Von der Saffa 1958 zum Frauen*streik 2019

Dolores Zoé Bertschinger, Evelyne Zinsstag, 16. Juli 2020
Neue Wege 6.20

Am landesweiten Frauen*­streik im Juni 2019 stellten sich Frauen aller Genera­tion­en auf die Schultern ihrer Vor­kämpfer­innen. Zu diesen gehören die Protagonistinnen der ökumenischen Frauen­bewegung. Bereits in den 1950er Jahren stellten diese dem geltenden Frauen­bild alternative Modelle gegenüber.

Am 14. Juni 2019 führten schweizweit Hunderttausende Frauen den Frauen*streik durch. In den Wochen davor herrschte unter den Organisatorinnen fiebrige Aufregung: Würden es so viele Frauen werden wie 1991? Alle zogen Kraft aus diesem Momentum der Schweizer Geschichte, das sich unauslöschlich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt hatte. Und dann war der grosse Tag da. Eine Explosion von Aktionen, Umzügen, Reden und Partys. Und dabei leuchteten auch immer wieder die pinken Ansteckbuttons der Aktion «Gleichberechtigung.Punkt.Amen» auf. Die Aktion für Gleichberechtigung in den Kirchen wurde vom Schweizerischen Katholischen Frauen­bund SKF lanciert und erfuhr breite ökumenische Unterstützung durch die Evangelischen Frauen Schweiz EFS, die feministisch-theologische Zeitschrift FAMA, die IG feministische Theologinnen und viele Einzelpersonen und Gemeinden. Eine feministische und ökumenische Aktion. Für feministische Theologinnen ist es wohl ein Pleonasmus, diese beiden Adjektive hervorzuheben. Eine Freundin antwortete uns auf die Frage, ob ihre Gottesdienste mit Frauen auch ökumenisch gewesen seien, dezidiert: «Etwas anderes konnten wir uns gar nicht vorstellen!» Für Frauen aus der «säkularen» Frauenbewegung, die sich wenig mit Religion und Glaube beschäftigen, ist es darum wichtig, zu betonen: Die kirchliche Frauenbewegung ist seit ihren Anfängen ökumenisch. Sie hat damit etwas geschafft, was der männerdominierten Mehrheitskirche bis heute nicht gelungen ist.

Ökumenische Pionierinnen

Die Anfänge der ökumenischen Frauenbewegung gehen in der Deutschschweiz auf einen Anlass zurück, der wie der Frauen­streik 1991 eine wichtige Station in der Geschichte der Schweizer Frauenbewegung markiert: die «Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit» (Saffa) 1958 in Zürich. In der Vorbereitungszeit der Saffa 58 hatten einige Frauen, die den evangelischen Schwestern von Grandchamp nahestanden, die Idee, für die Ausstellung einen Raum der Stille zu schaffen. Daraus entstand der «Gottesdienstraum der Saffa», der vom Katholischen Frauen­bund SKF, vom Evangelischen Frauenbund EFS (heute: Evangelische Frauen Schweiz) und vom Verband Christkatholischer Frauen der Schweiz VCF gemeinsam betrieben wurde. Eine wichtige Protagonistin des «Saffa-Kirchleins», wie es bald von allen genannt wurde, war die evangelische Theologin und Journalistin Marga Bührig (1915—2002), die in ihrer Autobiografie Spät habe ich gelernt, gerne Frau zu sein (1987) die Aktivitäten rund um das Kirchlein beschreibt.

Es war das erste Mal überhaupt, dass an einer schweizerischen Landesausstellung eine Kirche aufgebaut wurde. Die Chef­architektin der Saffa höchstpersönlich, Annemarie Hubacher-Constam, entwarf den modernen Sakralbau. Er wurde in der Nähe des Haupteingangs aufgestellt. So wurde das Kirchlein zwar von allen Besuchenden bemerkt, stand aber auch etwas verloren ausserhalb der eigentlichen Ausstellung. Das Saffa-Kirchlein, innen ein schlichter Andachtsraum mit Kreuz und einem Wandteppich der Zürcher Künstlerin Lissy Funk, bot 250 Sitzplätze. Das Programm im Kirchlein war dicht. Die Katholikinnen sorgten täglich für eine Morgenmesse, die Protestantinnen hielten jeden Abend eine Andacht ab. An den Sonntagen fanden Gottesdienste aller Konfessionen statt, an einem Wochenende gar eine «überkonfessionelle Tagung» zum Thema «Die Frau in Kirche und Welt», und zweimal wurden sogenannte «Mütterabende» abgehalten.

«Das grösste ökumenische Ereignis aber war», so schreibt Marga Bührig in ihrer Autobiografie, «das gemeinsame Mittagsgebet. [...] Dieses Mittagsgebet war der stärkste Anziehungspunkt in unserem Kirchlein. [...] Wenigstens einmal am Tag wurde im Gebet der Graben übersprungen, der die Konfessionen immer noch trennte, und es waren Frauen, die taten» (S. 112). Täglich strömten über 10 000 Besuchende ins Kirchlein. Die Mittagsgebete waren bis auf den letzten Platz besetzt, und zu den sonntäglichen Veranstaltungen mussten regelmässig gegen hundert Personen abgewiesen werden, weil sie weder im Andachtsraum noch im Vorraum Platz fanden. Anscheinend hatte sich rasch herumgesprochen, dass im Saffa-Kirchlein gemeinsam gebetet wurde, und viele reagierten begeistert: «Seid ihr endlich so weit!?»

Auf Marga Bührig und diejenigen Frauen, die regelmässig anwesend waren, machte das Saffa-Kirchlein nachhaltig Eindruck. Katholikinnen und evangelische Frauen hatten hier einen Raum geschaffen, in dem sich eine neue – eine ökumenische oder, wie sie es damals nannten, «überkonfessionelle» – Praxis Bahn brach. Dies war keine Selbstverständlichkeit und wurde von der medialen und vor allem der klerikalen Öffentlichkeit misstrauisch beäugt. Davon zeugt ein Artikel in der Schweizerischen Kirchenzeitung mit dem vielsagenden Titel Ein Wagnis ist geglückt. Der Journalist schreibt darin durchgehend von einem «paritätischen Kirchlein», das Wort «überkonfessionell» wohlweislich vermeidend. Das Kirchlein an der Saffa sei ein Wagnis gewesen, das leicht hätte schiefgehen können. Was Marga Bührig und ihre Mitfrauen auf die Beine gestellt hatten, geschah nicht im kleinen Kreis, sondern in aller Öffentlichkeit. Hinter diese Erfahrung konnten die Frauen nicht mehr zurück. Das ökumenische Mittagsgebet wurde noch lange nach der Saffa 58 in verschiedenen Zürcher Kirchen weitergefeiert.

Frauenbilder

Im Saffa-Kirchlein fanden neben ökumenischen auch frauenbezogene Reflexionen statt. Der Evangelische Frauenbund EFS verkaufte drei Broschüren: Wie wird unser Leben ganz? Ein Büchlein für und über die berufstätige Frau; Die Bibel und die Frau von heute sowie Einsames oder gemeinsames Leben? Ein paar Gedanken zum Leben der Frau heute. In diesen Broschüren greifen die Autorinnen, die drei Theologinnen Marga Bührig, Else Kähler und Ruth Epting, das Frauenbild der 1950er Jahre auf – das Bild der mütterlichen, den Familienernährer unterstützenden Hausfrau.

Alle drei Autorinnen waren unverheiratet lebende Theologinnen. Während Bührig und Kähler ein evangelisches Studentinnenheim leiteten, konnte Ruth Epting in Basel nur unter der sogenannten «Zölibatsklausel» als Pfarrerin arbeiten. Diese bei der Einführung der Frauenordination in Basel-Stadt von der Synode beschlossene Klausel besagte, dass Frauen, die ein Pfarramt innehatten, zum Schutz vor der Doppelbelastung nicht verheiratet sein durften und im Falle einer Heirat ihr Amt niederlegen mussten. Auch für andere Berufe, etwa bei der Post, beim Bund, für Lehrerinnen und Krankenschwestern galt ein solcher reglementarisch festgelegter «Zölibatszwang». Diese aus heutiger Sicht offenkundige Diskriminierung stellte für die damaligen Theologinnen eine Motivation dar, sich mit der Rolle der ehe­losen Frau in der Gesellschaft auseinanderzusetzen. Marga Bührig zum Beispiel nahm die Arbeitssituation von verheirateten und alleinstehenden Frauen innerhalb und ausserhalb des Haushalts in den Blick und fragte, wie das Leben der alleinstehenden, berufstätigen Frau aus christlicher Sicht zu gestalten sei.

Die Broschüren waren als seelsorgerliche und erbauende Schriften für unverheiratete Frauen in der Berufswelt gedacht. Dabei kamen sowohl gleichstellungs- als auch differenzfeministische Argumente zum Tragen. Else Kähler befasste sich beispielsweise mit den Unterordnungsgeboten in den paulinischen Briefen und hielt fest, dass diese kontextuell zu verstehen seien: Was im Hinblick auf die Ordnung des Gottesdienstes und die Ehe geschrieben stehe, sei nicht auf das Verhältnis zwischen Männern und Frauen schlechthin zu beziehen. Damit enthalte die Bibel keine Argumente für den Ausschluss der Frauen aus den kirchlichen Ämtern. Kähler kritisierte die Kirchen, die es versäumten, aus der christlichen Tradition heraus eine angemessene Würdigung eheloser Frauen zu verkünden und ihnen eine entsprechende Rolle in ihren Strukturen anzubieten. Damit versäumten die Kirchen ihrer Meinung nach den Dienst am Evangelium, das an alle Menschen unabhängig von Geschlecht und Ehestand gerichtet ist.

In Kählers Broschüre wird besonders sichtbar, dass sie mit derselben Genauigkeit die Lebenswelt der Frauen in der Bibel betrachtet wie diejenige der Frauen in der Gegenwart. Sie stellt fest, dass in den biblischen Texten die Ehefrau die dominierende Erscheinung darstellt, über die auch am meisten geschrieben steht. So sind auch die paulinischen Unterordnungsgebote (zum Beispiel Eph 5,22-23: «Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter wie unserem Herrn, denn der Mann ist das Haupt der Frau» klar im ehelichen Kontext zu sehen, während das Schweigegebot von Paulus (vgl. 1Kor 14,34 : «In den Gemeindeversammlungen sollen die Frauen schweigen») im Rahmen der Gottesdienstordnung zu interpretieren ist. Das Plädoyer von Else Kähler für eine kontextualisierende und historisierende Sichtweise ist für die Interpretation der biblischen Botschaft für Geschlechterbeziehungen heute von fundamentaler Bedeutung.

Keine Radikalfeministinnen

Differenzfeministische Ideen finden sich bei Ruth Epting und Marga Bührig. Aus dem Wunsch heraus, ledigen Frauen in der Gesamtgesellschaft und auch in der Kirche Sichtbarkeit zu verleihen, betonten beide die Bedeutung von Frauenbeziehungen. Epting schrieb über die Freun­­d­innen, mit denen ledige Frauen manche Schwierigkeiten des Lebens teilen könnten. Bührig dagegen griff die Beziehungsgestaltung zu Arbeitskolleginnen auf. Sie schildert die Verständnisschwierigkeiten zwischen verheirateten und ehelosen Frauen und plädiert für die Bereitschaft zu gegenseitiger Akzeptanz und ein grösseres Verständnis zwischen Frauen in verschiedenen Lebenssituationen. Dafür sei das Absehen vom eigenen Opferstatus nötig. Dieser Gedanke ist auch bei Epting zentral, die ihn im Gebot der Hingabe und des Dienstes der Frauen formuliert.

Bührig, Kähler und Epting waren nach heutigem Begriff keine radikalen Feministinnen. Vielleicht haben sie den bestehenden gesellschaftlichen und kirchlichen Strukturen über Gebühr die Treue gehalten, weil diese von ihnen gefordert wurde. Sie haben jedoch tatkräftig daran mitgearbeitet, diese Strukturen von innen mitzugestalten und sie so schrittweise zu verändern. In den 1970er und 1980er Jahren haben Epting und Bührig weitere Bücher verfasst, die von einem ganz anderen Selbstbewusstsein zeugen und in denen sie eine andere Sprache sprechen, als sie es noch in den 1950er Jahren taten. In Für die Freiheit frei. Der Weg der Frau in Kirche und Gesellschaft (1972) schöpft Epting aus ihrer umfangreichen Erfahrung der Frauenarbeit, um die neuen Verhältnisse zu skizzieren, in denen die Frau steht. Sie spricht die weiterhin bestehenden Unsicherheiten vieler Frauen über ihre Rolle in der Welt schonungslos an und betont die Mitverantwortung der Frauen an der Gestaltung der Gesellschaft und die Notwendigkeit, ein Selbstbewusstsein als eigenständige Personen zu finden und sich nicht in einer bestimmten Rolle zu verlieren. Marga Bührig schildert in ihrer feministischen Autobiografie Spät habe ich gelernt, gerne Frau zu sein auf eindrückliche Weise ihren Weg in die Frauen­bewegung und zu einem Selbstbewusstsein als Frau und Feministin.

Streik mit den Ahninnen im Rücken

Am 14. Juni 2019 haben säkulare und religiöse Feministinnen an der Frauenbewegung weitergeknüpft. Ihren zivilgesellschaftlichen und kirchlichen Anliegen haben sie gemeinsam Ausdruck verliehen, in den vielzähligen, bunten, lauten, schrillen und schönen, frechen und freien Aktionen, die in der ganzen Schweiz stattfanden. In der ökumenisch getragenen Aktion «Gleichberechtigung.Punkt.Amen» gaben katholische und evangelische Frauen ihrem Begehren nach gleichem Zugang zu (Weihe-)Ämtern Ausdruck. Ist der Leidensdruck in den beiden Kirchen zwar unterschiedlich stark, so ist die Sehnsucht nach wahrhaft geschlechtergerechten Strukturen in den Kirchen den Frauen doch gemeinsam. Und auch wenn sie zahlenmässig kleiner wird, so lebt die ökumenische Frauenbewegung weiter, erzählen ältere Frauen ihren jüngeren Schwestern über die Pionierinnen vor ihrer Zeit und ermutigen sie, weiterzukämpfen für Kirchen, in denen wahrhaftig Friede, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung gelebt wird.

Uns begeistert die Vielfalt, die in dieser Bewegung gelebt wurde und wird – eine Vielfalt, die verspricht, dass die Frauenbewegung fähig ist, immer wieder neu auf die Bedürfnisse der Frauen einzugehen, ohne ihre Schwestern, Mütter und Grossmütter zu vergessen, die zu anderen Zeiten anders kämpfen mussten.

Das neue Buch von Evelyne Zinsstag und Dolores Zoé Bertschinger handelt den Verflechtungen der kirchlichen und der säkularen Frauenbewegung und der Bedeutung von Frauenräumen für die Weitergabe einer «Tradition der Frauen» von Generation zu Generation. «Aufbruch ist eines, und Weitergehen ist etwas anderes». Frauenräume: von der Saffa 58 über das Tagungszentrum Boldern zum Frauen*­Zentrum Zürich erscheint noch dieses Jahr im eFeF-Verlag.

Am 25. September wird in Basel die Buchvernissage gefeiert, am 3. Oktober in Zürich.

 

 

  • Dolores Zoé Bertschinger,

    *1988, ist Religionswissenschaftlerin und im Frauen*Zentrum Zürich (fraum.ch) aktiv.

  • Evelyne Zinsstag,

    *1989, ist Pfarrerin der Eglise française de Bâle, Vorstandsmitglied der IG feministische Theologinnen und des Ökumenischen Forums Christlicher Frauen Europas (ÖFCFE). Sie war 2017 bis 2020 Mitglied der grossen Redaktion der Neuen Wege.