Zum 1. Mai – von Arbeit, ­Freizeit und Befreiung

Silvia Schroer, 1. Mai 2023
Neue Wege 5.23

Arbeit ist kein Zweck, die Menschen sind nicht als Dienstpersonal geschaffen. Arbeit muss dem Leben dienen. Zu Zufriedenheit und Glück gehört die Pause. Der Sabbat ist ein einzigartiger Beitrag der jüdischen Religion zur Kulturgeschichte der Menschheit.

Mit einem grossen Hymnus von ­Gottes Erschaffung der Welt öffnet Genesis 1–2,4 das Portal zur gesamten Bibel. Die Krone der Schöpfung, des schöpferischen Tuns oder des erschaffenden Wortes ist nicht, wie oft behauptet wird, der Mensch, sondern der Sabbat, der Ruhetag, den Gott sich nimmt. Es gibt zwei biblische Traditionen, welche die Einrichtung des Sabbats in Israel und die Verpflichtung zu ihm begründen. Der Dekalog im Buch Exodus (20,11) ­verweist auf die göttliche Ruhezeit am siebten Tag der Schöpfung. Der Dekalog im Buch Deuteronomium (5,15) bezieht sich auf die Erfahrung der Sklaverei in Ägypten.

Der Sabbat ist ein einzigartiger Beitrag der altisraelitischen und jüdischen Religion zur Kulturgeschichte der Menschheit. Er verdichtet und verknüpft Gottes­bild und Menschenbild der biblischen Welt und ist natürlich untrennbar mit dem Thema Arbeit verbunden. Denn Arbeit, eine Arbeitswoche, ist nicht nur das Vorangehende, sondern die Voraussetzung für die Feier des Sabbats. Und auch wenn der 1. Mai kein Datum im Kirchenjahr ist, haben wir am internationalen Tag der Arbeit guten Grund, verantwortungsvoll und auch mit Stolz auf die Ursprünge dieser kulturprägenden Sabbat- und Sonntagstradition zu blicken und sie im Zusammenhang unserer Lebenswelt immer wieder neu zu lesen.

Arbeit als Notwendigkeit

Arbeit bedeutet für Menschen in erster Linie, den Lebensunterhalt zu beschaffen. So sehen es die Schriften des Alten und des Neuen Testaments. So erzählt es die biblische Urgeschichte. Die beiden erstgeschaffenen Erdlinge greifen nach der Erzählung in Genesis 3 trotz Verbot nach den Früchten des Baums der Erkenntnis. Das hat Folgen: Gott setzt sie vor die Tür des Paradiesgartens. Gott nimmt ihnen ihre «Beute», das «Erkennen wie Gott», zwar nicht wieder weg und gibt ihnen auch noch Kleider mit auf den Weg. Aber der Weg in den Garten ist für immer versperrt, da gibt es kein Zurück. Und der Gedanke daran, sich womöglich noch die Unsterblichkeit zu ergaunern, nämlich von den Früchten des zweiten Baumes, ist damit auch für immer vom Tisch. Mann und Frau sind fortan nicht mehr nur ein Paar, sondern eine Überlebensgemeinschaft. Es fallen ihnen keine Früchte von den Bäumen eines Gartens in den Schoss, sondern sie müssen hart arbeiten und sich fortpflanzen, um zu leben. Die Mühsal dieses Lebens ergibt sich gleichermassen durch das Aufziehen von Kindern und die Schufterei auf dem steinigen Ackerland. Lohnarbeit ist dabei noch gar nicht im Blick, sondern erweiterte Subsistenz­wirtschaft und Care-­Arbeit, beides eng miteinander verflochten.

Im Licht dieser mythischen biblischen Erzählungen erscheint Arbeit nicht gerade als das Nonplusultra menschlicher Existenz. Nach Genesis 2–3 ist sie im Paradiesgarten leicht, dann allerdings wird sie zur Notwendigkeit. Die Arbeit steht aber auch nicht in einem schlechten Licht. Der Vergleich mit mesopotamischen Schöpfungsgeschichten zeigt: Der biblische Erdling wird nicht dazu geschaffen, den arbeitsüberdrüssigen Göttern oder einem Gott Entlastung zu verschaffen. Arbeit ist kein Zweck, Gott erschafft die Menschen nicht als Dienstpersonal, um davon selbst zu profitieren, um eine Hierarchie herzustellen, um unliebsame Arbeiten zu delegieren.

Das Wichtige ist die Pause

Der Höhepunkt der ersten Schöpfungsgeschichte ist nicht die Erschaffung des Menschen, sondern der Sabbat. Die Vorstellung, dass ein Schöpfergott, nach getaner Arbeit sozusagen, Pause macht, gibt es andeutungsweise zwar auch in einem ägyptischen Schöpfungstext, nämlich dem sogenannten Denkmal memphitischer Theologie, das auf die Priesterschaft des Gottes Ptah von Memphis zurückgeführt wird. Das Pausieren des Schöpfergottes ist aber in der biblischen Erzählung viel zentraler. Gott stellt zunächst fest, dass die Qualität des Geschaffenen super ist, tov meod. Das wichtigste Gütesiegel oder «Like» aller Zeiten sozusagen. Gottes Wirken – in Genesis 1 durch machtvolle Zauberworte – ist abgeschlossen und erfolgreich. Und dann ruht Gott sich aus, schabat im Hebräischen bedeutet «aufhören», und segnet und heiligt den siebten Tag. Dieser Tag wird aus dem Alltag herausgehoben, er wird gesegnet, das heisst, er soll Leben fördern und stärken.

Die Einrichtung des Sabbats als Institution bezieht sich zurück auf Gottes eigenes Bedürfnis, auszuruhen, eben Pause zu machen. Menschen, auch den Sklav*innen, und auch Arbeitstieren wird dieser Sabbat in Israel zugestanden: Einen Tag lang sollte das geschäftige Wirken, die Arbeit im Haus, auf dem Feld, auch der Handel ruhen. Die Vorschrift war, wie wir aus Bemerkungen zum Beispiel im Buch Nehemia (13,15–21) entnehmen, nicht allseits beliebt. Ursprünglich war der Sabbat ein Vollmondfest. Erst im Exil wurde er kalendarisch als wöchentlicher Ruhetag bestimmt, der die Gemeinschaft der Exilierten festigte und sie in ihrem JHWH-Glauben zu stärken vermochte, weit weg von ihrer Heimat und ohne den Tempel. Nicht der Tempel als Ort, sondern ein Tag der Ruhe wird zum Bindeglied zwischen Himmel und Erde, zur Quelle des Segens.

Was für eine Errungenschaft! Nicht die Arbeit wird idealisiert, sondern die Pause, die Kreativität und Schaffenskraft abschliesst und erneuert. Wenn Gott und Mensch sich ähnlich sind, dann eben auch darin, dass sie nicht ununterbrochen produktiv sein können. Die Gottebenbildlichkeit hat auch mit diesem Grundbedürfnis und dieser Grenze zu tun. Menschen sollen Gott nachahmen und ausruhen. Allerdings, mag man einwenden, wirkt Gott nach sechs Tagen ­Schöpfung «durch das Wort allein» nicht sehr erschöpft. Gottes Arbeit ist eher ein künstlerisches Wirken. Aber dieser Glanz des Schöpferischen fällt auch auf menschliche Arbeit.

Harte Arbeit

Viele Aspekte der Arbeit kommen erst mit dem Verlassen des Paradiesgartens auf die Erdlinge zu. Ohne Arbeit kein Lebensunterhalt. Dass der einzige Sinn menschlichen Lebens in der Arbeit liege, wird jedoch in der biblischen Tradition nicht behauptet. Die Exodustradition hält fest: Arbeit unter Zwang und Unterdrückung, Fronarbeit, ist grauenvoll und Grund genug, die Flucht zu ergreifen, um sich zu retten, sogar unter Lebensgefahr. Trotzdem kam es auch in Israel in Folge von Verschuldung zu Versklavung von Menschen, auch Kindern.

Die Möglichkeit, sich das Leben mit harter Arbeit zu verdienen, war in einem vom Regen abhängigen Land wie Israel/Palästina nicht garantiert. Einer Dürre folgte bald einmal die Hungersnot. Um ihr zu entrinnen, zogen Abraham und Sara nach Ägypten oder Noemi und ­Elimelech im Buch Rut nach Moab. In beiden Nachbarländern war es möglich, zumindest vorübergehend zu bleiben oder sich eine neue Existenz aufzubauen, wenn es in Israel keinen Regen gab.

Durch Kriegszüge, ob im Land oder von imperialen Nachbarstaaten ausgelöst, wurde die dringend nötige Arbeit auf den Feldern verhindert. Männer mussten in den Krieg ziehen, zurück blieben Frauen, Kinder und Alte. Die Ernte wurde zerstört oder von einem feindlichen Trupp aufgegessen oder den Kriegspferden verfüttert, Obstbäume wurden von feindlichen Soldaten umgehackt. Krieg zerstörte in wenigen Tagen, was über Jahre mühsam errichtet wurde: Häuser, Mauern, Terrassierungen und Pflanzungen auf den ­Feldern. Und in diesen Monumenten, die in ­gemeinsamer Arbeit erbaut wurden, wenngleich sie in Israel weit bescheidener waren als im ägyptischen Gisa mit seinen Pyramiden oder in Babylon mit all seiner Pracht, steckte auch Stolz. Gebäude wie Tempel und Paläste, Stadtmauern mit Toren oder grosse Strassen, aber auch Gärten, Weinberge und Felder – das ist grosse Arbeit menschlicher Hände, Kreativität in Stein, Botschaft für die nächsten Generationen.

Krieg und Krankheit gefährden die Arbeit zum Lebensunterhalt und die Produktion von Werten. Das haben wir in jüngster Zeit vorgeführt bekommen, und das wird global immer drastischer sichtbar. Nicht nur fliehen Millionen Menschen aus der Ukraine und wird dort zerstört, was über Generationen hinweg aufgebaut wurde, ganze Städte, sondern dort wird das Getreide für den weltweiten Handel nicht mehr produziert oder kann nicht exportiert werden. Und die Corona­pandemie hat uns vor der eigenen Haustür gezeigt, wie rasch ein ganzer Arbeitsmarkt zu Boden geht, wenn eine Seuche grassiert, oder wie abhängig wir sind von Importen, die durch Lockdowns in weit entfernten Ländern blockiert sind. Friede, zumindest Nicht-Krieg, und Gesundheit sind Voraussetzungen für menschliche Arbeit und wirtschaftliche Produktion.

Der Wert der Arbeit und der Wert der Musse

Arbeit hat in der christlichen, insbesondere auch in der reformatorischen Tradition einen hohen Stellenwert, weil sie Sinn und Identität stifte. Die biblischen Texte thematisieren diese Aspekte weniger. Es wird vielmehr schlicht vorausgesetzt, dass die nötige Arbeit, meistens der Hände Arbeit, Sinn macht. Der Psalm 104 beschreibt den Menschen, der bei Sonnen­aufgang an sein Tagewerk geht, fast als Teil der Natur. Kinder mussten früh anfangen zu helfen, Alte arbeiteten mit, solange es irgendwie ging, und konnten froh sein, wenn sie erwachsene Kinder hatten, die ihnen über ihre letzten Jahre den Unterhalt gaben. Wenige ­Männer konnten sich damals leisten, zum Beispiel in der Verwaltung oder am ­Tempel Dienstleistungen zu erbringen.

Wie viele Dinge haben sich im Bereich der Arbeit in unserer Erfahrungswelt, auch über ein einzelnes Menschen­leben hin, völlig verschoben. Es gibt riesige Gegensätze und Extreme auf diesem ­Globus: dort Versklavung und Kinder­arbeit, Arbeitslosigkeit und Verelendung, wo man hinschaut. Umgekehrt in den ­reichen Ländern: teure, oft mehrere Ausbildungen, Diskussionen um eine Vier­tagewoche oder das Pensionsalter. Wenn wir die Errungenschaften in unseren reichen Ländern global umgesetzt sähen, könnten wir sie mit besserem Gewissen geniessen. Im 21. Jahrhundert sind gute Arbeitsbedingungen und gerechte Löhne in vielen Ländern und Branchen, vom Strassenbau bis zu den Pflegeberufen, in weiter Ferne. Was ist der Wert welcher Arbeit? Was definieren wir als Arbeit? Technik und Computer ermöglichen uns, von zu Hause aus zu arbeiten. Aber was passiert mit uns, wenn die Trennung des privaten Lebens von der Erwerbsarbeit aufgegeben wird?

Die biblische Tradition ist, was die Arbeit angeht, bodenständig, nicht zuletzt weil sie auf Landwirtschaft fusst: Arbeit ist not-wendig, sie darf nicht in Fron ausarten. Ein Menschenleben sollte nicht nur aus Plackerei bestehen, und der Sinn des Lebens ist nicht die Arbeit, sondern eher die Ruhe nach der Arbeit und bescheidener Genuss. Der Sabbat als Pause nach einer Arbeitswoche hat eine eigene Qualität, und die ist eng verbunden mit dem Zeitgefühl und mit der gemeinschaftlichen Verbindlichkeit. «Freizeitgestaltung» als ständiges Programm hingegen kann anstrengend sein, ob in den Ferien oder in der Rentner*innenzeit. Arbeit und Sabbat hingegen machen den Alltag zu einem Rhythmus, sie schaffen einen Grossteil unserer Zeitwahrnehmung. Mir selber fällt es schwer, ohne diesen Rhythmus auszukommen. Wenn allerdings der Sonntag nicht mehr für alle Sonntag ist, zumindest was die vereinbarte Sonntagsruhe beim Geschäften betrifft, dann geht er uns voraussichtlich verloren. Die Institution der Siesta funktioniert auch nur, wenn alle die Mittagsruhe einhalten. Und was macht den Sabbat zum Sabbat, den Sonntag zum Sonntag? Kein Programm, sondern Musse, ein bisschen Faulsein, und vielleicht sogar die ­Erlaubnis, sich zu langweilen.

Wird im Reich Gottes nicht gearbeitet?

Wie verschieden sind doch die Lebensläufe, wie verschieden die Erfahrung von Arbeit, Arbeitenkönnen, Arbeiten­wollen, Arbeitenmüssen und Nicht-­arbeiten-Können oder -Dürfen. Ich möchte zum Schluss Fragen stellen, die uns die biblischen Texte mitgeben, auch wenn sie von einer so anderen Lebenswelt als der unsrigen geprägt sind. Wie sehr gehört welche Arbeit zu mir als Mensch? Arbeite ich, weil ich muss, «lebe» ich erst am Feier­abend, oder rette ich mich von einem Sonntag oder Urlaub zum nächsten? Arbeite ich viel, weil ich viel Geld für meinen Lebensstandard brauche? Macht mich mein Arbeitsumfeld krank? Oder bin ich so inmitten meiner Arbeit, dass ich mich in ihr nicht nur erschöpfe, sondern auch wieder regeneriere? Wann stellt sich bei mir das Gefühl ein, gearbeitet zu haben? Nach Lohnarbeit oder auch nach Betreuungsarbeiten? Gehört die Arbeit zu unseren persönlichen und gesellschaftlichen Utopien, oder sind wir einfach froh, wenn wir weniger Arbeit haben und mehr Zeit für – ja wofür? Wofür sind wir auf Erden, wenn nicht zum Arbeiten? Wird im Reich Gottes nicht gearbeitet? Was erscheint uns wesentlich für unser Menschsein, kollektiv und auch ­individuell? Was ist «Zutat», die sich im Eschaton, am Ende der Zeiten, erübrigt, aufhebt?

Die biblische Tradition enthält ­Kritik an einer Überhöhung von Leistung und Arbeit. Aber sie birgt auch das Potenzial, auf der Bedeutung von Arbeit zu bestehen: Die Gottebenbildlichkeit bedeutet auch, dass Gott und Mensch «etwas tun» und sich im Tun verwirklichen. Nicht ein Übermass an Arbeit, sondern die Ausgewogenheit, das Pendeln zwischen Arbeit und Ruhe ist wichtig für Zufriedenheit und Glück. Die beiden biblischen Begründungen für den Sabbat sind dabei Leitplanken: Sogar Gott nahm sich einen freien Tag, um das zu geniessen, was geschaffen war, und sich auszuruhen. Dazu kommt die Befreiung aus der Unterdrückung und Zwangsarbeit, von der im Buch Deuteronomium (5,13–15) die Rede ist: «Sechs Tage sollst du arbeiten und all dein Werk tun; aber der siebte Tag ist ein Ruhetag, JHWH, deinem Gott, geweiht. Da sollst du keine Arbeit tun […]. Denke daran, dass du Sklave gewesen bist im Land Ägypten und dass JHWH, dein Gott, dich von dort heraufgeführt hat mit starker Hand und ausgestrecktem Arm. Darum hat dir JHWH, dein Gott, geboten, den Ruhetag zu halten.»●

Dieser Text ist die bearbeitete Fassung einer Predigt, die am 1. Mai 2022 in der Münster­gemeinde Bern ­gehalten wurde.

  • Silvia Schroer,

    Silvia Schroer, *1958, ist seit 1997 Professorin für Altes Testament an der Theologischen ­Fakultät der Universität Bern und seit 2017 Vizerektorin der Universität.