Wann beginnen Männer um sich zu schlagen, weil sie sich bedroht fühlen? Und welche Linien verbinden alltägliche Gewalt mit Krieg? Kim de l’Horizon hat für den Roman Blutbuch den Deutschen und den Schweizer Buchpreis erhalten. Kim de l’Horizon versteht sich als nonbinär. Sich weder als Mann noch als Frau zu identifizieren, hat literarische, aber auch gesellschaftliche Konsequenzen. In einem aussergewöhnlichen Beitrag in der NZZ (19.10.22) beschreibt Kim de l’Horizon Momente des Einsteckens: eine Gewalterfahrung in Berlin auf offener Strasse – und eine in Bern beim Mitverfolgen einer Medienkonferenz von Ueli Maurer am Computer. Bei Minute 22 habe der abtretende Bundesrat Kim de l’Horizon ins Gesicht geschlagen mit den Worten: «Ob meine Nachfolgerin eine Frau oder ein Mann ist, ist mir egal. Solange es kein ‹Es› ist, geht es ja noch.» Kim de l’Horizon antwortete Maurer mit einem Angebot zur Begegnung. Es blieb unbeantwortet wie Kim de l’Horizons Frage: «Wenn eure Ordnung so natürlich wäre, wie ihr glaubt, wenn Körper wie der meine so unnatürlich und nur eine Modeerscheinung sind, wie ihr sagt, warum müsst ihr dann einen solch immensen Aufwand betreiben, die alte Ordnung zu erhalten?»
Brutaler Aufwand zur Aufrechterhaltung der alten Ordnung wird im Iran betrieben. Die Welt sieht wie in einem Brennglas, was eine Revolution gegen ein autoritäres Regime im 21. Jahrhundert mit dem Sprengen von Herrschaft zu tun hat, die im Kern durch das Ziehen von Geschlechtergrenzen und die Durchsetzung angeblich traditionell-religiöser Werte konstruiert ist. Auch im Golfstaat Katar liegen die Verhältnisse offen da, wenn die Fifa Fussballcaptains Regenbogenarmbinden entreisst. Und in Israel fallen die demokratischen Masken, wenn zentrale Ministerposten Mitgliedern von rechtsextremen, fundamentalistischen Männerbanden übertragen werden, die auch persönlich vor der Anwendung von Gewalt nicht zurückscheuen. Die «Anderen» werden aus der religiösen, nationalen und Geschlechterordnung ausgegrenzt. Eskalation ist geplant. Politik ist Vorkrieg.
Genau dies haben Menschenrechtler*innen in Russland seit Jahren beschrieben: eine immer autoritärer werdende Politik als Vorkrieg. Den Angriff auf die Ukraine begründete Präsident Putin auch mit den angeblichen Versuchen des Westens, traditionelle Werte zu zerstören. Diese Entwicklungen würden «auf direktem Weg zu Verfall und Entartung führen, denn sie widersprechen der Natur des Menschen». Ein jüngst in Russland verabschiedetes Gesetz verbietet Werbung, Medien- und Onlineinhalte, Bücher, Filme und Theateraufführungen, die «LGBTQ-Propaganda» enthalten. Die Abwertung und Entrechtung von Frauen wie von queeren Menschen ist kein zufälliges Nebenprodukt autoritärer Herrschaft. Ein Kurs wie jener von Putin dient, so die Politikwissenschaftlerin Leandra Bias, «als Rechtfertigung für eine autoritäre Politik nach innen, für Angriffskriege nach aussen – und er schafft gemeinsames Terrain mit rechten Bewegungen in verschiedenen Ländern».
Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni ist mit dem faschistischen Slogan «Gott, Familie, Vaterland» an die Macht gekommen, mit Parolen wie «Ja zur natürlichen Familie – Nein zur LGBT-Lobby. Ja zur Kultur des Lebens, Nein zu Abtreibungen. Ja zu christlichen Prinzipien, Nein zu islamistischer Gewalt. Ja zu sicheren Grenzen, Nein zu Masseneinwanderung». So sprechen auch die Protagonist*innen des Trumpismus, des Bolsonarismus, des Orbanismus. In ihren Netzwerken teilen sie nicht nur die Faszination für «illiberale Demokratie», autoritäre Herrschaft. Im Fokus ist immer auch der Kampf gegen sexuelle Vielfalt und gegen reproduktive Rechte von Frauen, der Hass auf «die Anderen».
Der russische Aussenminister Lawrow beschwerte sich kürzlich öffentlich, dass es im Westen angeblich mehr als achtzig Geschlechter gebe. Auf einer Dienstreise nach Schweden sei ihm auf seine Bitte hin ein WC gezeigt worden. «Ich habe gefragt: ‹Ist das für Frauen oder Männer?› Sie haben mir gesagt: ‹Das ist bei uns beides zusammen.› Ich habe das nicht geglaubt, aber so war es wirklich.» Was er dabei fühlte? «Sie können sich nicht vorstellen, wie unmenschlich das ist.» Den grossen Krieg führt er in der Ukraine, aber gleichzeitig in schwedischen Toiletten. Putin habe mit Lawrow «einen der besten Aussenminister an seiner Seite, der auch strategisch mitdenkt», kommentierte Ueli Maurer am Tag nach dem Kriegsausbruch.
Kim de l’Horizon sagt im NZZ-Beitrag zu Bundesrat Maurer, aber wohl auch an die Adresse autoritärer und imperialistischer Mächte: «Wer wirklich überlegen ist, der muss nicht zuschlagen und nicht unterdrücken. Der hält stand. Überdauert.» Damit sind die eigentlichen Wertetraditionen, auch die biblischen, angesprochen, für die es sich zu kämpfen lohnt. Gegen Hass und Krieg.
*1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution SMRI.