Ich sitze im ICE. Neben mir liest ein älterer, weisser Mann einen Artikel zum Hashtag #MeToo. Er schüttelt den Kopf, immer wieder. Im Oktober 2017 rief die Schauspielerin Alyssa Milano auf Twitter dazu auf, von Erlebnissen sexualisierter Gewalt zu erzählen. Ein Jahr später sind die Medien immer noch voller Reflexionen der Grenzen und Möglichkeiten dieser Aktion im Netz. Und sie sind voll mit Berichten zum Wahlprozess von Brett Kavanaugh, Trumps Kandidaten für den Obersten Gerichtshof der USA. Kaum ein Ereignis steht symbolischer für den Diskurs rund um #MeToo.
Mein Mitreisender hängt über dem Artikel und schnaubt leise vor sich hin. Gerne würde ich in seinen Kopf schauen und erfahren, was ihn so bewegt, so ärgert, seinen Unmut weckt. Ich habe da meine Vermutungen.
#MeToo ist eine emotionale Sache: Was ich unter diesem Hashtag lese, macht mich wütend und traurig. Hinter den Berichten liegt viel Schmerz, Scham, Wut und auch Mut. Wenn ich die Kommentarspalten oder manchen Artikel zum Thema lese, begegnen mir hauptsächlich Überforderung, Ratlosigkeit, Verwirrung und Ohnmacht. Diese wiederum werden gerne mit hilfloser Aggression erträglich gemacht. Mit Abwehr, Ärger und Unmut.
Ein bisschen kann ich ihn verstehen, meinen Sitznachbarn. Consiousness-raising, wie es #MeToo tut, ist eine alte Tradition, die ihren Höhepunkt in der Frauenbewegung der 1970er und 80er fand. In #MeToo zeigt es seine entschleiernde, enthüllende und solidarisierende Wirkung auf neue und radikale Weise. Für viele bedeutet das, dass ihre Welt ins Wanken gerät, ihre Selbstverständlichkeiten strittig und ihre Normalität problematisch werden. #MeToo offenbart eine Herrschaftsstruktur, die weissen Männlichkeiten einimpft, sie – Präsident der USA beispielsweise, oder Richter am Obersten Gerichtshof – seien dann besonders erfolgreich, wenn sie überzeugt sind, alles stünde ihnen rechtmässig als Besitz zu. Und wenn sie auch so handeln. Inklusive Frauenkörper. Die patriarchale Herkunft dieses Männlichkeitsbildes ist offenkundig: Mit dem Aufkommen des Bürgertums institutionalisierte sich im bürgerlichen Familienrecht die Geschlechtsvormundschaft des Mannes über die Frau. Eine Folge davon: Erst seit 1992 ist Vergewaltigung innerhalb der Ehe in der Schweiz strafbar.
Eine Bekannte sagte kürzlich in Bezug auf #MeToo: Plötzlich kennt keine_r mehr die Regeln. Von welchen Regeln sie wohl sprach? Die altbekannten, patriarchalen Regeln werden endlich entnormalisiert, sichtbar gemacht und in Frage gestellt. Sie werden schrittweise abgeschafft. Die Folge davon ist, dass wir durch eine Zeit ohne Regeln, ohne neue Vereinbarungen tappen. Eine Zeit der Verwirrung. Dass darauf mit obigem Emotionsrepertoire geantwortet wird, ist nachvollziehbar. Allerding bleibt es dann meistens dabei: AkteurInnen weisser hetero-männlicher Identitätspolitik stilisieren sich gleichzeitig als schutzbedürftiges Opfer und krallen sich geifernd an ihrer Allmacht fest – als Präsident der USA beispielsweise oder als Richter am Obersten Gerichtshof. Eine Zeit der Verwirrung.
Was #MeToo aber auch enthält, ist ein deutlicher Hinweis auf die visionäre Kraft von Scham, Angst, Wut und Schmerz, von Empörung und auch Ermüdung. Hinter dem Schritt, mit solchen Erlebnissen öffentlich zu werden, steckt die Hoffnung auf Veränderung, auf eine Welt, in der sich Machtmissbrauch nicht auch in der Sexualität manifestiert. #MeToo ist Ausdruck der Vision einer Kultur des lustvollen und enthusiastischen Konsenses. Einer Kultur, in der das Sprechen über sexuelle Gewalt nicht mehr einer medienwirksamen Enthüllung und Offenbarung bedarf, um endlich gehört zu werden, sondern eines achtsamen, klaren und gerechten – sicherlich noch immer emotionalen – Diskurses. Und diese visionäre Kraft liegt auch in der Verwirrung: Das Zerbrechen alter ist der Anfang neuer Ordnungen.
Mein Sitznachbar ist mit einem letzten Schnauben am Ende des Artikels angelangt. Ich beschliesse ihn zu fragen, was er denkt, ihm vielleicht mütterlich den Arm um die Schultern zu legen und was Nettes zu sagen («Jedä Scheiss isch ä Chance» zum Beispiel). Da steht er auf und steigt aus.
*Substantiv, feminin [die], umgangssprachlich abwertend
*1988, studierte literarisches Schreiben, Geschlechterforschung und Philosophie an der Kunsthochschule Bern und der Universität Basel. Sie ist Tanztherapeutin, schreibt freiberuflich und ist Co-Leitung der Neue Wege-Redaktion.