Wer hört die Stimmen der Ökumene?

Matthias Hui, 24. Oktober 2022
Neue Wege 10/11.22

Die Kirchen sind da. Und sie haben einiges zu sagen. Vom 31. August bis zum 8. September 2022 trafen sich im Kongresszentrum Karlsruhe Menschen aus 350 Kirchen zur 11. Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen. Aber wer hört die oft eindringlichen, berührenden Stimmen vom ganzen Globus? In der Schweiz berichteten die Medien kaum. Wer nicht zum Club gehört, hört nichts.

Zum Beispiel vom Kampf der indigenen Munduruku-Gemeinschaften in Brasilien. Vertreter­innen der Munduruku erhoben ihre Stimme sowohl am Rand der offiziellen Vollversammlung als auch in der Casa común – ­einem Begegnungsort für prophetische Ökumene deutscher Basisbewegungen, an dem sich auch Neue Wege und die Migrationscharta beteiligten. Die Brasilianerinnen erzählten vom Kampf gegen gigantische Staudamm­projekte, Eisenbahnlinien und Goldminen am Rio Tapajós, mitten im Amazonasgebiet. Die Aus­beutung von ­Bodenschätzen, Energiequellen und Anbau­flächen frisst sich gewaltsam in ihre Lebensräume, in ihr Gemeinschaftsleben und in ihre Seelen hinein. «Wir werden im Kapitalismus allein gelassen.» Es sind vor allem ­Frauen, die sich wehren: «Wir werden uns nicht korrumpieren lassen, wir werden nicht weichen.» Denn, so sagen sie auch in spiritueller Sprache: Es geht um alles. Nicht nur um Menschenrechte, nicht nur um den Regenwald. «Die Natur sind wir. ­Unsere Lebensweise ist unsere Umwelt. Wenn ich atme, lebt der Planet.» Die Landpastoral CPT der katho­lischen Kirche Brasiliens und der ökumenische Nationale Kirchen­rat unterstützen die Kämpfe der indigenen Bevölkerungen.
­In den westlichen Kirchen werden diese Stimmen kaum gehört. Der Sojaanbau grassiert – gigantische Waldflächen werden für den Fleischverzehr im Globalen Norden gerodet. Ökumene wäre, wenn europäische Kirchen, in Verbindung mit ihren Schwesterkirchen, vom Leiden und Kämpfen der indigenen Völker berichteten und Solidarität übten. Wenn bei uns Nahrung nicht mehr entlang einer Profitkette in den Händen weniger organisiert wird, lebt der Planet.

Der lebende Planet: Auf der Suche nach einer gerechten und nachhaltigen globalen Gemeinschaft – so heisst ein überzeugendes Schlussdokument der Vollversammlung. Der Text nimmt Abschied von einem anthropozentrischen Verständnis der Schöpfung. Die Zeit laufe angesichts der Zerstörung und des Klimanotstands davon. ­Diese Ver­sammlung sei die letzte ­Chance für Kirchen, gemeinsam zu handeln und zu verhindern, dass der Planet unbewohnbar werde. Dem Verbrauch fossiler und nuklearer Energie müsse ohne Verzögerung ein Ende gesetzt werden. Die reichen Staaten und Bevölkerungen seien in der Verantwortung für Schadensbegrenzungen und Reparationen. Die verletzlichsten Gruppen, darunter die indigenen Völker, müssten zuerst gehört werden. «Grüne» Wirtschaft führe oft zu neuem Kolonialismus. Gefordert seien eine neue Finanzarchitektur, gerechte Steuersysteme und die ­radikale Abkehr von fossiler, rüstungs­orientierter und jeglicher lebens­zerstörerischer Wirtschaft. Das Dokument ist eine gehörige Hausaufgabe für die Schweizer Kirchen. Setzen sie sich an die Arbeit? Hören wir hin?

Die Vollversammlung hat gezeigt, wie schwierig es sein kann, auf Menschen und auf Kirchen zu hören, die Erfahrungen beschreiben von Gewalt und Krieg, von Unterdrückung und Zerstörung, von Nicht-Wahrnehmung und Ausgrenzung. Welche Formate, die Empathie und Konflikte nicht scheuen, und wie viele Stunden Zeit wären nötig gewesen, um auf die Zeugnisse der Vertreter*innen aus der Ukraine wirklich zu hören? Und wie hätte gleichzeitig eine prophetische Aussage der Kirchen formuliert werden können, die der Aufrüstung und der Rede vom gerechten Krieg, Natio­nalismus und russischem wie jedem anderen Imperialismus, aber auch dem selbstgerechten Identifizieren alles Bösen allein in ­Moskau eine fundierte Absage erteilt?

Auch kaum gehört wurden in Karlsruhe die Palästinenser*innen. Der Druck aus der deutschen Politik und Kirchenpolitik war enorm. Palästinensischen Delegierten wurde es verunmöglicht, die Situation, in der sie leben, im Plenum beim Namen zu nennen: Apartheid. Diese völkerrechtlich untermauerte Analyse der Realität in Israel/Palästina zu stützen, wie dies einzelne US-amerikanische Kirchen bereits tun, würde Konflikte auslösen. Die Ökumene würde herausgefordert. Bei der Überwindung des Apartheidsystems in Südafrika spielte der Ökumenische Rat der Kirchen keine geringe Rolle. Immerhin heisst es jetzt im entsprechenden Schlussdokument aus Karlsruhe, dass Apartheid für die einen treffende Beschreibung der palästinensischen Realität, für andere ein unangemessener Begriff sei. Deshalb müssten Kirchen fortfahren, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Noch eine ökumenische Hausaufgabe. Die Schweizer Kirchen waren da, unauffällig zwar. Aber wer die Ohren offen hatte, vernahm, bei aller ökumenischen Unverbindlichkeit und Unbeweglichkeit, in Karlsruhe ein paar unüberhörbare Schreie.●

  • Matthias Hui,

    *1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation humanrights.ch.