«Ermunterung, im Gegenwind zu bleiben»

Geneva Moser, Matthias Hui, 3. März 2023
Neue Wege 3.23

Dorothee Sölle beteiligte sich in den 1980er Jahren in der Friedensbewegung an Aktionen des zivilen Ungehorsams. Das ist angesichts der staatlichen Passivität gegenüber der Klimaka­tastrophe und der ökologischen Zerstörung höchst aktuell. Der Jesuit Jörg Alt und der Theologe Jürgen Manemann aus Deutschland diskutieren mit der Landschaftsschützerin Katharina von Steiger über die Notlage der Erde, Widerstand als christliche Praxis und Dorothee Sölle als Inspiration.

Während wir dieses Gespräch führen, wird das seit Monaten besetzte Dorf Lützerath in Nordrhein-Westfalen geräumt, damit der Konzern RWE dort im Tagebau Braunkohle abbauen kann. Wie blicken Sie auf die Ereignisse in Lützerath, Katharina von Steiger, Jörg Alt und Jürgen Manemann?

KvS Diese Geschehnisse beelenden mich. Dorothee Sölle, wenn sie noch leben würde, wäre bestimmt dort anzutreffen gewesen im Kampf gegen die fortgesetzte Zerstörung. Die wohl vor allem jungen Leute, die in Lützerath vertrieben worden sind, tun mir leid. Solche Niederlagen sind schlimm.

JA Ich kenne eine ganze Reihe von Leuten, die nach Lützerath gefahren sind. Ich war beteiligt an der Erklärung «Euer Herz lasse sich nicht verwirren!» (Joh 14,1) – Theolog*innen solidarisieren sich mit den Protesten gegen die Räumung. Ärgerlich ist ja nicht nur der Abriss dieser Gebäude, Anlass zum Ärger gibt die Kohle, die da drunterliegt, und vor allen Dingen das Märchen, wie positiv es sei, dass als Kompensation der Kohleausstieg bis 2030 vorgezogen würde. Was eben nicht gesagt wird: Bis 2030 wird so viel Kohle verfeuert, wie bis 2038 geplant gewesen wäre, und die RWE plant eine Reserve von weiteren fünfzig Millionen Tonnen Kohle ein. All dies geschieht auf dem Hinter­grund von Studien, wonach es eigentlich die Kohle gar nicht mehr bräuchte, weil es genügend Alternativen gäbe, wenn diese genauso entschieden ausgebaut würden, wie man jetzt die Rechte dieses Konzerns durchzusetzen versucht. Ich empfinde eine völlige Schieflage in der politischen Verantwortung: Die Forschung leistet ihren Teil zur Transformation, die Aktivist*innen leisten ihren Teil, den Konzernen aber kommt es auf ihren Profit an, und die Politik hört auf die Konzerne. Das ärgert mich wahnsinnig. In den aktuellen Auseinandersetzungen mit der Polizei gibt es sicher Schuld auf beiden Seiten, aber die eigentlichen Schuldigen für mich befinden sich in den Konzernen und in der Politik.

JM Das Ganze ist ein Desaster. Lützerath, dieser kleine Ort, ist zum Symbol für den Kampf um das Leben geworden. Und dabei geht es nicht nur um Kohle. Im Namen von Profit wurde auch das Gedächtnis ganzer Generationen ausgelöscht. Lützerath offenbarte nochmals die Ungleichheit der Machtverhältnisse: die Macht von RWE in Zusammenarbeit mit der Polizeimacht auf der einen und die Ohnmacht der Klimagerechtigkeitsbewegung auf der anderen Seite. Wie sollen wir damit umgehen? Wir sollten uns, um ein Wort von Adorno aufzugreifen, von der Macht der Anderen und der eigenen Ohnmacht nicht dumm machen lassen. Unsere Aufgabe ist es, den Ort des Scheiterns neu zu besetzen. Ich war nicht in Lützerath, habe aber bei spontanen Demonstrationen für den Erhalt von Lützerath in Hannover erlebt, wie plötzlich ein neues Miteinander der verschiedenen Klimagruppierungen entstanden ist. Lützerath – dieser Name ist zum Symbol einer neuen Verbundenheit avanciert.

Katharina von Steiger, Sie setzen sich seit Jahrzehnten gegen Staudammprojekte in der Grimselregion im Berner Oberland ein. Sehen Sie Zusammenhänge zwischen dieser grossen Widerstandsbewegung in Lützerath und dem, was Sie im Berner Oberland erleben?

KvS 1986 ist ein grosses Pumpspeicherprojekt an der Grimsel bekannt geworden. Wir haben Widerstand dagegen geleistet wegen der massiven Zerstörung der Umwelt und weil wir nicht wollten, dass damit Atom- und Kohlestrom «veredelt» werden soll. Wir haben das schlimme Projekt «Grimsel West» verzögern, aufschieben und verhindern können. Aktuell ist eine Erhöhung der bestehenden Mauern, trotz Biotop- und Moorschutz, geplant. Im selben Gebiet ist als Neubau eine weitere Staumauer von 170 Metern Höhe geplant in einem bisher praktisch unberührten Gebiet. Wir wehren uns gegen diesen Ausbau vor allem aus Umwelt- und Naturschutzgründen. Wir fürchten, dass unter dem Titel «Klimaschutz» der Landschafts- und Artenschutz untergeht. Deshalb ist es sehr wünschenswert, dass sich die verschiedenen Gruppierungen der Klima­bewegung zusammentun und eine stärkere Kraft werden. Ich würde mir sehr wünschen, dass das, was wir auf der Erde noch zu schützen haben – es geht eben nicht allein um das Klima und um die Luft – nicht aus den Augen verloren wird. Wir fühlen uns zurzeit ziemlich alleingelassen, weil unter dem Eindruck der drohenden Klimakatastrophe viele Bestrebungen, Landschaft und Gewässer zu schützen, überrollt werden. In der Schweiz ist eine richtige Ausbauschlacht von Wasserkraftwerken und Solargrossanlagen in den Alpen im Gang. Es gäbe durchaus verträg­liche Alternativen. Einen Zusammenhang mit Lützerath sehe ich darin, dass die Wirtschaft und die Politik weitermachen, als hätten wir einen zweiten Planeten. Die Zerstörung geht weiter. Dabei geht es nicht um den Ersatz von Atomkraft durch Wasserkraft, wie man lange Jahre behauptet hat.

In einem Beitrag der Wochenzeitung WOZ sagten Sie einmal: «Die Landschaft hat nicht erst einen Wert, wenn ein Mensch sie sieht.» Worin liegt für Sie persönlich der Wert der Natur?

KvS Die Kraftwerksgesellschaft sagte, ein bestimmter Gewässerabschnitt, ein völlig intaktes Gletscherbachsystem, sei ja vom Wanderweg aus nicht sichtbar, und deshalb spiele es keine Rolle, wenn kein Wasser mehr fliesse. Ich fand das empörend – als hätte dieser Bach nur einen Wert dadurch, dass man ihn sieht. Ein Bach und eine Landschaft haben einen Wert an sich, ob es uns gibt oder nicht, ob wir hinsehen oder nicht. Es gibt ja diesen schlimmen Ausdruck «eine Landschaft in Wert setzen» – als hätte sie das nötig.
Mein eigener Bezug: Ich lebe in dieser Gegend inmitten von Bergen, wo die Erfahrung von Landschaften eine sehr unmittelbare ist und oft keine sprachlich gefasste. Es ist nicht einfach «schön» oder «idyllisch». Landschaft und Natur sind manchmal sehr grob und auch zerstörerisch. Die Leute, die mit ihr leben, gehen nicht nur zart mit ihr um, sondern oft auch entschlossen und machen sie sich zunutze. Früher geschah die Arbeit in massvoller und nachhaltiger Weise: Man rodete im Bewusstsein, dass das nachwuchs. Damit bin ich aufgewachsen: Ich bin drin und beteiligt. Es ist nicht so, dass ich hier wäre, und da drüben wäre die Natur. Ausserdem ging ich und gehe ich sehr oft in die Berge klettern, wandern, alles Mögliche.

Sie haben im selben Zeitungsbeitrag Dorothee Sölle als Inspirationsquelle für ihr Engagement genannt. Das überrascht. Was ist Ihr Bezug zur Theologin?

KvS Als junge Frau habe ich mich sehr für grundsätzliche, philosophische und Religionsfragen interessiert. Auf Dorothee Sölle bin ich im selben Zeitraum gestossen, in dem der Club of Rome Die Grenzen des Wachstums publiziert hat. Ich habe das alles sehr intensiv in mir aufgenommen, später dann auch die Befreiungstheologie und soziale Bewegungen. Es waren stärker gesellschaftspolitische als Umweltbewegungen, die mich beschäftigten, aber für mich war das immer eins: Einsatz für die Schwächeren. Bei Dorothee Sölle habe ich eine unwahrscheinliche Ermunterung erfahren, im Gegenwind zu bleiben und nicht einzuknicken, wenn die Mehrheit anders denkt. Ich habe zwischendurch länger nichts von ihr gelesen, merke dann aber zu meiner eigenen Verwunderung, dass ich mich auf sie beziehe, wenn ich gefragt werde: Wieso machst du das seit fünfzig Jahren? Man kann nicht einfach verstummen, man muss Unrecht benennen und sich wehren.

In der Biografie von Dorothee Sölle gibt es diesen roten Faden von zivilem Unge­horsam. Sie beteiligte sich in den 1980er Jahren an Sitzblockaden vor dem Nato-­Mittelstreckenraketendepot in Mutlangen oder vor dem Giftgaslager in Waldfischbach. Für sie waren diese Auseinandersetzungen mit solchen Methoden gewaltfreier Illegalität, wie sie das nannte, mit Verhaftung und Kriminalisierung auch, ganz wichtig. Sie war unter anderem inspiriert von linken katholischen Pazifist*innen in den USA wie den Gebrüder Berrigan. Sie, Jörg Alt, beteiligen sich heute an Aktionen der Klimaaktivist*innen der «Letzten Generation», beispielsweise indem Sie sich bei medial sehr sichtbaren Strassenblockaden an die Fahrbahn festkleben.

JA Wenn man mir vor fünfzehn Monaten gesagt hätte, was ich alles machen werde, dann hätte ich gelacht. Natürlich war ich seit vierzig Jahren in Sachen sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Nachhaltigkeit unterwegs. Aber was Kipppunkte sind, habe ich erst durch die Bewegung Fridays for Future richtig verstanden. Durch den Kontakt mit diesen jungen Leuten wurde mir klar, wie ernst die Lage ist. Und durch den Hungerstreik von Henning Jeschke und sechs anderen Personen der «Letzten Generation» ist mir nochmals klar geworden, wie gross die Sorge der jungen Generation ist vor dem, was da kommt. Das war der Punkt, an dem ich sagte, dass wir als Ordensleute nicht zurückstehen können. Ich hatte zuvor schon Kampagnen gemacht für Stan Swamy, meinen Mitbruder, der noch mit neunzig Jahren in Indien für die Rechte der Indigenen eintrat, ins Gefängnis kam und dort an Corona starb. Es war mir klar, dass es auch im Jesuitenorden ­solche Leute gibt, aber bis zum Hungerstreik der «Letzten Generation» war mir nicht bewusst gewesen, dass wir in Europa auch in einer Situation sind, wo diese Form des Protests angemessen, nötig und alternativlos sein kann. Das war der Lernprozess, den ich durchlaufen habe. Ich hatte zwar Daniel ­Berrigan, auch er Jesuit, zu seinem 80. Geburtstag getroffen, und er hatte mir ein Buch von sich geschenkt. Aber richtig gelesen habe ich das erst, nachdem ich meine ersten Straftaten begangen habe. Ich habe, wie man eben so schön sagt, eine nachholende Entwicklung durchlaufen. Das Verfahren wegen Klauens von Lebensmitteln ist mittlerweile eingestellt, eines wegen Schwarzfahrens und eines wegen zweimal Stras­senblockade mit Festkleben und Nötigung laufen noch, und dazu kommt die Selbstanzeige wegen Unterstützung einer mutmasslich kriminellen Vereinigung und des Werbens von Mitgliedern. Auch dieses Verfahren läuft noch.

Sie leisten Ihren Widerstand explizit als Ordensmann, als religiöse Person. Was löst das aus?

JA Das polarisiert. Meine ganze Beziehung zur politischen Welt hat sich dadurch verändert. Wenn ich Leuten schreibe, bekomme ich keine Antwort mehr, weil ich mittlerweile in einen Topf von «Klimaterrorist*innen» und «Öko­faschist*innen» geworfen werde von Leuten, die sich mit solchen abwertenden Äusserungen vor den Forderungen schützen. In der ­Kirche selbst polarisieren die Aktionen genauso, ich bekomme hässlichste Rückmeldungen von Rechtskatholik*innen. Ich kriege wenig Unterstützung von Kirchenverantwortlichen. Zu den Einzigen, die mich in der Kirche wirklich unterstützen, zählt mein eigener Orden. Auch da ist das, was ich tue, natürlich nicht unumstritten. Aber ich stelle fest, dass in dem Masse, in dem ich nicht lockerlasse und gut kommuniziere, im Jesuitenorden das Bewusstsein wächst, dass dieser Widerstand tatsächlich gut begründet und vielleicht sogar alternativlos sein könnte. Es gibt mittlerweile auch andere Jesuiten, die sich an Aktionen beteiligt haben. Dass sich einige zu alt für solche Aktionen fühlen, stimmt mit der Realität nicht überein. Bei der Nürnberger Strassenblockade, an der ich teilnahm, waren die zwei ältesten Beteiligten über 70 Jahre alt und Joe, der mit mir in ­­München in der Zelle sass, ist 91.

Sie haben am Anfang die Dringlichkeit des Handelns beschrieben. Das klingt nach einer Angst – Angst um die Zukunft dieses Planeten. Wie gehen Sie mit dieser Angst um?

JA Die Eco-Anxiety, die vor allen Dingen unter jungen Menschen um sich greift und anderen sensiblen und intelligenten Leuten, die merken, worauf wir zusteuern, ist gut, denn die Psychologie sagt: Wer unter den gegebenen Umständen keine Angst empfindet, ist gestört. Das betrifft auch mich als Seelsorger, weshalb es auch wichtig ist, dass sich Leute aus der ­Kirche mit einem soliden spirituellen Fundament an diesen Aktionen beteiligen. Ich möchte dabei Dorothee Sölle anführen, wonach wir bei bestimmten Krisen nicht auf den Deus ex Machina warten sollen, der die Dinge für uns richtet, sondern dass Gott eben über unsere Hände, Herzen, Münder und Füsse die Welt verändert und transformiert. Das gibt auf der einen Seite unserem Engagement die Ernsthaftigkeit, und auf der anderen Seite betont das, dass wir nie alleine sind, auch wenn es so aussieht. Gott arbeitet uns von der anderen Seite zu und ist mit uns auf dem Weg. Insofern bin ich trotz aller empirischen apokalyptischen Visionen, die zunehmen und auch von uns erfahren werden, zuversichtlich, dass wir tatsächlich eine bessere Welt für alle absichern und die Kurve noch kriegen können. Vor kurzem wurde mir auf einem Vortrag gesagt, ich sei ein guter Apokalyptiker, der sich nicht da­rauf beschränkt, nur den Weltuntergang herbeizureden, sondern immer auch noch einen Ausweg aufzeigt. Aufgrund der Tatsache, dass ich an einen liebenden Gott mit einer sehr guten Schöpfung glaube, denke ich wirklich, dass wir das noch schaffen können. Aber nur deswegen, denn die Wissenschaft sagt eindeutig, dass wir schon Alarmstufe Rot haben.

Jürgen Manemann, Sie haben kürzlich einen Appell an die katholischen Bischöfe in Deutschland mitinitiiert, in dem Sie diese auffordern, sich angesichts des fossilen Irrwegs für eine radikale Wende in der Klimapolitik einzusetzen. Ziviler Ungehorsam sei bis in die Gegenwart hinein Bestandteil christlicher Praxis und werde immer wieder neu inspiriert durch die Erinnerung an Propheten und an Jesus, heisst es im Appell. Als Beispiel wird auch das Kirchenasyl genannt. Die sich rasch entwickelnde Notlage in der Klimakata­strophe fordere zum Handeln heraus. Es könne keine Theologie betrieben, keine Kirche gelebt werden, die diese Notlage der Erde nicht als ihre zentrale Herausforderung begreife. Woher die Hoffnung, dass Bischöfe auf einen solchen Aufruf einsteigen und Christ*innen zuhauf zivilen Widerstand üben?

JM Wir müssen alle Möglichkeiten nutzen, die wir haben, um Menschen für die dramatische Situation zu sensibilisieren. Ein solcher Appell will ansprechen, anrühren, ermutigen, sich einzubringen. Und wer weiss, vielleicht löst er ja bei einigen Bischöfen und Theolog*innen, die bislang katastrophenblind sind, etwas aus.

Sie, Frau von Steiger, haben vollkommen recht: Wir dürfen nicht nur über die ­klimatische Katastrophe reden. Wir müssen auch über die ökologische Katastrophe sprechen, die, wissen­schaftlich gesehen, sogar die grössere Kata­strophe ist. Vergessen wir nicht das Leid der nichtmenschlichen Kreaturen! Die Situation, in der wir leben, ist schlicht und einfach unerträglich. Sie fordert zum Widerstand heraus. Es gibt viele Formen zu widerstehen, etwa Aktionen des zivilen Ungehorsams. Wer sich an solchen Aktionen nicht beteiligen kann, könnte zumindest – das war auch der Sinn dieses Appells – Solidarität zeigen, um so ein Zeichen gegen die Kriminalisierung von Aktivist*innen zu setzen. Der Schöpfungsauftrag besteht schliesslich darin, wie der Exeget Erich Zenger deutlich gemacht hat, mit Gott um das Leben zu kämpfen. Wie können wir denn noch in den Spiegel schauen? Dorothee Sölle hat in Mystik und Widerstand darauf aufmerksam gemacht, dass es allein schon um der eigenen Würde willen notwendig sei, zu widerstehen.

Widerstehen um der eigenen Würde willen, um sich selber, den Mitmenschen rundherum, der Welt rundherum, in die Augen schauen zu können – ist das auch Motivation für Sie, Katharina von Steiger und Jörg Alt?

KvS Für mich ist das etwas sehr Wesentliches. Ich sehe keine Alternative zum Widerstand und zum Benennen von Unrecht. Es höhlt einen buchstäblich aus, wenn man sich nicht äussert, man erodiert innerlich, es bleibt nichts übrig, wenn man immer so lebt, wie man eigentlich gar nicht möchte, und die Stimme nicht erhebt. Bei den Wasserkraftprojekten im Grimsel­gebiet müssen wir realistischerweise fürchten, dass wir zu schwach sind, um sie verhindern zu können. Gleichwohl bleibt es entscheidend wichtig, dass wir laut protestieren. Da geht es mir schon um etwas – ich weiss nicht, ob ich das Würde nennen kann, aber auf jeden Fall um Integrität, Ganzheit, Stimmigkeit.

JA Mit einer meiner grossen Inspirationsquellen, Henning Jeschke, spreche ich auch oft darüber, ob die Aggression und der Hass, den wir ja auch erzeugen mit unseren Aktionen, das alles wert ist. Henning hat dann den Spruch drauf: «Wir sind nicht hier, um geliebt zu werden, sondern um das zu tun, was richtig ist, was sonst niemand tut und was jetzt getan werden muss.» Die Frage, ob ich mir im Spiegel ins Gesicht gucken kann, begleitet mich schon das ganze Leben, aber sie bekommt in dieser Situation noch mal eine ganz andere Bedeutung.

Jürgen Manemann: Sie sprechen in diesem Zusammenhang immer mal wieder von der Relevanz von Mitleid, von Leidensfähigkeit als Motor für christliche Ethik beziehungsweise für die «Lebensform Christentum» oder die «Lebensform Kirche», wie Sie das nennen. Wie führt diese Haltung, Würde zu behalten und leidensfähig zu bleiben, nicht in eine Vereinzelung, in der jeder und jede für sich selber einen Weg suchen muss, sondern in ein kollektives Wir, ein demokratisches Wir?

JM Das hängt von dem ab, was mich antreibt. Für mich ist in den letzten Jahren das Wort «Ehrfurcht vor dem Leben» von Albert Schweitzer immer wichtiger geworden. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir über die Ehrfurcht vor dem Leben tiefer nachdenken müssen. Schweitzer hat recht, wenn er unterstellt, dass jeder Mensch die Erfahrung der Ehrfurcht vor dem Leben macht. Das geschieht in Erschliessungsereignissen. Das Problem ist allerdings, dass wir in kapitalistisch geprägten Gesellschaften aufgewachsen sind, die uns viele Möglichkeiten an die Hand geben, diese Erfahrungen zu neutralisieren oder sie zumindest an den Rand zu drängen. Wir fürchten ihre Wirkung. Dabei sollten wir den Mut aufbringen, die Ehrfurcht vor dem Leben zu unserer Grundhaltung zu machen. Dann wird unser Leben von dem Prinzip geleitet, dass es gut ist, Leben zu erhalten und zu fördern; dass es schlecht ist, es zu vernichten. Die Ehrfurcht vor dem Leben öffnet mich für die Erkenntnis: «Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will» (A. Schweitzer). Das nötigt uns zur Radikalität. Ich teile Dorothee Sölles Einsicht, dass das Widerstehen mit einem Staunen beginnt. Ehrfurcht vor dem Leben erweckt erst mal ein Staunen. Auf das Staunen folgt dann Sölle zufolge ein Seinlassen und Loslassen. So entsteht Raum für andere und anderes – und für Widerständigkeit. Widerstehen heisst aber nicht, bloss etwas aufzuhalten. Widerstand will mehr sein als Aufhalten. Widerstehen heisst für Sölle mitschöpferisch leben. Das verhindert Vereinzelung.

Diese Kategorien, die jetzt im Gespräch sind, Würde, mir selber im Spiegel entgegenschauen können, dieses Staunen – wie Sölle sagt, ist Staunen oder Verwunderung eine Art, Gott zu loben –, diese Mitleidens­fähigkeit, das sind alles Kategorien, die in kapitalistischen Besitzverhältnissen, wie wir sie haben, keinen Wert haben. Sie kommen eigentlich nicht vor, sie sind nicht quantifizierbar. Wir sehen das in Lützerath und am Triftsee im Grimselgebiet: Ganz oft scheitern wir an Besitzverhältnissen. Was hilft da, und was kann uns da eine Analyse des Kapitalismus helfen?

KvS So lange Zeit aushalten – ich bin seit 1986 dran und auch angefeindet – kann ich dank Freundschaften mit ähnlich Gesinnten oder mit Menschen, die sich anderswo einsetzen. Das ergibt ein tragfähiges Geflecht, eine Gemeinschaft. Wir sind uns einig darin, dass das kapitalistische System keine Lösungen anbieten kann, nur schon wegen des Wachstumszwangs.

Jörg Alt, Sie sind in verschiedenen Vernetzungen enorm aktiv. Hat das Staunen als tragender Grund da noch seinen Platz? Kommen Sie zur Ruhe, um das Staunen über die Schöpfung auch als eigentliche Triebfeder des politischen Widerstands wahrnehmen zu können?

JA Ich möchte die vorige Frage nochmals beantworten: Was kommt im Neoliberalismus nicht vor? Ich stelle Menschen die Frage: Was macht euch glücklich? Was ist euch im Leben wichtig? Dann kommen Begriffe wie Familie, Freund*innen, Natur, Sicherheit, Gesundheit, öffentliche Güter, öffentliche Dienstleistungen – alles Dinge, die man nicht kaufen und besitzen und wegsperren kann. Die Menschen wissen doch, was sie wollen, und sie tun doch das Falsche; hört doch in euch hinein, was euch wichtig ist, und handelt danach. Wenn man kapiert hat, was einen wirklich glücklich und zufrieden macht, weiss man, dass das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das wir haben, genau diese Dinge nicht leistet. Das «There is no alternative» des Neoliberalismus ist Quatsch, denn es gibt ja unzählige Wirtschaftstheorien, die nicht mehr auf Wachstum aufbauen und sich innerhalb der planetaren Grenzen bewegen. Der Dreh- und Angelpunkt ist, dass Menschen kapieren, wie sie eigentlich wirklich glücklich und zufrieden leben wollen und sich nicht mehr nach Strich und Faden manipulieren lassen.

Hier hat vielleicht ein Ordensmann mit ­seinem zeichenhaften Leben eine Rolle. Wenn ich den ganzen Tag mit einer Leichenbittermiene durch die Gegend gehe, nimmt man mir das alles nicht ab. Ich bemühe mich darum und versuche möglichst viele Auszeiten zu haben, für das Gebet und die Meditation, aber vor allem in der Natur.

JM Neues ist möglich. Wir dürfen aber das Neue nicht im Modus des Herstellens begreifen. Dann würde alles falsch werden. Das Neue durchbricht unseren Machbarkeitswahn. Wir können es nicht herstellen. Es kann sich nur einstellen. Solange wir das nicht verstehen, werden wir die extraktivistischen Strukturen nicht auf Neues hin überschreiten. Und hier kommt die Mystik ins Spiel, das Moment des Sichzurücknehmens. Sie schützt mich davor, «die Melodie der Herren dieser Welt zu spielen», so würde es wohl Dorothee Sölle formulieren.

Im Blick auf Aktionen des zivilen Ungehorsams rät Sölle uns dringend, Erfolg nicht zum Kriterium des Gelingens unserer Aktion zu machen. Ich stimme Sölle zu und würde einen zivilen Ungehorsam ablehnen, der sich einbildete, diese gewaltige Maschine des Kapitalismus lahmlegen zu können. Das kann ziviler Ungehorsam nicht leisten. Dazu benötigen wir andere Praktiken. Das einzusehen fällt nicht leicht, weil uns die Zeit wegläuft. Wenn wir aber Erfolg zu unserem Kriterium machen, dann entspiritualisieren wir unseren Widerstand. Erfolgsversessenheit wird durch die Strukturen angefeuert, die es zu durchbrechen gilt. Beurteilen wir unsere Aktionen nicht danach, ob sie erfolgreich sind. Es scheint mir wichtig zu sein, darüber in der Klima­gerechtigkeitsbewegung nachzudenken.

Wir sollten eine lernende Klimagerechtigkeitsbewegung sein. Ich bin unter anderem bei «Extinction Rebellion» (XR) aktiv. Die britische XR hat an Silvester 2022 eine Resolution mit dem Titel «We quit!» («Wir hören auf») veröffentlicht. Gemeint ist: Wir ändern die ­Taktik. Wir setzen jetzt mehr auf die Mobilisierung einer kritischen Masse als auf Blockaden. Die Grenzen und Möglichkeiten des zivilen Ungehorsams müssen meines Erachtens ständig neu ausgelotet werden. Die grosse Transformation, oder ich ziehe das Wort «Revolution» vor, wird nicht dadurch ausgelöst, dass wir ­Aktivist*innen mit unseren Aktionen immer stärker in der medialen Öffentlichkeit präsent sind. Das ist wichtig, wir brauchen das strategisch – ja. Aber wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass, wie es der Dichter und Musiker Gill Scott-Heron in den 1960er Jahren gesungen hat: «The revolution will not be televised». Die Revolution wird nicht in den Medien stattfinden, auch nicht in den sozialen Medien. Aktionen des zivilen Ungehorsams dienen in erster Linie der Sensibilisierung. Diese Whirlwind-Aktionen unterbrechen das Weiter-so für einen Moment. Für eine Revolution braucht es aber gleichzeitig Praktiken des Community-Organizings, kommt es doch darauf an, Menschen zu helfen, sich produktiv zu politisieren.

Katharina von Steiger, Sie haben viel Erfahrung damit sammeln müssen, nicht einfach auf Erfolge zu bauen, nicht Widerstand zu leisten im Wissen darum, dass er Schritt für Schritt zum Ziel führt und die grosse Strategie umgesetzt werden kann. Erkennen Sie sich in dieser Vorstellung wieder, trotzdem Teil einer grossen Transformation oder sogar einer Revolution zu sein?

KvS Unsere Erfahrung ist eindeutig nicht jene, dass wir einen Erfolg nach dem anderen verbuchen konnten. Es geht eher darum, am «So nicht! So geht’s nicht weiter!» festzuhalten. Wir wissen zwar nicht, wie es genau weitergeht. Es ist die Essenz der Hoffnung, dass wir nicht genau wissen, was dann käme. Aber wir halten stur daran fest, dass es so nicht weitergeht. Das sehe ich übrigens auch theologisch begründet: Einer der Namen des Gottes ist ja «Ich bin, der ich sein werde». Ehe ich auf den Weg gegangen bin, kann ich gar nicht wissen, wohin er mich führt. Diese Haltung ist es, die uns hilft, nicht aufzugeben.

JM Mir fällt gerade noch etwas von Dorothee Sölle ein. Wenige Tage vor ihrem Tod hielt sie einen Vortrag in Bad Boll. Am Ende der Veranstaltung sprach sie über das individuelle Leben nach dem Tod: «Ich wünsche mir wirklich von ganzem Herzen, dass diese Erde bleibt, dass Frühling, Sommer, Herbst, Winter kommen und gehen, dass das bleibt, dass diese Schöpfung bestehen bleibt. Ob ich als Person […] da vorkomme, das ist mir nicht zentral. […] Der Fluch ist das Töten, nicht das Sterben.» Das waren ihre letzten öffentlichen Sätze.●

Jörg Alt SJ, *1961, ist Jesuit und Priester und hat Abschlüsse in Philosophie, Theologie und Sozial­wissenschaft. Er arbeitete 20 Jahre für den Jesuiten-Flüchtlingsdienst, anschliessend für das Hilfswerk «jesuitenweltweit». Seit 2019 ist er in der Klimagerechtigkeitsbewegung engagiert und wurde bekannt durch seine Beteiligung an zivilem Ungehorsam.

Jürgen Manemann, *1963, ist Umweltphilosoph und Politischer Theologe. Zuletzt veröffentlichte er 2021 das Buch Revolutionäres Christentum, erscheinen wird demnächst Rettende Umweltphilosophie.

Katharina von Steiger, *1957, setzt sich im Grimselverein und im Triftkomitee für den Schutz von ­Landschaft und Gewässern und für eine umweltverträgliche Energieversorgung ein.

  • Geneva Moser,

    *1988, studierte literarisches Schreiben, Geschlechterforschung und Philosophie an der Kunsthochschule Bern und der Universität Basel. Sie ist Tanztherapeutin, schreibt freiberuflich und ist Co-Leitung der Neue Wege-Redaktion.

  • Matthias Hui,

    *1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation humanrights.ch.