Die Stimme abgeben – Kurt Martis «füürbeschtattigsverein»

Andreas Mauz, 21. Januar 2021
Neue Wege 1/2.2021

Kurt Martis Mundartgedichte sind legendär. Eine wenig beachtete Bedeutung liegt in ihrer feinsinnigen Verbindung von lyrischem Endlichkeitsdenken und Politik. Eine exemplarische Lektüre.

Kurt Marti hat mit den vierzig Rosa-Loui-­Gedichten (1967) Literaturgeschichte geschrieben. Ihre Bedeutung liegt, kurz gesagt, darin, dass hier ein Autor die avanciertesten Mittel der modernen Lyrik mit der Mundartdichtung, mit der Entscheidung für Texte «ir bärner umgangsschprach» verband. Die Eigenart des Bandes, der auch in Deutschland äusserst erfolgreich war, wird daher in erster Linie aus der Differenz zur «alten» Mundartdichtung begründet.

Wie bereits der Literaturkritiker Werner Weber in seiner klassischen NZZ-Rezension (2. 9. 1967) betont, habe Marti die Dialektdichtung mit einem «Meisterschlag aus ihrer Formelstarre […] befreit»: «Die Röseli- und Gemüsegartenmissverständnisse, die Küsschenschämig­keiten und die Scheiden-tut-weh-Schleichereien: der ganze Trauerwonnezauber, in welchem die Mundart für den Dichter nicht einmal mehr dichtet und denkt, sondern nur noch selbsttätig abschnurrt – es ist überwunden. Der Mann, der es zustande gebracht hat, heisst Kurt Marti.»

Die Aufmerksamkeit für die formalen Charakteristika der Gedichte – nebst der ­Mundart auch die freie Nutzung des Reims und der Einsatz visueller Effekte – hat einen bemerkenswerten thematischen Grundzug der Rosa-Loui-Sammlung fast verdrängt: Was für den standardsprachlichen Band Leichenreden (1969) gilt, ist bereits hier kaum zu übersehen: Martis Texte arbeiten sich ab an der ­Endlichkeit des Lebens. Sie erkunden die Sterblichkeit und die damit gegebene Frage nach dem Leben vor wie nach dem Tod. Während in den Leichen­reden der christliche Denkhorizont dominiert, eine vorschnelle Versöhnung mit dem ­Skandal des Todes aber zurückgewiesen und hochtrabende Jenseitsgewissheiten entschieden abgeräumt werden, operieren die Zeit- und Endlichkeitsgedichte in Rosa Loui in einem neutraleren Bereich. Wie subtil der Autor verfährt, sei am Beispiel von füürbeschtattigs­verein näher entfaltet. Das Gedicht zeigt zugleich besonders deutlich, wie die lyrische Reflexion auf die Befristung des Lebens mit einer eminent politischen Dimension einhergeht.

füürbeschtattigsverein

I (II)

mir göngen
alli
zur urne
und gäh
üsi schtimm ab:
für gäng

II (I)

mir göngen
alli
zur urne
und gäh
üsi schtimm ab:
für was?

Martis Gedicht basiert auf der Entdeckung des latenten Doppelsinns der Wendung «die Stimme abgeben». Einerseits bezeichnet sie den Vorgang der politischen Stellungnahme, des «Stimmens» für diese oder gegen jene Sache. Andererseits lässt sich das ­Abgeben der Stimme auch im Sinn eines ­endgültigen ­Verstummens im Tod verstehen. Über den Gegenstand der Urne, die in beiden Fällen ins Spiel kommt, gibt die Wendung die ­Möglichkeit, zwei gleichermassen gewichtige Themen­felder kurzzuschliessen: die demokratische Praxis der Stimmabgabe und das Lebensende, das allen Praktiken ein Ende setzt.

Die Stimme abgeben

Sehen wir uns den Text genauer an. Er bezieht seinen Reiz offensichtlich aus dem Ver­fahren der kleinen Variation mit grossen Folgen. Die fünf ersten Verse der beiden sechs­zeiligen ­Strophen sind exakt wortidentisch. Die Abweichung erfolgt erst im jeweiligen ­sechsten und letzten Vers: Die Stimmabgabe in der ­ersten Strophe wird verständlich durch das im ­wahrsten Sinn des Wortes finale «für gäng», für immer; die Stimmabgabe in der zweiten Strophe wird im genannten politischen Sinn verständlich durch das «für was?».

Doch hier enden die Symmetrien. Wo das «für gäng» ohne schliessendes Satz­zeichen bleibt, folgt auf das «für was» ein Frage­zeichen. Die eine Stimmabgabe lässt, weil ­ultimativ, keine Frage offen; die andere wirft, weil im Kontext selbstverantworteter Teilhabe am demokratischen Prozess, eine solche auf. Aber verweist das «für was?» tatsächlich auf eine Frage? Ich meine, nein. Es scheint hier vielmehr ein Doppelsinn ins Spiel zu ­kommen, der dem Gedicht seine Qualität, aber auch eine gewisse Abgründigkeit gibt. Das «für was?» wird man zunächst als Frage nach der ­konkreten Sache verstehen, zu der sich die Bürgerin/der Bürger an der Urne verhalten soll. So wichtig diese Frage ist, so sehr wird sie durch den zweiten Sinn, der im «für was?» rumort, in den Schatten gestellt. Dieser betrifft die ungleich fundamentalere Ebene ­jeglicher politischen Stimmabgabe. Mir scheint, man muss hier gleichfalls das «für was?» der ­ewigen Abstimmungs­verliererinnen und ­-verlierer ­mithören, nicht anders als das der Politik­verdrossenen, die von vornherein auf eine Stimmabgabe verzichten, weil sie sich von ihr keine nennenswerten Veränderungen erhoffen: Ob ich abstimme oder nicht, egal – die da oben machen ohnehin, was sie wollen.

Das Trickreiche des Gedichts, weil mit minimalen ästhetischen Mitteln bewerkstelligt, liegt also darin, dass es die fakultative politische Stimmabgabe im Horizont der obli­gatorischen Stimmabgabe am Lebensende thematisiert. Es konfrontiert mit der Frage: Wofür gibst du die Stimme ab, bevor du die Stimme abgibst? Oder verschärfter noch: Welche Stimme müsstest du abgegeben haben, um ­dereinst im Reinen mit dir die Stimme ­endgültig abgeben zu ­können? Wir sind hier von schlichter Für-Wider-­Agitationslyrik ­denkbar weit entfernt. Das Material-Politische ist da, «für was?», es ist aber aufgehoben in das existenziell dringliche «für gäng».

Ein offener Text

Doch damit sind wir noch längst nicht fertig mit dem Gedicht. Wir dürfen die ­irritierende ­Nummerierung der beiden Strophen nicht ignorieren. Wenn ich vorher selbst­ver­ständlich von der ersten und der ­zweiten ­Strophe gesprochen habe, bezog sich das auf die faktisch vor­liegende Abfolge: erst die bio­grafische, dann die politische Stimmabgabe. Aber diese Abfolge wird durch die ­Nummerierung ja gerade irritiert. Die Klammer hinter der ­Strophennummerierung deutet an: Die erste Strophe könnte auch die zweite sein – und vice versa. Was machen wir damit?

Martis Text markiert hier ausdrücklich seine Identität, den Umstand, dass füürbeschtattigsverein – mit Umberto Eco gesprochen – in einem radikalen Sinn als «offenes Kunstwerk» verstanden werden will. Es handelt sich um einen Text, der es nicht nur im gängigen Sinn erlaubt, dass wir ein freies Verhältnis zu ihm einnehmen, ihn also so oder anders verstehen. Der Text ist in radikalerer Weise offen, weil seine formale Anlage die Leserin/den Leser in einem pointierten Sinn zur Aneignung nötigt: Wir sollen uns entscheiden, ob unser Gedicht füürbeschtattigsverein mit dieser oder jener Strophe beginnt. Und damit sind wir mittendrin: Was verändert sich je nach Lesart? Welches ist die bessere Version? Und was hiesse hier «besser»?

Wir brauchen uns nicht zu entscheiden. Wir können das Kunstwerk selbst­verständlich als offenes stehen lassen und geniessen. Aber ­stehen lassen und geniessen kann man es wohl dann am besten, wenn man die beiden ­Alternativen einmal durchspielt. Und genau das hat ja auch der Autor getan. Ich denke hier nur in zweiter Linie an die Entscheidung, diese Strophe als erste und jene als zweite zu ­setzen. Ich denke vor allem an den kommen­tierenden Begleittext, den Marti der (noch standardsprachlichen) Erstpublikation des Gedichts an die Seite gestellt hat. Sie macht die Subversion der fixierten Strophenfolge, die der Nummerierung zu entnehmen ist, ausdrücklich. Im Erstdruck in der Zürcher Woche (15. 6. 1962) wird der Text nämlich von der folgenden Notiz begleitet: «II kann für I und I für II gesetzt ­werden. die folge II/I ergibt das ­bessere gedicht. doch ziehen viele mitglieder die folge I/II vor: sie deutet diskret noch offene möglichkeiten an.»

Diese Anmerkung hat es in sich. Zunächst nimmt sie uns die Entscheidung nicht ab; sie verschärft sie vielmehr, indem sie die Frage der Abfolge mit zwei verschiedenen Gütekriterien koppelt. Die Abfolge II vor I sei das «bessere» Gedicht. Und das Bessere ist das, was wir in der Regel wählen wollen, was hier aber nicht gewählt wird. Die Abfolge I vor II sei ­dagegen diejenige, die «viele mitglieder» – Mit­glieder des titelgebenden «Feuerbestattungs­vereins»? – wählen würden. Mit dieser Wahl, die auch der Text realisiert, ist man also bei der Mehrheit. Der Kommentar nennt auch einen Grund für diese Mehrheitsoption: Die Abfolge, die von der finalen Stimmabgabe zur zeitlich voraus­liegenden politischen Stimm­abgabe führt, deute «diskret noch offene möglich­keiten an». Diese Begründung versteht sich allerdings nicht von selbst. Natürlich ist das Verfügen über Möglichkeiten nach land­läufiger Auf­fassung bedingt durch die Faktizität des Lebens; wer tot ist, hat keine Möglich­keiten mehr, aber auch keinen Bedarf an den­selben. Bezieht man die offenen Möglich­keiten ­dagegen auf den politischen Akt der Stimmabgabe im engeren Sinn, so verleihen sie diesem ein überraschend grosses Gewicht. Die Stimmabgabe sei zumindest andeutungsweise die Wahl der «noch offene[n] möglichkeiten». Und das Nichtselbstverständliche an dieser Begründung ist eben dies, dass die Mehrheit sich für diese Option entscheide: für die – richtige – Stimmabgabe zu Lebzeiten. Dieser Behauptung stand bereits zur Zeit der Entstehung des Gedichts die Demokratie­müdigkeit der Mehrheit entgegen, der Umstand, dass viele von ihrem Stimmrecht keinen Gebrauch machten/machen. Ganz zu schweigen von denen, die dieses Recht nicht ausüben durften/­dürfen, obwohl sie unter Umständen sehr direkt von den Folgen dieser Stimmabgaben und Stimmnichtabgaben betroffen waren/sind. Anders gesagt: Das «alli» in Strophe I (II) ist nicht das gleiche wie das in Strophe II (I). Der erste Urnengang ist effektiv für alle nicht nur ­möglich, sondern unvermeidlich. Die Möglich­keit des zweiten Urnengangs ist ­dagegen ein Privileg, das unter Umständen erstritten ­werden muss. Das Gedicht lässt sich also auch plausibel im Kontext der Debatte um das Frauenstimmrecht sehen, das auf Bundes­ebene 1971 schliesslich eingeführt wurde.

Warum Kurt Marti in der Buchausgabe auf die kommentierenden Zeilen verzichtet hat, wissen wir nicht, vielleicht aus ­Gründen ­formaler Einheitlichkeit. Fest steht auf jeden Fall, dass die Offenheit, die das Gedicht ­ausmacht, durch seine Kommentierung ­akzentuiert wird. Sie macht die eigenverantwortliche Einlassung auf die Beziehungen ­dieser und jener Stimmabgabe noch unausweichlicher. Die Erschliessung von Martis Poetik der Endlichkeit, die nicht nur mit politischen, sondern auch mit komischen Implikationen einhergeht, steht noch aus.

Der Beitrag basiert auf einem Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung Christlich-literarisches Engagement in Geschichte und Gegenwart. Kurt-Marti-­Gedenkvorlesung vom Herbstsemester 2017 an der Universität Bern.


Literatur:

Kurt Marti: Rosa Loui. vierzg gedicht ir bärner umgangs­schprach. Neuwied 1967, S. 18.

Kurt Marti: wo chiemte mer hi. sämtlechi gedicht ir ­bärner umgangsschprach. Herausgegeben von Andreas Mauz, mit einem Nachwort von Guy Krneta. Zürich 2018, S. 22.
 

  • Andreas Mauz,

    * 1973, Germanist und Theologe, Mitglied der Neue Wege-Redaktion.