Sie drei sind Personen, die rund um Rechte von Menschen mit Behinderung in der Öffentlichkeit stehen. Sigrid Arnade, gab es ein Schlüsselerlebnis, das Sie dazu motiviert hat?
SAR Ich bin seit meinem dreissigsten Lebensjahr zur Fortbewegung auf den Rollstuhl angewiesen. Ein Schlüsselerlebnis war, als ich feststellte: Mir wird nicht mehr hinterhergepfiffen, ich werde nicht mehr angegrabscht. Das fand ich natürlich erst mal positiv. Es bedeutete aber auch, dass ich nur noch als «Rollstuhl mit Inhalt» wahrgenommen werde und nicht mehr als Frau, als Gegenüber. Oft wird jeweils meine Begleitperson angesprochen statt ich direkt.
Als gelernte Tierärztin hatte ich auf dem Land gearbeitet, und da hatte ich schon mit der Diskriminierung als Frau zu tun: Ich bekam einen Job nur, wenn sich absolut kein männlicher Kollege fand, und wenn ich dann einen Job erhielt, bekam ich weniger Geld als männliche Kollegen. Ich war feministisch unterwegs und habe dann festgestellt: Bei behinderten Frauen potenziert sich die Benachteiligung. Das war ein Schlüsselerlebnis, das mich motiviert hat, mich für die Situation behinderter Frauen zu engagieren.
Andreas Köhler-Andereggen, als Pfarrer und früherer Sprecher des Worts zum Sonntag sind Sie öffentlich sichtbar. War/ist Behinderung da ein Thema?
AKA Beim Wort zum Sonntag war natürlich schon eine wichtige Frage, wie ich mich zur Kamera positioniere. Ich selber sehe mich selten als behindert und definiere mich nicht über meine Behinderung, ich bin ja viel, viel mehr als sie. Aber sie gehört zu mir. Mich im Fernsehen zu sehen, war für mich eine ganz wichtige Erfahrung. Ich habe eine Plexusparese, die eine Lähmung des rechten Armes zur Folge hat, das ist bei der Geburt passiert, durch einen Ärztefehler. Als Pfarrer war das manchmal Thema: Wenn der Ambo, also das Redner*innenpult, in der Kirche an die linke Wand gerückt war, hatte ich keine Möglichkeit, mich beim Predigen auch mit Gesten auszudrücken. Da nahm ich mir manchmal die Freiheit und stellte den Ambo um. Für den Segen am Ende des Gottesdienstes habe ich meine eigenen Formen entwickelt. Ich habe mir selber das Skifahren beigebracht, ich habe mir selber das Volleyballspielen beigebracht – also musste ich mir halt auch das Segnen beibringen. Da bin ich sehr pragmatisch unterwegs und hatte bisher keine Schwierigkeiten. Es gibt aber andere Geschichten: Eine Kollegin, die mit mir studiert hat, wurde in der lutherischen Kirche wegen einer ähnlichen Behinderung nicht ins Pfarramt aufgenommen. In Deutschland haben Pfarrer*innen in vielen Kirchen einen Beamtenstatus, aber Behinderte bekommen diesen nicht automatisch. In dieser Sache haben wir uns in der Arbeitsgruppe für Pfarrer*innen mit Behinderung in Deutschland, in der ich lange Zeit aktiv war, eingesetzt. Wir haben auch sehr viel biblische Arbeit geleistet: Wir haben daran erinnert, dass Mose stottert, Paulus Epileptiker ist, und auch Jakob läufts nicht ganz so rund …
Lukas Paul Spichiger, als junger Politiker sind Sie enorm umtriebig und haben schon viel bewirkt. Wie kam es dazu, und welche Rolle spielte Ihre Behinderung dabei?
LPS Ich habe ADHS. In der Schweiz ist umstritten, ob das eine psychische Beeinträchtigung ist oder nicht. Die Auswirkungen führen aber zu einer Einschränkung. Ich merkte schnell, dass ich halt zum Beispiel in der Schule nicht wie andere Kinder ganz lange ganz ruhig sitzen konnte. Man eckt immer an. Das prägt fürs Leben. Man muss immer kämpfen. Für die Akzeptanz. Darum habe ich mich entschlossen, auch auf der politischen Ebene etwas zu machen. Mit etwa vierzehn Jahren war ich an ersten Standaktionen der Juso.
Sigrid Arnade, Sie haben erzählt, dass Ihr Werdegang mit der feministischen Bewegung verknüpft ist. Sie sind immer Teil von sozialen Bewegungen gewesen. Wenn Sie auf die letzten Jahre in der Behindertenrechtsbewegung zurückschauen: Was hat sich gewandelt? Welche Begriffe und Herangehensweisen sind anders geworden?
SAR Die Behindertenrechtsbewegung begann in Deutschland schon vor meiner Zeit. 1981 war das Internationale Jahr der Menschen mit Behinderung, ausgerufen von der UNO. Da wollte die Wohlfahrt, also die sozialen Verbände, sich feiern für alles, was sie an Gutem tut … Behinderte Menschen haben diese Feierlichkeiten gestört und die Bühne in der Westfalenhalle in Dortmund gestürmt. Der Bundespräsident konnte seine Rede nicht halten.
Ich kam 1986 zur Bewegung, seit ich Rolli-Fahrerin bin. Uns ging es um einen Perspektivenwechsel: Wir forderten nicht ein Mehr an sozialen Leistungen, sondern rechtliche Gleichstellung. Das trieben wir mit grossem Erfolg voran: 1994 wurde das deutsche Grundgesetz um den Satz ergänzt: «Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.» Den Satz dort zu verankern, war ein harter Kampf, aber letztlich erfolgreich. Dann wollten wir, dass dieser Grundgesetzartikel einzelgesetzlich auch umgesetzt wird. Wiederum mit ganz viel Kämpfen, mit Demonstrationen und so weiter, haben wir 2002 das Behindertengleichstellungsgesetz auf Bundesebene gekriegt und 2006 das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das im zivilrechtlichen Bereich die Gleichstellung festschrieb. Ein weiterer Erfolg war die UNO-Behindertenrechtskonvention, die in Deutschland seit 2009 gilt und die die Schweiz ja auch ratifiziert hat. Ich war 2005 und 2006 als Vertreterin der Zivilgesellschaft mitbeteiligt bei den Verhandlungen in New York. Dort setzte ich mich für die Verankerung der Rechte behinderter Frauen ein. Denn die ersten Entwürfe der Konvention waren genderneutral – selbst bei dem Thema Gewalt wurden Frauen nicht erwähnt. Mit einer Kollegin haben wir dann eine Kampagne gegründet und selber Papiere geschrieben. Wir waren erfolgreich.
Andreas Köhler-Andereggen, Sie waren im Behindertensport aktiv. 1998 wurden Sie Vizeweltmeister im Volleyball!
AKA Ja, seither hat sich viel entwickelt in behindertenpolitischen Zusammenhängen, auch in der Sportwelt. Unsere Volleyballmannschaft hatte einen Auftritt im ZDF-Fernsehgarten. Das typische Bild von «behindert» war damals: im Rollstuhl. Andere Behinderungen wurden gar nicht wahrgenommen. Die Leute vom ZDF waren total enttäuscht, dass wir ohne Rollstühle Volleyball spielten … Ein Kollege von mir sagte damals: «Wir kommen eher ins Gesundheitsmagazin als ins Sportstudio.» Ich hatte manchmal das Gefühl, dass wir bemitleidet wurden. Dabei schlugen wir nichtbehinderte Mannschaften aus hohen Ligen. Wir spielten alle hochklassig. Nur die höchste Klasse spielen konnte ich mit einem Arm nicht. Ich glaube, heute wird stärker die sportliche Leistung wahrgenommen. Im Bereich des Sports passiert ein Paradigmenwechsel, aber ich bin mir völlig bewusst, dass das gesellschaftlich nur ein kleiner Ausschnitt ist.
SAR Diese Veränderungen nehme ich auch wahr. Aber eine Tendenz sehe ich auch kritisch: Während Behindertensport früher eher in der Rubrik «Gesundheitsmagazin» abgehandelt wurde, werden Paralympics-Sportler*innen heute häufig als Supermenschen mit übernatürlichen Superkräften dargestellt.
AKA Ja, daran gekoppelt ist oft eine bestimmte Ästhetik rund um Prothesen und Hilfsmittel: Es werden Fantasien einer Mischung aus Mensch und Maschine entwickelt. Das finde ich höchst problematisch.
Lukas Paul Spichiger, was machen Sie anders als Generationen vor Ihnen, die sich für die Rechte und die politische Partizipation von Menschen mit Behinderung eingesetzt haben?
LPS Mein Aktivismus zielt in erster Linie auf meine Kategorie, also auf Menschen mit einer psychischen Erkrankung. Da fällt schon auf, dass das in meiner Generation viel weniger ein Tabu ist als früher. Wenn man in die Schweizer Sozialgeschichte schaut, ist klar: Die Toleranz ist grösser geworden.
Sie haben jetzt den Begriff der «Kategorie» aufgebracht. Wenn wir von «Menschen mit Behinderung» sprechen, meinen wir ganz verschiedene «Kategorien». «Menschen mit Behinderung» ist unpräzise und beschreibt eine grosse und vielfältige Gruppe. Wie kann Interessenvertretung für Menschen mit Behinderung aussehen? Wo gibt es Allianzen? Und wo gibt es Interessenskonflikte?
SAR Was uns eint, sind Diskriminierungserfahrungen. Sie haben unterschiedliche Formen, Gründe und Ausprägungen, aber sie sind das, was wir gemeinsam haben. Unter behinderten Menschen gibt es allerdings schon eine Art Hierarchie, so mein Eindruck. Körperbehinderte oder Sinnesbehinderte sind eher «oben» und Menschen mit kognitiven Einschränkungen eher «unten», sie werden stärker diskriminiert. Als wir den zivilgesellschaftlichen Parallelbericht für die erste Staatenüberprüfung zur Behindertenrechtskonvention schrieben, machten wir gute Erfahrungen mit einer beeinträchtigungsübergreifenden Zusammenarbeit. Das war nicht immer konfliktfrei, aber wir haben es letztlich geschafft, zu gemeinsamen Positionen zu kommen.
Wo lagen denn die Konfliktlinien?
SAR Bei der Erarbeitung des Berichts gab es die stärksten Konflikte zwischen gehörlosen und schwerhörigen Menschen. Wir versuchten deutlich zu machen, dass es weniger um die einzelnen Beeinträchtigungsformen geht als um die Diskriminierungsmechanismen, um die strukturelle Diskriminierung.
AKA Ich glaube auch, dass die Diskriminierungserfahrung einen gemeinsamen Nenner bildet: Behinderte Menschen werden behindert. Von dieser Erfahrung lässt sich ausgehen. Das Zweite ist, positiv formuliert: Was können wir eigentlich alles? Welche Stärken verbinden uns? Als Seelsorger kann ich kaum im Spital arbeiten, weil ich als «Leidensgenosse» so viele schwere Geschichten zu hören bekäme, dass ich gar nicht wüsste, wie ich sie verarbeiten soll. Aber das ist grundsätzlich eine Ressource. Durch eine Behinderung bringe ich eine eigene Sensibilität in bestimmten Fragen mit. Solche Ressourcen können behinderte Menschen einbringen.
LPS Eine Schwierigkeit sind die Begriffe: geistig behindert, kognitiv behindert, invalid … Diese Begriffe stehen in den Gesetzesbüchern oder in Fachzeitschriften. Aber wir merken, dass sie viele emotionale Reaktionen und Diskussionen auslösen. Ähnlich vielleicht wie die Gendersprache.
Welchen Begriff würden Sie denn vorschlagen?
LPS Bei mir kann man nicht so schnell ins Wespennest stechen. Mir ist das nicht so wichtig. Ich habe immer gehört, ich sei ein Zappelphilipp und würde von einem Thema zum nächsten springen, ich sei umtriebig und sehr kommunikativ. Was bei mir der Vorteil ist mit dem ADHS: Ich habe viel Energie und kann diese im aktivistischen Bereich umsetzen.
Sie planen eine Initiative im Kanton Solothurn, die behinderten Menschen die politische Teilhabe bei Abstimmungen erleichtern soll. Was ist Ihre Motivation, sich für Menschen mit einer geistigen Behinderung einzusetzen?
LPS Ich habe den normalen Kindergarten besucht und kam danach in eine Sonderschule. Das prangere ich immer wieder an: Auch heute haben wir viele verhaltensauffällige Kinder in den Klassen, und die Lehrer*innen haben nicht genug Zeit und sind überfordert. Wenn es den Rahmen gegeben hätte, hätte ich in der Regelschule mithalten können. Ich war nicht schlecht in der Schule. Das System sollte in Zukunft so sein, dass ganz verschiedene Kinder miteinander in einer Klasse sind und voneinander lernen können. Ich fühlte mich in der Sonderschule fehl am Platz. Ich wollte schon damals etwas gegen Diskriminierung machen. In einem Youtube-Video hörte ich dann von einer Frau, deren Eltern in die Schweiz gekommen waren, um zu arbeiten. Ihre Eltern verstanden die Abstimmungsunterlagen nicht. Da habe ich gedacht, ich muss etwas verändern.
Wie müssten denn in der Schweiz Abstimmungen sein, damit sie für mehr Menschen zugänglich sind?
LPS Seit ich achtzehn bin, darf ich abstimmen. Das ist für mich immer ein Highlight. Aber viele Leute gehen nicht abstimmen, weil sie die Dinge nicht verstehen. Wegen einer Leseschwäche, der Sprache oder einer kognitiven Einschränkung. Es gibt zwar eine Vorschrift, dass die Parlamentswebseiten oder die Tagesschau gedolmetscht sein müssen, aber es ist viel zu wenig. Im Kanton Solothurn möchte man bis 2025 alles digitalisieren und wendet dafür unglaublich viel Steuergeld auf. Aber Sie können raten, wer dabei vergessen wird! Wenn man alle Menschen, die nicht so leicht lesen und verstehen können, direkt in die Prozesse einbeziehen würde, hätte man einen Riesenvorteil. Die Verwendung der leichten Sprache käme so vielen Menschen zugute, nicht nur Menschen mit einer kognitiven Einschränkung. Wenn eine eritreische Familie ihre Formulare in Zukunft selber bearbeiten kann, ist das doch auch eine Einsparung.
AKA Kurz vor unserem Gespräch habe ich zusammen mit meiner Frau für die Tagesschule unseres Kindes einen Antrag ausgefüllt. Wir haben beide einen akademischen Abschluss, und wir haben ziemlich lange gebraucht, dieses selten blöde Formular auszufüllen. Auch bei den Abstimmungen muss ich die Unterlagen häufig mehrmals lesen. Es wäre ein Gewinn, wenn Texte so wären, dass ich sie nicht sechs Mal lesen muss, um herauszufinden, wo ich das Kreuzchen machen muss, damit mein Sohn dann sein Mittagessen bekommt … Natürlich hat Sprache auch mit Komplexität und Schönheit zu tun, aber beispielsweise nicht bei politischen oder amtlichen Texten. Die Bibel ist neu zum Bestseller geworden, weil es sie jetzt auch in einfacher Sprache gibt. Das ist eine eigene Übersetzung und scheint zu funktionieren: Die Leute kommen besser mit den Texten ins Gespräch.
LPS In der Schweiz ist es schwierig, da politisch etwas zu verändern, weil die Kantone dem Bund nicht reinreden wollen und der Bund den Kantonen nicht – da gibt es einen enormen Kantönligeist. Ich hoffe, dass Bundesrat Berset nun endlich das Thema leichte Sprache angeht. Die Leute werden viel selbstständiger, wenn sie die Dinge verstehen.
SAR In Deutschland haben wir inzwischen das Gleichstellungsgesetz so ergänzt, dass jede Person das Recht hat, einen amtlichen Bescheid auch in leichter Sprache zu bekommen. Als wir das früher gefordert hatten, wurde immer gesagt: Das muss aber rechtsfest oder rechtssicher sein, vieles geht nicht in leichter Sprache.
LPS Die Schweiz hinkt ihren Nachbarländern peinlich hinterher – obwohl sie die Ressourcen hätte!
SAR Wir in Deutschland sind allerdings mit dem Erreichten auch nicht so zufrieden. Beispielsweise werden in Österreich auch Private zur Barrierefreiheit verpflichtet, oder die Schweiz hat eine barriereärmere Bahn als Deutschland. Als die UNO-Behindertenrechtskonvention mit Deutschland, der Schweiz, Österreich und Liechtenstein ins Deutsche übersetzt worden ist, wurde der Fehler gemacht, «Inclusion» mit «Integration» zu übersetzen. Das sind zwei völlig verschiedene Konzepte. Wir haben damals mit dem Schweizer Behindertenrat und entsprechenden Gremien in den anderen Ländern an die Regierungen geschrieben, haben aber nichts erreicht. Wir haben eine eigene sogenannte Schattenübersetzung gemacht und dabei festgestellt, dass viele Fehler passiert sind. Österreich hat inzwischen seine Übersetzung korrigiert. Deutschland sah keinen Bedarf. Die Schweiz hat eine eigene Übersetzung, die manche Begriffe korrigiert hat, manche nicht. In Deutschland kommt in der offiziellen Übersetzung der UNO-Behindertenrechtskonvention das Wort «Inklusion» nicht vor! Uns wird gesagt: Was wollt ihr denn – wir reden doch alle von Inklusion! Aber wenn ich für Verwaltungsleute Fortbildungsveranstaltungen mache, sagen die mir: Na, wir müssen das offizielle Dokument nehmen.
Seit 2002 hat die Schweiz mit der Organisation Avanti Donne eine Interessenvertretung von Frauen und Mädchen mit Behinderung. Sigrid Arnade, Sie setzen sich ebenfalls genau für diese Personengruppe ein. Vielleicht können Sie noch einige Beispiele nennen, wie diese Gruppe konkret von Diskriminierung betroffen ist.
SAR Frauen mit Behinderungen sind das Schlusslicht auf dem Arbeitsmarkt und häufig armutsbetroffen. Sie sind noch seltener erwerbstätig als Männer mit Behinderung. Wenn sie erwerbstätig sind, haben sie einen Mini- oder einen Teilzeitjob oder einen schlecht bezahlten. Im Lohnvergleich zeigt sich, dass behinderte und nichtbehinderte Frauen weniger verdienen als behinderte und nichtbehinderte Männer. Der Gap liegt also nicht zwischen behindert/nichtbehindert, sondern zwischen den Geschlechtern. Nichtbehinderte Männer haben im Schnitt mehr Geld zur Verfügung als nichtbehinderte Frauen. Behinderte Frauen sind zwei- bis dreimal häufiger von Gewalt oder spezifisch sexualisierter Gewalt betroffen als nichtbehinderte Frauen. Wenn sie Gewalt öffentlich machen oder zur Anzeige bringen, werden sie von der Polizei, der Staatsanwaltschaft oder von Richtern oft nicht ernst genommen. Werden behinderte Frauen Mütter, stehen sie vor vielfältigen Hürden: Die Arztpraxen sind nicht barrierefrei, die Entbindungsstationen sind nicht auf behinderte Frauen ausgerichtet, auch Kitas, Kindergärten und Schulen sind häufig nicht barrierefrei. Behinderte schwangere Frauen werden blöd angeguckt: Ja, musste das denn sein …?
Avanti Donne macht auf das Thema der sexuellen Selbstbestimmung von Frauen mit Behinderung aufmerksam. Ist das auch in Ihrem Engagement Thema?
SAR Das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche ist ein Thema. Während nichtbehinderte Frauen dafür kämpfen, selbstbestimmt eine Schwangerschaft abbrechen oder sich sterilisieren lassen zu können, ist es bei behinderten Frauen umgekehrt. Sie müssen dafür kämpfen, dass sie Kinder haben können oder nicht sterilisiert werden. Junge Frauen mit sogenannten geistigen Behinderungen werden noch heute häufig gegen ihren Willen sterilisiert. Das ist zwar rechtlich nicht mehr zulässig, aber dann kommt eben ein Arzt, der ein Myom diagnostiziert und sagt, der Uterus müsse entfernt werden. Das ist faktisch eine Sterilisation. Mit der hormonellen Verhütung durch die Dreimonatsspritze wird noch immer sehr locker umgegangen. Das ist nicht befriedigend geregelt, und die Bevormundung von Frauen mit Behinderung ist gross.
Auch manches kirchliche Engagement reduziert Menschen mit Behinderung bis heute nicht selten auf Empfänger*innen von Mitleid und Bevormundung, so unser Eindruck. Was läuft da schief?
AKA Ich nehme das auch so wahr, ja. Die Gefahr besteht, dass behinderte Menschen als Objekte, nicht als Subjekte wahrgenommen werden. Ich mache regelmässig Unterrichtsbesuche, und was ich sehe, ist leider nicht immer subjektorientiert. Dabei ist das eigentlich kirchliches Kerngeschäft: Wenn ich Seelsorge betreibe, rede ich mit Subjekten; wenn ich Gottesdienste mache, dann feiere ich mit Subjekten gemeinsam Gottesdienst. Das scheint mir eine Grundherausforderung von kirchlicher Sprache und kirchlicher Wahrnehmung zu sein, die nicht nur Menschen mit Behinderung betrifft: die Menschen als Gegenüber wahrzunehmen. Theologisch haben wir dafür viele Begriffe, wie die Gottesebenbildlichkeit.
Erleben Sie in der Kirche so etwas wie eine Theologie der Behinderung? Braucht es das überhaupt?
AKA Die Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn haben das Thema 2019 in ihrer Synode aufgenommen. Sie wollen die Rechte von Menschen mit Behinderung viel stärker thematisieren und behinderten Menschen als Arbeitgeberin Raum geben. Das ist ein Fortschritt. Wir brauchen eine Theologie, die aus der Perspektive von Menschen mit Behinderung auf Gott und die Welt schaut, denn Theologie ist immer kontextuell. In der jüdisch-christlichen Tradition begegnet uns eine anthropologische Erkenntnis: Der Mensch ist nicht dafür da, ein perfektes Wesen zu sein. Er ist gefragt in seiner Gebrochenheit und Verletzlichkeit, aber auch in seiner Kreativität und Variabilität. Diese Erkenntnis muss immer kontextualisiert werden. Mit Jugendlichen besprach ich den biblischen Text, in dem Jesus einen blinden Menschen fragt, was er ihm tun soll. «Was soll diese Frage? Ist doch klar, dass man den gesund machen soll!», war die Reaktion der Jugendlichen. Dabei kann das Nachdenken in eine ganz andere Richtung gehen: Behinderung ist im biblischen Umfeld Ausgrenzung, und die Antwort auf die Frage von Jesus könnte sein, dass jemand wieder Teil einer Gemeinschaft sein möchte. Das ist etwas völlig anderes, als nichtbehindert zu sein.
Sind Kirchen Kooperationspartner*innen in Ihrem Engagement?
SAR Mit den Wohlfahrtsverbänden kooperieren wir oft sehr gut. In Deutschland haben die Kirchen durch das Grundgesetz allerdings ein besonderes Recht: Sie brauchen die normalen arbeitsrechtlichen Bestimmungen nicht zu respektieren. Als wir uns für das zivilrechtliche Gleichstellungsgesetz einsetzten, verhinderten das die Kirchen, weil sie befürchteten, ihre Privilegien zu verlieren. Klar, dass wir stinkig waren auf die Kirchen.
AKA Im Pfarrdienstgesetz der EKD in Deutschland heisst es, dass allein Personen in den Pfarrdienst kommen, die «nicht infolge des körperlichen Zustandes oder aus gesundheitlichen Gründen bei der Ausübung des Pfarrdienstes wesentlich beeinträchtigt» sind. Das ist ein totaler Gummiparagraph. Es geht dabei hauptsächlich darum, Privilegien zu sichern. Da setzte ich mich früher sehr dagegen ein, das war ein Grund, warum ich nicht Pfarrer in Deutschland werden wollte.
SAR Das klingt wie ein Artikel aus der Nazizeit. Es gibt noch viele Reste von menschenverachtenden Gesetzen aus jener Zeit.
Und Ihre Zusammenarbeit mit den Kirchen, Lukas Paul Spichiger?
LPS Letztes Jahr habe ich in Solothurn eine grosse Friedensdemonstration organisiert und da eng mit den Kirchen und besonders mit dem Bistum Basel zusammengearbeitet. Das war eine sehr schöne Sache. Das war toll, was wir da machen konnten für die Leute, die leiden in der Ukraine. Aber ich würde mir für die Zukunft wünschen, die Kirchen würden offener und innovativer.●
○ Andreas Köhler-Andereggen, *1971, leitet als Pfarrer und Ausbildner an der Uni Bern die Pfarrausbildung in den Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn. Aufgrund einer Plexusparese ist er im Behindertensport spielberechtigt und war von 1993 bis 2000 Mitglied der deutschen Volleyball-Behinderten-Nationalmannschaft.
○ Sigrid Arnade, *1956, ist Professorin an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin und engagiert sich seit den 1980er Jahren für die Rechte von Frauen mit Behinderung, beispielsweise als Sprecherin für Gender und Diversity der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e. V., als Sprecherin der LIGA Selbstvertretung sowie als Vorsitzende des Sprecher*innenrates des Deutschen Behindertenrats (DBR). Die promovierte Tierärztin nutzt seit 1986 zur Fortbewegung einen Rollstuhl.
○ Lukas Paul Spichiger, *2003, ist parteiloser Jungpolitiker und lancierte im Kanton Solothurn die Volksinitiative «Politische Rechte für Menschen mit geistiger Behinderung» (2023) mit.
*1988, studierte literarisches Schreiben, Geschlechterforschung und Philosophie an der Kunsthochschule Bern und der Universität Basel. Sie ist Tanztherapeutin, schreibt freiberuflich und ist Co-Leitung der Neue Wege-Redaktion.
Stefanie Arnold, *1976, ist Religionswissenschaftlerin und christkatholische Theologin und Redaktionsmitglied der Neuen Wege.