An der Corniche in Beirut geht jeden Abend die Sonne unter. Wie überall auf der Welt. Nur – hier versinkt sie als riesiger, leuchtendorangener Ball im Meer. Im Zeitlupentempo, als wünschte sie allen einzeln eine gute Nacht. Den Fischern, die reglos auf den hohen, stelzenähnlichen Steinen am Meeresufer sitzen, die Ruten weit ausgeworfen. Den Familien, die mit Kind und Kegel auf der Strasse oder im Sand picknicken – in ihrer Mitte den halben Hausrat ausgebreitet –, reden, lachen, und irgendwo tönt immer auch noch das Radio. Den Jugendlichen, die ihre neusten Frisuren und Sneakers beim Spaziergang ausführen. Und den Liebespaaren. Ihnen vor allem, sie, die die Romantik des Sonnenuntergangs empfinden wie niemand sonst.
Es ist ein magischer Moment. Der kosmische Rhythmus, die grosse, allumfassende Geborgenheit. Und die Gewissheit, dass sie morgen wieder aufgeht, die Sonne. Dass es wieder Tag wird. Auch in diesem unsicheren Libanon? Als ich nach Beirut zog, kannte ich keine Menschenseele in dieser Stadt. Nirgends ein Stück vertrauter Boden. Alles scheinbar fremd. Und doch fühlte ich mich von der ersten Stunde an zuhause und geborgen. In einer Stadt, die alles gleichzeitig lebt und ist. Chaos und Idylle. Schönheit und Hässlichkeit. Liebe und Hass. Zärtlichkeit und Grausamkeit. Extrem in allem. Ein gezeichneter Ort. Wunden und Narben überall. Tiefe Spuren der Kriege. Der politischen, ethnischen, religiösen Spannungen. Der importierten Konflikte. Ein Land, zum Zerreissen gespannt. Seit langem und immer noch. Es ist immer alles möglich.
In meinem Quartier gehörte ich von Anfang an dazu. Jeder und jede, der oder die mich willkommen hiess, tat dies mit der Bemerkung: «Bleib möglichst lang in unserem Land!» Irritierend schön. Unerwartet und ungewohnt. Ich lernte eine bedingungslose nachbarschaftliche Hilfsbereitschaft kennen, diskret und voller Respekt. Ein weit gesponnenes Netz umgab mich, fast nur als Hauch wahrnehmbar. Es konnte mir nichts passieren.
Beirut – Geborgenheit. Beirut, Geborgenheit? Es ist Stress pur. Alle sind immer auf Empfang, in der Erwartung schlechter, dramatischer Nachrichten. Alles, was ist, kann im nächsten Moment nicht mehr sein. Oder ganz anders. Am Abend Kaffee an der Corniche, am nächsten Morgen Krieg. So ist es geschehen. Zwischen Normalität und Ausnahmezustand liegen nur ein paar Stunden. Nichts mehr, woran man sich halten kann.
Das Konzept der Sicherheit, das westeuropäische, schweizerische, löst sich auf. Unvorstellbar, dass man je daran glauben konnte. Weit weg und absurd. Der freie Fall, nichts mehr, was hält, nur Leere. Aber dann kann es geschehen, dass man gehalten wird. Im fremden Land, unter fremden Menschen. Man sieht – ungläubig zuerst, dann mit grossem Staunen –, wie die Leute in der Nachbarschaft ihren Alltag weiterleben. Stoisch. Unbeirrt.Man erlebt kleine Gesten der Stärke, der Nähe, der Gemeinschaft. Vieles nur angedeutet, ohne Worte. Abends brennen in anderen Häuser die Lichter: Man atmet auf. Keiner ist weg. Draussen im Hof spielen die Kinder: Man hört zweimal zweimal hin und lächelt.
Am Nachmittag klingelt es, der Hauswart fragt, wie es geht: Der Puls beruhigt sich. Der ganz banale, nie geschätzte Alltagstrott wird zur grössten Kostbarkeit. Zur Mauer vor dem Abgrund. Das Da-Sein der anderen wird zum Wichtigsten überhaupt. Durch sie spürt man langsam wieder Boden unter den Füssen, fragil und dünn, aber immerhin. Die Angst ist bei allen da. Und sie wird auch nicht verschwiegen. Aber sie ist nur eines von vielen Gefühlen, nicht übermächtig, nicht lähmend, nicht unheimlich. Nicht fremd und nicht neu. Denn die Bedrohung des Lebens ist hier keine theoretische Gefahr, sondern Erfahrung. Genauso das tiefe Wissen, dass man das eigene Leben nicht in seiner Hand hat. «Inschallah», oft als Floskel dahingesagt, hat in schweren Zeiten einen ganz anderen Klang. Ernst, nicht bitter und nicht zweifelnd. «So Gott will.» Es ist nicht der Fatalismus, der mit Resignation einhergeht oder Ohnmacht. Es ist die Erfahrung, dass man das Leben nicht versichern kann. Wenn es das Schicksal will, dann überlebt man. Dagegen hat die Angst keine Chance.
Krieg ist Ausnahmezustand. Aber mein Verständnis von Sicherheit hat sich auch in friedlichen Zeiten in Beirut gewandelt. Zum Beispiel in der Begegnung mit Libanesinnen meiner Generation. Frauen, im selben Jahr wie ich geboren: 1975, als der Bürgerkrieg begann, waren sie zwanzig Jahre alt. Fünfzehn Jahre später endete er. Für viele hat das konventionelle Erwachsenenleben gar nie begonnen: Ausbildung, Studium, Gründung einer Familie, all das Normale, das war nicht. Weil sie immer warteten, dass der Krieg aufhört und das Leben beginnt. Zuerst waren es Tage, dann Wochen, dann Jahre. Bis heute leben sie von der Hand in den Mund, schmales Einkommen, keine Versicherungen, keine Aussicht auf Rente. Kein Netz. Sich einrichten im Leben, Agenda füllen mit Plänen, das gibt es für sie nicht. Wie geht das, ein solches Leben? Ich habe sie beobachtet, mit ihnen gelebt.
Und ich habe ein Leben der Improvisation und der Intensität gesehen. Hart, herausfordernd, gleichzeitig kreativ und oft frei. Einzelne radikal unabhängig. Nicht, dass diese Frauen immun wären gegenüber materiellem Besitz, Konsum, den schönen Dingen, auch den nutzlosen und überflüssigen. Nein, sie geniessen sie. Aber, sie können sie leicht loslassen. In existenziellen Situationen ist die Habe ohne Wert. Und der Tag morgen hat kein Gesicht. Weisses Feld, keine Ahnung, ob man es betritt. Rufen Sie in Beirut einen Spengler an, um ihn zu fragen, ob er in den nächsten Tagen ... Zwei Stunden später steht er in Ihrer Küche. Immer jetzt.
Die LibanesInnen haben es gelernt. Mindestens fünfzehn Jahre lang, wo es nur darum ging, das nackte Leben zu retten. Ohne alles. Das ist wie ein Engramm, eine Spur im Gehirn, unauslöschlich. Zwei Drittel der jungen LibanesInnen, die ihr Studium abschliessen, haben heute keine berufliche Chance im eigenen Land. Obwohl sie gut ausgebildet und meist zwei- oder dreisprachig sind. Eine neue Generation, die in Unsicherheit lebt. Auch sie muss improvisieren, durchhalten, Risiken eingehen. Auch ihr Morgen hat keine Konturen.
Auswandern, weggehen, den Rücken kehren. Das liegt auf der Hand. Aber die meisten dieser Jungen gehen einen anderen Weg: Sie verbringen zwar einige Zeit im Ausland, bauen sich dort etwas auf – aber sie kehren zurück oder bleiben mit einem Bein immer in ihrem Land. Spagat kann man es nennen. Oder Brücke. Es ist, als wären sie – trotz allem – in ihrem unsicheren Land, in ihrem unsicheren Leben zuhause. Als hätten sie das kleine Gedicht von Erich Fried verinnerlicht, ohne es zu kennen: «Woher käme der Tag, wenn die Nacht keine Türe hätte?»
In der Kolumne Alltag in ... beschreiben die Journalistin Iren Meier und die Poetry Slammerin Fatima Moumouni abwechselnd das, was sie an den Orten, an denen sie sich bewegen, beobachten - von Zürich bis in den Nahen Osten.
*1955, lebt in Bern und berichtet hauptsächlich über die Türkei und den Iran. Seit 1981 arbeitete sie als Journalistin bei Radio SRF. 1992 bis 2001 war sie Korrespondentin für Osteuropa und den Balkan mit Sitz in Prag und Belgrad. 2004 bis 2012 arbeitete sie als Nahostkorrespondentin in Beirut.