System Change: Neue Normalitäten schaffen

Matthias Hui, Geneva Moser, 2. Juli 2019
Neue Wege 7/8.19

Die Klimastreikbewegung stellt dem Klimawandel die Perspektive eines notwendigen Systemwandels entgegen. Was heisst das? Ende April 2019 diskutierten auf Einladung des Denknetz der Denknetz-Geschäftsführer Beat Ringger mit Bettina Dyttrich, Marcel Hänggi, Jonas Kampus und Payal Parekh. Ein Mitschnitt.

Beat Ringger: Noch immer wird die Klimakrise oft verharmlosend dargestellt. Wie ist denn die Bedrohungslage? Was sind die reellen Probleme des Klimawandels?

Marcel Hänggi: Was auf dem Spiel steht, ist ganz einfach alles. Nach gewissen Szenarien könnte sich das Klima um fünf bis sieben Grad erwärmen. Das überlebt die Menschheit nicht. Ich bin über den letzten Bericht des Uno-Klimarats IPCC vom Oktober 2018 erschrocken. Ein Beispiel: Bei einer Erwärmung um 1,5 Grad, was das Beste ist, das wir noch erreichen können, werden 70 bis 90 Prozent aller Korallenriffe absterben. Bei einer Erwärmung um 2 Grad sind es mehr als 99 Prozent. Ein grosser Teil aller Fischarten ist auf die Korallen angewiesen, und die Auswirkungen auf jene Menschen, die von der Fischerei leben, sind verheerend. Die politischen Kämpfe um Ressourcen sind ja jetzt schon existenziell.

BR: Umso wichtiger, dass die Klimabewegung so aktiv ist. Im Zentrum des Aktivismus steht die Frage nach einem System Change, nach grundlegenden Veränderungen, die notwendig sind, um die Katastrophe abzuwenden. Wie wird diese Frage in der Bewegung diskutiert?

Jonas Kampus: Wohin ich gehe, und mit wem ich spreche – diese Debatte wird geführt. Wie sinnvoll ist es, dass wir für Privatbesitz wie ein Auto öffentlichen Grund zur Verfügung stellen oder dass jemand mit einem Auto darüber bestimmt, wie es meiner Gesundheit geht? Welche Werte wollen wir als Gesellschaft hochhalten? Wie wollen wir leben? Brauchen wir wirklich Einzelhaushalte mit je einer Heizung, oder müssen wir in grösseren Kommunen leben? In der Klimastreikbewegung haben wir formuliert, dass wir einen Systemwandel brauchen, wenn es anders nicht möglich ist, unsere Klimaforderungen zu erreichen.

Beat Ringger: Eines der Themen der Klimastreikbe­wegung möchte ich gerne vertiefen, die Ernährung.

Bettina Dyttrich: Die Landwirtschaft ist Teil des Problems, sie kann aber auch Teil der Lösung sein. Der Verbrennungsmotor hingegen kann das nicht – er muss einfach weg. Wichtig ist eine Landwirtschaft der kurzen Wege. Das gilt insbesondere für stark wasserhaltige Frischprodukte wie Milch und Gemüse, bei denen es heute absurde Transporte um den Globus gibt. Handel sollte nicht Selbstzweck, sondern Ergänzung zu den kurzen Wegen sein. Der Schlüssel sind die Energiekosten: Die Transportwege sind nur deshalb so lang, weil die Energie viel zu billig ist. Ein zweiter Punkt ist globaler Biolandbau: Wir brauchen eine Landwirtschaft, die ihre Produktionsmittel selber produziert. Die Kunstdüngerproduktion macht mehr als ein Prozent des globalen Energieverbrauchs aus. Wir brauchen eine Landwirtschaft, die als Kreislauf funktioniert und die Böden immer bewachsen hält, um sie zu schützen. Drittens ist eine radikale Senkung der Tierbestände nötig. Nutztiere sollen vor allem auf Grasland leben, das nicht als Acker genutzt werden kann – etwa im Berggebiet –, statt wie heute Getreide und Soja zu fressen, die eigentlich menschliche Nahrung sind. Viertens geht es um die direkte Beziehung zwischen Produktion und Konsum. Wir müssen dringend die Macht der Industrie ausschalten. Heute verdienen alle an den Lebensmitteln ausser jenen, die sie direkt produzieren. Vorne verdienen die Saatgutfirmen und die Pestizidfirmen, hinten die Handelsfirmen und die Supermärkte. Motivierend finde ich, dass es in der Landwirtschaft relativ einfach ist, das Richtige zu tun. Natürlich braucht es eine andere Agrar- und Handelspolitik, aber einzelne Gruppen und Höfe können bereits jetzt etwas bewirken. 

Payal Parekh: In einem kapitalistischen System kann es nur Nischen geben und Pilotprojekte. Da geht es auch um Subventionen. Und es geht um die Frage der Kaufkraft: Projekte dürfen nicht auf Kosten der Armen gehen.

Beat Ringger: Wie bekommen wir denn die nötige Macht, um aus der Nische herauszukommen? Und wie kommen wir zu Umverteilungen, die die soziale Gerechtigkeit stärken und nicht die Ärmsten belasten?

Payal Parekh: Wenn wir über Umverteilung sprechen, geht es nicht nur um das Klima. Systemwandel ist kein Umweltproblem, es ist ein Problem der Wirtschaft, es ist ein soziales und politisches Problem. Die Idee des «green new deal» in den USA besteht darin, dass Geld durch Umwelt­abgaben in jene Haushalte zurückfliesst, die wenig zur Verfügung haben. 

Verhältnisse verändern heisst für mich gerade nicht, aus einem Erdölkonzern ein Grossunternehmen für erneuerbare Energie zu machen. Dann bleiben wir beim gewinn- und wachstumsorientierten Modell. Im Energiebereich gibt es sehr viele dezentrale, genossenschaftliche Formen der Produktion von erneuerbaren Energie. In Indien beispielsweise müssen die dreihundert Millionen Menschen, die noch keinen Zugang zu Elektrizität haben, weil sie zu weit weg sind von den Verteilungsnetzen, diesen Weg wählen können.

Jonas Kampus: Die Wirtschaft, die Landwirtschaft muss generell wieder zurück zu den Menschen. Es ist absurd, dass die Agrarlobby in den USA dafür kämpft, dass zwanzig Prozent des Raps­öls Biotreibstoff wird. Wir brauchen den gesamtheitlichen Systemwandel. Wir müssen die Landwirtschaft neu denken: nicht energie­intensive Monokulturen, sondern wieder personenintensivere Arbeit, aufbauend auf Wissen und Erfahrung, die zum Teil in den letzten Jahrzehnten verloren gingen. Heute töggelen viele Menschen den ganzen Tag etwas in den Computer, um am Schluss ein gekauftes Brot auf dem Tisch zu haben, statt dass sie es selber backen. Wenn man im eigenen Garten im Herbst die Bohnen ablesen kann, trägt das zum Wertewandel bei. Es geschieht nicht alles auf der institutionellen Ebene.

Beat Ringger: Wie lassen sich diese Einsichten möglichst schnell in die ganze Gesellschaft tragen? Soll das heissen: Bio wird Standard? In den Läden ist nicht mehr «Bio» angeschrieben, sondern beim «Chemo»-Salat steht «Chemo» drauf? Dieser Chemo-Salat wäre auch viel teurer, weil er sehr viel mehr Schaden verursacht. Aber darüber hinaus gilt wohl auch: Konzerne im Agrobereich wie Syngenta müssen weg. Was sie heute tun, dürfen sie nicht mehr tun. Wie bringen wir eine solche Dynamik zustande, ohne dass sie unsozial wird?

Marcel Hänggi: Ich möchte diese Frage zurückbinden an das Problem des Klimawandels und des CO2-Ausstosses: Wir müssen eine Technik loswerden: die fossile Energienutzung. In Bezug auf soziale Gerechtigkeit sind die Energieträger Kohle, Erdöl und Erdgas nämlich ambivalent: Sie haben ein Wirtschaftswachstum und einen materiellen Wohlstand gebracht, der es reichen Ländern ermöglicht hat, soziale Sicherheitssysteme aufzubauen. Im 20. Jahrhundert gab es dort eine Zeit, in der die soziale Ungleichheit zwischen Arm und Reich so klein war wie historisch noch nie. Gleichzeitig haben diese heute reichen Länder diese Energien genutzt, um den Rest der Welt zu unterdrücken. Kolonialismus gab es zwar schon vor den fossilen Energieträgern, aber erst mit ihnen wurde aus Kolonialismus Imperialismus. Die Briten haben das kolonialisierte Indien gezielt daran gehindert, selber fossile Energie zu nutzen, weil die «fortschrittliche» britische Wirtschaft auf eine «rückständige» Wirtschaft in Indien angewiesen war, die Rohstoffe produzierte. Fossile Energieträger sind leicht transportierbar und führen zu entgrenzten Strukturen. Das wiederum führt zu Konzernen mit vertikal integrierten Wertschöpfungsketten. Diese Machtballungen sind schädlich für die Demokratie. Das Versprechen, die Armen könnten reicher werden, ohne dass die Reichen ärmer würden, geht nicht mehr.

BR: Die Klimastreikbewegung hat die Klima­gerechtigkeit als zentrale Forderung aufgenommen.

Jonas Kampus: Der Begriff stammt aus dem globalen Süden. Damit wird ausgedrückt, dass der globale Norden sehr viel Kohlenstoff verbraucht hat, der dem Süden nicht mehr zur Verfügung steht. Klimaschutz darf nicht auf Kosten des globalen Südens geschehen. Dass indigene Völker im Amazonas vertrieben werden, um den Wald als CO2-Speicher zu schützen, darf nicht sein. 
Wir gehen davon aus, dass bei uns alle Wohlstand haben und es «uns» schlechter geht, wenn wir Klimaschutz betreiben. Besonders die Macht über die Verteilung von Energie hat viel zu globaler sozialer Ungleichheit beigetragen. Wie schaffen wir es, diese Macht zu zerbrechen und ein neue Vorstellung von Wohlstand aufzubauen? Oft höre ich, dass Menschen sagen, sie müssten sich einschränken, wenn sie nicht Auto fahren könnten. Aber ich muss mich jeden Tag einschränken, wenn ich einen grossen Teil der Strasse nicht benutzen kann, weil er von Autos benutzt wird. 

Payal Parekh: Wie kommt es zu Klimagerechtigkeit? Ich bin Klimawissenschaftlerin und habe die Universität verlassen, weil mir gesagt wurde, ich sei zwar talentiert, aber viel zu politisch. Seither beschäftige ich mich mit sozialem Wandel, und der geschieht nicht, wenn wir Forderungen stellen und sagen: Bitte macht das oder jenes. In diesem Land findet eine Mehrheit Banken wie die UBS oder die Credit Suisse gut. Berühmtheiten wie Roger Federer werben für sie. Solange wir den Banken diese soziale Akzeptanz nicht entziehen, verändert sich nichts. Ich setze grosse Hoffnung auf die Klimastreikbewegung: Sie zeigt uns, dass wir auf die Strasse gehen müssen. Die Bewegung Exctinction Rebellion hat die Innenstadt von London lahmgelegt. Wenn wir wollen, dass es Glencore nicht mehr gibt, wenn wir wollen, dass UBS und Credit Suisse nicht mehr Milliarden Dollar für Teersandförderung und für die Ölförderung in der Antarktis ausgeben, dann müssen wir alle auf die Stras­se gehen und bissiger werden, gewaltfrei, aber sehr direkt verlangen, was wir brauchen, um weiter zu leben. Solange wir nicht disruptiver sind, passiert gar nichts.

Jonas Kampus: Es ist ein grosser Erfolg dieses Systems, dass es uns zu Invidualist*innen macht. Statt Einzelkämpfer zu sein, müssen wir wieder mehr in Gemeinschaften denken. Statt nur Forderungen zu stellen wie ein Verbot der Ölförderung, müssen wir eine viel stärkere Gemeinschaft werden, damit wir die Folgen des System Change auch überstehen können. Wir müssen mehr mit den Leuten reden, auf die Strasse gehen, Gemeinschaft bilden.

BR: Einverstanden. Es ist im Moment wirksam, Klimastreik-Demonstrationen zu organisieren – dieser Effekt könnte sich aber abnützen. Wir brauchen Ideen, bei denen Menschen sich sagen: Hier erhoffe ich mir konkrete Wirkungen und engagiere mich. Wie können wir Konzerne, die das Klima zerstören, wegbringen? Wie werden wir konkret?

Jonas Kampus: Die grössten Konzerne abschaffen zu wollen, ist fast zu klein gedacht. Fakt ist, dass wir etwa zehn Jahre Zeit haben, um die Gesellschaft im globalen Norden zu entkarbonisieren. Deshalb müssen wir den Druck auf der Strasse dringend erhöhen. Ein effektives Mittel dazu ist, ist, wenn arbeitstätige Menschen die Arbeit niederlegen und streiken. Sobald der Streik mehr als symbolisch ist und wirklich ökonomischen Schaden verursacht, hat das grosse Konsequenzen. In Belgien beispielsweise haben Lokomotivführer mit den Schülerinnen und Schülern mitgestreikt. Der ökonomische Schaden zwingt die Politik und die Wirtschaft zum Handeln. Wie effektiv wäre ein Generalstreik?

Payal Parekh: Eine soziale Bewegung braucht kleine Erfolge unterwegs. Sie kann auch nicht immer das Gleiche tun, um nicht langweilig zu werden. Aber es ist bedeutsam, dass es Städte gibt in der Schweiz, die den Klimanotstand ausgerufen haben. Es ist nichts Kleines, dass die FDP zur Klimapartei werden will. Wir müssen weiter Druck aufbauen, damit es ein starkes CO2-Gesetz gibt in diesem Land. Was bisher diskutiert wird, ist viel zu schwach. Und deshalb ist es wichtig, dass es Leute wie Jonas und die Klimastreikenden gibt, die radikalere Forderungen stellen als beispielsweise die wichtige Gletscherinitiative. So können wir Ziele erreichen. 

Bettina Dyttrich: Letzten Herbst war ich in Deutschland an einem Protest der Bewegung «Ende Gelände» für den Ausstieg aus der Kohle und den Erhalt des Hambacher Forstes. Ich bin sehr beeindruckt davon, wie konstruktiv, friedlich und spannend die Menschen da miteinander umgehen. Ich habe noch nie eine politische Bewegung mit tausenden von Leuten erlebt, die kollektiv beschlossen haben, dass alle gut aufeinander aufpassen und alle nur das tun, wozu sie sich imstande fühlen. Niemand mackert herum, niemand schmeisst Steine oder zieht einen Egotrip durch. Seither denke ich über ein vergleichbares Ziel in der Schweiz nach. Ich erinnere mich an den Brand der Sandoz-Fabrik bei Basel 1986, als der Rhein rot und alle Fische tot waren und es ganz viele Demonstrationen gab, da war die Katastrophe noch auf eine ganz andere Art spürbar. Wir haben keine solchen Industrien mehr, wir sind zwar für viel Dreck verantwortlich, aber er fällt im Ausland an und ist deshalb unsichtbar. Viele umweltpolitische Erfolge auf institutioneller Ebene in der Schweiz sind in den 1980er Jahren passiert. Einen solchen Schub bräuchten wir. Wir müssen grosse, aber auch erreichbare Ziele setzen. In der Schweiz haben wir keine so hässliche Kohlegrube wie beim Hambacher Forst. Die Ölfirmen in Genf sind einfach schöne Häuser. Was kann hier das Ziel und das Symbol sein, das wir zu Tausenden blockieren könnten?

Jonas Kampus: Der grösste Hebel in der Schweiz ist der Finanzplatz. Wie können wir unsere Verstrickungen durch Investitionen in zerstörerische Grossprojekte sichtbar machen? Da brauchen wir wieder internationale Solidarität. 

Marcel Hänggi: Es gibt ja die Forderung der «Kostenwahrheit»: Externalisierte Kosten, die über den Preis nicht abgebildet werden, sollen internalisiert werden. Nichts dagegen – aber es genügt nicht. Technik funktioniert in Systemen. Unser automobiles Verkehrssystem beispielsweise besteht aus Fahrzeugen, Infrastruktur, Gesetzen, Finanzierungssystemen, Mentalitäten … Will man es klimaverträglich machen, indem man eine einzelne Komponente auswechselt und Elektroautos baut für ein System, das sich mit den spezifischen Eigenschaften des Verbrennungsmotors entwickelt hat, dann ist das ein Schildbürgerstreich. Eine Alternative zur «Kostenwahrheit» ist im Bereich der fossilen Energie simpel, auch wenn sie verpönt ist: «verbieten». Wenn FCKW nicht verboten worden wäre, wäre heute die Ozonschicht schwer beschädigt.

Beat Ringger: Wie wäre es mit vier autofreien Sonntagen, die erfahrbar machen würden, wie sehr uns die gegenwärtige Form der Mobilität einschränkt?

Payal Parekh: Was Bettina über den Hambacher Forst sagte, scheint mir zentral: Jedes Jahr waren dort nun mehr Menschen aktiv. Wir müssen etwas finden, bei dem die Leute überzeugt sind, dass sie etwas bewirken können und das so gross ist wie das Problem. Das fehlt uns noch. Das Thema der Versicherungen und Banken ist da schon sehr relevant: Kein Kohlekraftwerk in der Welt wird gebaut ohne Kredite und ohne Versicherung – und vieles davon kommt aus der Schweiz. Und: Das Bild der Schweiz ist grundlegend mit den Alpen und den Gletschern verbunden. Deshalb können uns die Gletscher mit der Gletscherinitiative vielleicht wirklich als Symbol dienen und zu Aktionen anstiften. Die Idee mit den autofreien Sonntagen ist gut, aber das Ziel muss grösser sein, damit es die Menschen mobilisieren kann.

Bettina Dyttrich: Ich möchte etwas blockieren …

Jonas Kampus: … und ich möchte nicht vier autofreie Sonntage, ich möchte 52 autofreie Wochen. 

Marcel Hänggi: Autofreie Sonntage behalten einen Eventcharakter. Das genügt nicht, es muss Normalität werden. Wir müssen neue Normalitäten schaffen, zeigen, dass es auch anders geht. Wer die autofreie Innenstadt von Kopenhagen erlebt hat, kann es sich gar nicht mehr anders wünschen. Wenn wir schon nicht die negativen Bilder, den Dreck hier nicht sehen, können wir vielleicht positive Bilder und Ziele schaffen, die zeigen, dass es sich anders besser leben lässt, beispielsweise mit einer auto­freien Stadt. 

Jonas Kampus: Gerade wenn es ums Klima geht, müssen wir über die linken und grünen Parteien hinaus denken und uns in einer breiten Bewegung dafür engagieren. Wichtig ist aber auch zu sehen, dass die Klimakatastrophe politische Hintergründe hat und in Verbindung mit wirtschaftlichen Interessen steht. Wir dürfen uns nicht aus dieser Debatte herausnehmen. Das kann gefährlich sein; wir wollen keinen Ökofaschismus. Wir müssen uns auch überlegen, wie diese Krise auf Ungleichheiten, auf Rassismus und Sexismus, auf dem Imperialismus und dem Kapitalismus aufbaut. Wenn wir diese Krise überwinden wollen, müssen wir fragen, wo sie ihren Ursprung hat. 

Marcel Hänggi: Die Notwendigkeit eines System Change ist wissenschaftlicher Konsens: Gemäss dem IPCC sind Systemtransformationen in einem Ausmass erforderlich, wie sie es historisch noch nie gegeben hat. 

JK: Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sagen auch, dass diese Systemtransformationen auch in einem Tempo notwendig sind, das es noch nie gab. Der Wandel ist möglich, sagen sie, aber es braucht einen grösseren politischen Willen dazu. 

BD: Ich würde vorschlagen, dass wir mit dem Fliegen anfangen. Es ist nicht das Gleiche, ob jemand in einer schlecht isolierten Wohnung mit Ölheizung lebt, weil er sich nichts anderes leisten kann, oder ob jemand in der Welt herumfliegt. Niemand ist gezwungen, in die Ferien zu fliegen.

PP: Wir müssen an eine andere Zukunft glauben. Wir können jetzt auf die Strasse gehen. Wir können jetzt mit Alternativen experimentieren. Systemwandel ist schwierig, aber wir haben keine Wahl, wenn wir überleben möchten. Der Weg ist tausendmal leichter, wenn wir das solidarisch miteinander tun. ●

Im Einverständnis mit den Beteiligten stark gekürzte und redigierte Fassung des Gesprächs «System Change – not Climate Change: und wie?» an der Denknetz Veranstaltung vom 29. April 2019 im  Kosmos in Zürich.

○ Bettina Dyttrich, *1979, WOZ-Redaktorin mit den Schwerpunkten Ökologie und Landwirtschaft, Autorin des Buches Gemeinsam auf dem Acker. Solidarische Landwirtschaft in der Schweiz und Mitherausgeberin des Buches Wirtschaft zum Glück.
woz.ch

○Marcel Hänggi, *1969, Autor des Buches Null Öl. Null Gas. Null Kohle. und Mitinitiant der Gletscherinitiative.
mhaenggi.ch

○Jonas Kampus, *2001, Aktivist in der Klimastreikbewegung, Schüler der Kantonsschule Zürcher Oberland in Wetzikon. 
climatestrike.ch

○Payal Parekh,*1973, Ph.D. in Klimawissenschaft, Klima­aktivistin, lebt in Bern. 

○Beat Ringger, *1955, ehemaliger Mitinitiant der Verkehrshalbierungsinitiative, Denknetz-Geschäftsführer, Mitherausgeber des neuen Buches Reclaim Democracy.

denknetz.ch

Das Denknetz stellt ein System-Change-Klimaprogramm zur Debatte: Wirksamer Klimaschutz ist ohne grundlegende Änderungen in den gegenwärtigen Produktions- und Konsumarrangements nicht zu haben. Die gewaltige Materialschlacht an Stahl, Plastik, Gas und Öl, Fastfood und Beton muss beendet werden. Wirksame Klimapolitik muss diejenigen Kräfte in die Verantwortung nehmen, die über die meiste Macht und den grössten Reichtum verfügen. Welche Massnahmen sind erforderlich, um bis 2050 eine Absenkung der Klimagas-Emissionen auf Netto Null zu erreichen? Brauchen wir dafür einen System Change, und wenn ja, was heisst das konkret? Das Denknetz lädt alle interessierten Personen ein, den Ball aufzunehmen und sich zum Programm als Ganzem und zu den 23 vorgeschlagenen Massnahmen im Einzelnen online zu äussern.

denknetz.ch/das-system-change-klimaprogramm

 

  • Matthias Hui,

    *1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation humanrights.ch.

  • Geneva Moser,

    *1988, studierte literarisches Schreiben, Geschlechterforschung und Philosophie an der Kunsthochschule Bern und der Universität Basel. Sie ist Tanztherapeutin, schreibt freiberuflich und ist Co-Leitung der Neue Wege-Redaktion.