Zwischen Menschen keine Grenzen ziehen. Gottes Ja gilt unbedingt

Redaktion Neue Wege, 21. März 2019
Neue Wege 3.19

Christiane Tietz ist Professorin für Systematische Theologie an der Universität Zürich und Autorin der neuen Biografie Karl Barth. Ein Leben im Widerspruch. Gott, so versteht sie den Kern seiner Theolo­gie, lässt sich nicht vereinnahmen. Deswegen ist es, wenn die Kirche von Gott spricht, immer auch politisch.

NW Sie haben eine vierhundertseitige Biografie von Karl Barth verfasst. Wenn Sie Karl Barth in einem konkreten Bild darstellen müssten, in welcher Lebenslage und mit welchen charakteristischen Zügen würden Sie ihn skizzieren?

CT Ich sehe ihn wandern auf einem Berggrat, ganz schnell vorwärts eilend, mit einem Schmunzeln im Gesicht – aber er ist bewaffnet. Er war kein Träumer, sondern einer, der wachsam war, Position bezog und sich in alle Richtungen wehren musste. Das Bild mit dem Berggrat soll daher nicht zu romantisch sein. Die Wanderung auf dem Berggrat wähle ich, weil Karl Barths Theologie stets in Bewegung war. Sie war im Gespräch mit seiner Zeit.

Wenn Sie einer zwanzigjährigen Studentin, die den Namen Karl Barth zum ersten Mal hört, erklären müssten, was seine Theologie ausmacht – was erzählen Sie?

Ich würde mit der These «Gott ist der ganz Andere» ansetzen. Das bedeutet, dass der Mensch sich nicht Gedanken über Gott machen kann und dann wirklich Gott trifft. Gott muss von sich selber sprechen, damit der Mensch weiss, wer Gott ist. Später macht Barth deutlich, inwiefern Gott das auch tatsächlich tut und dass er sich dabei als Liebender zeigt. Zentral ist dann das Begriffspaar von Freiheit und Liebe. Barth erläutert: Gott wendet sich dem Menschen in Freiheit zu, er muss das nicht. Und er tut das aus und in Liebe. Das bedeutet auch in der heutigen Zeit, dass nicht die religiösen Vorstellungen der Menschen oder ihre Bilder von Gott wichtig sind. Barth streicht das alles durch und sagt, dass diese menschlichen Fragen stets nur von Gott her zu beantworten sind. Die Erwartungen der Menschen können trügerisch oder sogar problematisch sein.

In Ihrer Biografie schreiben Sie, dass der Beginn des Ersten Weltkriegs und die Unterstützung, die der Krieg in der deutschen Theologie fand, für Karl Barth entscheidend waren für seine Theologie. Was meinen Sie damit?

Barth war erschüttert, dass seine theologischen Lehrer die deutsche Kriegspolitik auch mit theologischen Argumenten unterstützt haben. Besonders irritiert hat ihn die Ansicht der Theologen, der Ausbruch des Krieges, der gemeinsame Griff zu den Waffen und die harmonische Einigkeit gegen «die Feinde» könnten als Erlebnis Gottes verstanden werden. Diese Identifikation fand er schauerlich. Kategorien wie «Erlebnis» fand er fortan problematisch, weil damit alles Mögliche identifiziert werden konnte. Ihm war dagegen wichtig zu sagen, dass Gott nichts damit zu tun hat. Er wehrte sich gegen die Vereinnahmung Gottes für allzu menschliche Bedürfnisse.

In den 1930er Jahren und dem aufkommenden Faschismus und Nationalsozia­­lismus bewährte sich seine Theologie des schroffen Nein. 

Der Grundgedanke, dass Gott der ganz Andere ist und nicht vereinnahmt werden darf für weltliche Dinge, zieht sich durch. Das hilft Barth dazu, eindeutige Position gegen den Nationalsozialismus zu beziehen und sich insbesondere gegen die Ideologie der Deutschen Christen zu wenden. Innerhalb der Bekennenden Kirche gab es dazu keinen Konsens.

Aber er entwickelte in dieser Zeit seine Theologie auch weiter in Richtung der vorher kaum wahrnehmbaren Menschlich­keit Gottes. Was passierte da genau?

In den frühen Schriften, zum Beispiel dem Römerbrief, vertritt Karl Barth die These, dass Jesus Christus der einzige Punkt ist, an dem die göttliche Tangente den menschlichen Kreis berührt. Diese Berührung ist wie ein mathematischer Punkt: Es lässt sich darüber nichts Genaueres sagen, er hat keinerlei Ausdehnung in dieser Welt. Ende der 1920er Jahre fängt Barth an, darüber nachzudenken, ob dazu vielleicht nicht doch mehr gesagt werden müsste: Muss Jesus Christus nicht so verstanden werden, dass Gott sich in ihm zeigt? Von diesem Gedanken her beginnt Barth seine ganze Theologie christologisch durchzubuchstabieren. Christus steht dafür, dass Gott sich den Menschen zwar nicht zuwenden muss, er sich aber dafür entschieden hat, dies zu tun. An ihm zeigt sich für Barth jetzt, wer Gott ist – und wer der Mensch ist.

Wenn Barth mit einer feministischen Theologin oder einem feministischen Theolo­gen am Tisch sitzen würde und diese/r die Beziehungshaftigkeit Gottes betonen würde: Würden die beiden sich streiten?

Karl Barth hat immer betont, dass Gott in sich schon beziehungshaft ist, also nur trinitarisch gedacht werden kann. Dieser Beziehungshaftigkeit innerhalb Gottes entspricht die Beziehung Gottes zu den Menschen. Streiten würden sich die beiden über die Frage, ob diese Analogie der Beziehung ihren besonderen Platz unter Menschen in der Beziehung zwischen Mann und Frau hat. Barth meinte ausserdem, dass in der Beziehung zwischen Mann und Frau die Unterschiedenheit von Mann und Frau grundlegend ist. Wenn Barth die Ansicht vertritt, dass es zwischen Mann und Frau immer eine Über- respektive Unterordnung geben müsse, ist er ganz Kind seiner Zeit.

Viele Leute verstehen Barths Theologie von Gott als dem ganz Anderen und seiner Gerechtigkeit, die sich von keinem menschlichen Handeln und Projekt vereinnahmen lässt, als zeitlose Theologie in Kontinuität von Paulus und als Fortschreibung reformatorischer Theologie. Was antworten Sie ihnen?

Barth würde vermutlich lachen über diesen Anspruch einer zeitlosen Theologie. Um eine zeitlose Wahrheit ging es ihm nie. Er verstand Gott immer so, dass sich dieser in der konkreten Zeit offenbart. Aber er hat versucht, den Gott, von dem Paulus und die Reformatoren sprachen, zu betonen. Er sah darin eine Gegenwart, die überall gegenwärtig sein kann. Das ist etwas anderes, als Zeitlosigkeit zu beanspruchen. In der Einleitung des Römerbriefes spricht er zwar davon, den ewigen Geist der Bibel wieder zur Geltung zu bringen. Das bedeutet aber nicht, dass dieser Geist zeitlich invariant spricht, sondern dass er zu jeder Zeit sprechen kann.

Sie beschäftigen sich wissenschaftlich auch intensiv mit Dietrich Bonhoeffer. Wo sehen Sie in seiner Theologie, in seinem Lebensweg die grössten Unterschiede zu Karl Barth? Wo gab es Berührungspunkte?

Beide verband eine enge Freundschaft, und sie haben sich immer wieder ausgetauscht. Der Einfluss von Barth auf Bonhoeffers Werk ist enorm. Beide waren sie entschiedene Menschen. Darin sind sie sich ähnlich. Bonhoeffer hat im Unterschied zu Barth allerdings fast gar keinen Humor [lacht]. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich bei der Arbeit zu Bonhoeffer jemals gelacht hätte. Das ist bei Barth ganz anders. Er hat eine augenzwinkernde Distanz zu seiner Ernsthaftigkeit. Bonhoeffer kommt mir dagegen fast verbissen vor. Theologisch sind sie sich darin ähnlich, dass sie sagen: Gott muss zum Menschen sprechen, der Mensch kann nicht den Weg zu Gott gehen, beispielsweise mit Religion. Deshalb orientieren sich beide an Jesus Christus. Sie unterscheiden sich darin, dass Barth meint, dass menschlicher Glaube immer Religion wird. Das geht für ihn nicht anders. Dietrich Bonhoeffer ist dagegen überzeugt, dass Glaube in der Moderne auch ohne Religion möglich ist. Die Religionsbegriffe der beiden unterscheiden sich allerdings grundlegend: Für Barth ist Religion jeder Versuch des Menschen, Transzendenz auszudrücken. Bonhoeffer hat eine eingeschränktere Beschreibung von Religion und meint nicht jede Form von religiöser Praxis, sondern bezieht sich beispielsweise auf ein bestimmtes Gottesbild. 
Einig sind sie sich auch darin, dass Kirche immer auch eine politische Wirklichkeit hat. Der lutherisch geprägte Bonhoeffer musste aber theologisch lange arbeiten, um zu legitimieren, dass Kirche sich auch direkt zu politischen Fragen äussern und sich beispielsweise in Bezug auf die Verfolgung der Juden und Jüdinnen in die Politik einmischen darf. Für Barth war das einfacher.

Nochmals zurück zu den Anfängen von Karl Barth als Theologe und Pfarrer: Wie kam Karl Barth mit den Gedanken des Sozialismus in Berührung?

Barth wurde 1911 Pfarrer in Safenwil und war dort mit dem sozialen Elend der damaligen Zeit konfrontiert. Bereits zuvor in Genf in seiner Auseinandersetzung mit Calvin kommt er zur Überzeugung, dass man sich mit den gesellschaftlichen Umständen nicht einfach abfinden muss, sondern auch etwas verändern darf. Er sagt: Was der Sozialismus will, das wollte Jesus auch. In Safenwil fängt er an, die soziale Dimension des Reiches Gottes herauszuarbeiten, das Anliegen einer sozialen und gerechten Gesellschaft. Er nimmt Kontakt mit Hermann Kutter und Leonhard Ragaz auf, liest viel, diskutiert mit seinem Freund Eduard Thurneysen und tritt auch in die SP ein. Interessant scheint mir, dass sowohl die Konfrontation mit der gesellschaftlichen Realität als auch die Auseinandersetzung mit Calvin diesen theologischen Horizont öffnet und die Überzeugung stärkt: Die gesellschaftliche Realität ist nicht von Gott so verhängt, sondern Gott gibt auch die Werkzeuge, sie zu verändern, sie gerechter zu machen.

Karl Barth schrieb 1950: «Wer den Kommunismus nicht will – und wir wollen ihn alle nicht –, der trete gerade nicht gegen ihn in die Schranken, sondern für einen ernsthaften Sozialismus.» Er sah seinen Doktoranden und Freund, den linken Theologen Helmut Gollwitzer aus Deutschland 1961 als seinen Wunschnachfolger. Gollwitzer konnte zum Beispiel sagen: «Sozialisten können Christen, Christen müssen Sozialisten sein.» Heisst das also, dass der rote Pfarrer von Safenwil zeitlebens Sozialist blieb? Wie sehen Sie den Sozialisten Karl Barth in seiner Entwicklung?

Die durch den Kommunismus aufgeworfene soziale Frage fand Barth immer drängend. Es hat ihn geärgert, dass nach dem Zweiten Weltkrieg im Westen die Meinung vorherrschte, hier seien keine sozialen Reformen notwendig. Gegen Kommunismus-Hetze hat er sich vehement eingesetzt. Andererseits war er in seinen späteren Positionen zögerlicher mit der Aussage, das Reich Gottes meine direkt eine soziale Wirklichkeit. Solchen Identifikationen gegenüber war er vorsichtig: Es gibt eben keine Identität des Reiches Gottes mit irgendeinem politischen System. Politische Systeme können höchstens Gleichnisse für das Reich Gottes sein. Da unterscheidet er sich auch von Helmut Gollwitzer.

Leonhard Ragaz warf Karl Barth, in einem polemischen Beitrag in den Neuen Wegen, vor, er hätte sich zu spät und zu wenig politisch gegen den Nationalsozialismus und insbesondere auch gegen die Verfolgung der Jüdinnen und Juden gewandt. Ist da etwas dran? Steht hier eine politi­sche Existenz einer theologischen und kirchlichen gegenüber?

Dass er zu zögerlich war, hat Barth selber so eingestanden, ja. Er bereute es, dass er sich in Barmen 1934 nicht expliziter gegen die Verfolgung von Jüdinnen und Juden geäus­sert habe. Bereits 1935 kritisierte er dies. Zurück in der Schweiz protestierte er mit dem Schweizerischen Hilfswerk für die Bekennende Kirche gegen die Reichspogromnacht und gegen die schweizerische Visapolitik für Jüdinnen und Juden. Er war zweifellos eine politische Existenz.

Karl Barth hatte einen starken Einfluss nicht nur auf die kirchliche, sondern auch auf die gesellschaftliche Debatte in der Schweiz. Heute scheint eine solche Rolle der Theologie als gesamtgesellschaftliche Reflexionsinstanz verlorengegangen zu sein. Oder fehlen ihr einfach Persönlichkeiten wie Karl Barth?

Auch damals war die Rolle von Karl Barth in der Öffentlichkeit umstritten. Er musste sich sowohl mit dem Vorwurf, zu politisch zu sein, als auch mit dem Vorwurf, zu wenig politisch zu sein, auseinandersetzen ... Er wurde massiv angegriffen, ich habe aber den Eindruck, das hat ihn kaum geschert. Das, was er sagen wollte, war ihm einfach wichtig. Auch heute geht es Menschen aus der Kirche, die sich politisch äussern, so, dass sie Angriffen ausgesetzt sind. Da braucht es schon eine Persönlichkeit, die das in Kauf nehmen kann.

Karl Barth lebte in einer Dreierbeziehung mit seiner Frau Nelly Barth und mit seiner Geliebten und theologischen Mitarbeiterin Charlotte von Kirschbaum. War es diese Lebensform, die sein theologisches Schaffen erst ermöglichte – hatte doch Charlotte von Kirschbaum erheblichen Einfluss auf sein Werk und führte seine Frau den Haushalt und zog die Kinder gross?

Aus Barths Briefen wird deutlich, dass diese «Notgemeinschaft» eine problembeladene, keine glückliche Konstellation war, auch für Barth selbst nicht. Barth nannte sie einmal die am wenigsten unvollkommene Lösung. Über die Rolle von Charlotte von Kirschbaum für Barths Werk wird viel spekuliert, bis hin zu der These, dass sie grosse Teile der Kirchlichen Dogmatik geschrieben habe. Dafür gibt es keine Belege. Die Entwürfe der exegetischen und theologiegeschichtlichen Exkurse des Buches, die oft ihr zugeschrieben werden, zeigen Barths Handschrift.

Karl Barth sah im Nationalsozialismus und in Hitler einen falschen Gott, den es radikal abzulehnen galt. In den letzten Jahren erstarken rechtspopulistische, autoritäre, ja teilweise faschistische Regimes und politische Strömungen. Wie kann da Barths Theologie wieder aussagekräftig werden?

Zunächst mal sagt Karl Barths Theologie sehr klar, dass kein Nationalismus und kein Rassismus christlich legitimiert werden können. Gott lässt sich mit keiner Ideologie identifizieren. Weiter betont sie, dass Gott sich allen Menschen zuwendet. Das ist der Grundtenor seiner Theologie: Gottes Ja zu den Menschen gilt unbedingt. Das hat zur Folge, dass man zwischen den Menschen keine scharfen Grenzen ziehen kann. Dazu gehört sicher auch, dass Barth sich immer wieder fragt, an welchen Werten sich der Staat orientieren soll. Das sind Werte wie Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit. Von Wohlstand oder Sicherheit ist da nicht die Rede.

Wo beziehen Sie sich in der Auseinandersetzung mit der Gegenwart auf Karl Barth? Wo würden Sie ihn gerne zu Wort bringen?

Mich persönlich interessiert besonders die Frage nach der Zukunft der Kirche. Ich fände es sinnvoll, wieder mehr von Gott zu sprechen als von Religion, von den Erwartungen an die Institution Kirche und menschlichen Bedürfnissen. Auch in einer säkularen Gesellschaft müsste die Kirche deutlicher als Kirche sichtbar werden.

Christiane Tietz: Karl Barth. Ein Leben im Widerspruch. München 2018