorsam meint oft, schweigend Befehle entgegennehmen. Das ist mir auch im Zusammenhang mit dem Arte-Film bewusst geworden. Aber in «Gehorsam» steckt auch «horchen», «gemeinsam hinhören».●
○ Irene Gassmann, *1965, ist seit 2003 Priorin der Benediktinerinnen im Kloster Fahr.
gebet-am-donnerstag.ch
*1988, studierte literarisches Schreiben, Geschlechterforschung und Philosophie an der Kunsthochschule Bern und der Universität Basel. Sie ist Tanztherapeutin, schreibt freiberuflich und ist Co-Leitung der Neue Wege-Redaktion.