Strukturreform und Pneuma. Warum die Minderheitsposition der Kirche selig macht

Esther Straub, 1. Juni 2017
Neue Wege 6/2017

Die Kirchen werden zu einer gesellschaftlichen Minderheit. Welche Organisationsform wird dieser Situation und der Botschaft vom Reich Gottes gerecht? Es kann nur eine Alternative zu Privatisierung und Ökonomisierung sein – aufgebaut auf demokratischer Partizipation und bewegt von einer kreativen Kraft, die weht, wo sie will.

Es ist mittlerweile eine Binsenwahrheit: «Den Kirchen laufen die Schäfchen davon».1 In fünfzehn Jahren sank die Mitgliederzahl der Schweizer reformierten Landeskirchen von 2,4 auf 1,7 Millionen. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung beläuft sich noch auf einen Viertel.2 Der seit vierzig Jahren wahrnehmbare Trend, sich von den Kirchen zu distanzieren und in die Konfessionslosigkeit auszutreten, hält an und beschäftigt die kirchlichen Behörden. Ihre Bemühungen, abgesprungene Mitglieder zurückzugewinnen und Junge und Distanzierte bei Stange zu halten, sind gross und durchaus kreativ. Dennoch lässt sich der Exodus kaum bremsen.

Froh ist da jede Kirche um den unverhofften Werbespot, wenn eine bekannte Persönlichkeit wie kürzlich in Zürich Adolf Muschg auf die vor Jahrzehnten aufgekündigte Mitgliedschaft zurückkommt. Er sei wieder eingetreten, nicht weil er an die Botschaft glaube, sagte er in seiner Predigt im Grossmünster, sondern weil die reformierte Kirche «vom Glauben daran so weit entfernt ist wie ich. Aber vom Jesus der Bergpredigt und der Feindesliebe hat sie die heilige, die verdammte Pflicht geerbt, sich an diese Entfernung zu erinnern und sie nicht gut sein zu lassen. Es ist nichts Seligmachendes, schon gar nicht Alleinseligmachendes mehr an dieser Kirche; sie befindet sich in einer fast schon absoluten Minderheitsposition. Darin fühle ich mich in ihrer Gesellschaft.»3

Kirche ist Körperschaft

«Nahe bei den Menschen»: Ein Slogan mit Hochkonjunktur nicht nur in politischen Parteien, sondern auch in der kirchlichen Kommunikation. Er soll unterstreichen, dass die Kirche es ernst meint mit der Botschaft vom menschgewordenen Gott und als Volkskirche ihren Dienst der ganzen Gesellschaft gegenüber tut.4 Der Mitgliederschwund macht Strukturreformen nötig, und diese wiederum führen in Debatten, wie stark neue Organisationsformen imstande sind, Dienstleistungen auf die unterschiedlichen Bedürfnisse einer breiten Bevölkerung auszurichten.

In diesen Diskussionen wird oft moniert, vor lauter Struktur gehe der Inhalt vergessen. Doch die Forderung, den Inhalt gegenüber der Struktur stärker zu gewichten, lässt ausser Betracht, dass gerade die Frage nach der Organisationsstruktur selbst eine höchst inhaltliche ist.5 Kirche ist allererst nicht als Gegenüber zu ihren Mitgliedern konstituiert, das diesen Dienstleistungen erbringt, sondern Kirche ist Körperschaft6, ekklesia, die Gemeinschaft der Herausgerufenen. Nahe bei den Menschen ist sie vornehmlich dort, wo sie ihre Struktur partizipativ und demokratisch gestaltet.

Neoliberale Messbarkeitsillusion

«Partizipativ und demokratisch»: Das sind in Zeiten von Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung, in denen politische Teilhabe als Störfaktor gilt,7 Schlagworte einer tatsächlich fast schon absoluten Minderheitsposition. Doch Adolf Muschg hat recht: Sie aufzugeben würde bedeuten, die Entfernung von der Reich-Gottes-Botschaft gut sein zu lassen, statt sie zu erinnern. So macht es zum Beispiel einen empfindlichen Unterschied, ob eine Gemeindeleitung mit Leistungsaufträgen die Angestellten wie in einer Firma führt oder ob Kirchenpflege, Pfarrpersonen und Mitarbeitendenkonvent im sogenannten «Zuordnungsmodell» gemeinsam den Aufbau der Gemeinde verantworten.8

Der Ökonom Mathias Binswanger zeigt in seinen Büchern und Vorträgen auf, wohin es führt, wenn in kreativen Bereichen wie Wissenschaft, Medizin und Bildung die neoliberale Messbarkeitsillusion Einzug hält. Im  Gesundheitswesen zum Beispiel werden PatientInnen zu einem optimierungsfähigen Portfolio. So setzen die mit dem neuen Spitalfinanzierungsgesetz eingeführten Fallpauschalen für das einzelne Spital Anreize, lukrative Behandlungen zu erhöhen und PatientInnen mit Behandlungen, die Verluste generieren, möglichst anderen zu überlassen. Die Bedürfnisse der kranken Menschen stehen hinten an.

Motivation von innen

Binswanger wirbt dafür, sowohl im Gesundheitswesen als auch in der Bildung statt auf «perverse Anreize» auf «intrinsische Motivation» zu setzen: Nicht ökonomische Anreize wie Fallpauschalen oder Leistungslöhne sollen zu guter Arbeit anspornen, sondern die Arbeit selbst. Gerne führt er simple, aber umso einleuchtendere Beispiele an: Etwa die Rattenplage in Hanoi zur Zeit der französischen Kolonialregierung, als die Beamten für jedes tote Tier eine Prämie ausschrieben – mit dem Ergebnis, dass die Leute begannen, Ratten zu züchten. Oder eine Versuchsreihe mit Kindern, die aus Aufgaben, die sie frei wählen dürfen, die schwierigen herauspicken, währenddessen sie im Fall, dass ihnen für die richtige Lösung eine Belohnung winkt, die einfachen favorisieren.

In der Kirche zählt die intrinsische Motivation noch etwas, weiss sie sich doch vom Pneuma bewegt, einer kreativen Kraft, die sich weder zwingen noch instrumentalisieren lässt, sondern die dort weht, wo sie will. Die Gemeinde mandatiert ihre Pfarrpersonen zum Dienst am göttlichen Wort. Auf die gewissenhafte Erfüllung dieses Dienstes verpflichten sich PfarrerInnen im Ordinationsgelübde. Der Dienst an der Botschaft, am Evangelium, ist die intrinsische Motivation auch all derjenigen, die sich in anderen Berufen oder ohne kirchliche Anstellung am Gemeindeleben beteiligen und tatkräftig mitarbeiten.

Eine auf Partizipation und demokratische Teilhabe ausgerichtete Struktur kirchlicher Organisation wird der biblischen Überzeugung gerecht, dass Kirche geistgewirkter Körper ist, Leib Christi. Zumindest erinnert sie diese Überzeugung und lässt die Entfernung von ihrer Verwirklichung nicht gut sein.

Göttliche Kraft statt Ökonomisierung

Es ist ein inhaltliches Statement, wenn kirchliche Leitungsgremien und Pfarrpersonen von den Gemeindegliedern gewählt werden, wenn Kirchensynoden, Kirchgemeindeversammlungen oder -parlamente öffentlich debattieren und sich über die Ausrichtung kirchlicher Dienste verständigen und wenn das Subsidiaritätsprinzip den hierarchischen Top-Down-Ansatz ersetzt. Während Spitäler verselbständigt und privatisiert und so der demokratischen Mitbestimmung und Aufsicht entzogen werden,9 während der Ruf nach Ökonomisierung im Bildungswesen immer lauter wird,10 tut die Kirche gut daran, sich auf ihre Mitglieder zu stützen und auf die göttliche Kraft, die diese bewegt und zusammenführt. Auch wenn es weniger werden, kann die in der  Gemeinschaft der Glaubenden und über sie hinaus wirkende Geistkraft Grosses bewirken.

  1. NZZ vom 9.2.2017.

  2. Das Bundesamt für Statistik (BFS) und das Schweizerische Pastoralsoziologische Institut (SPI) publizierten anfangs 2017 Zahlen zur Religions- und Kirchenstatistik.

  3. Predigt von Adolf Muschg vom 5. März 2017 im Zürcher Grossmünster, in: NZZ, 9.3.2017.

  4. Kirchenordnung der Evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich, Art. 5.

  5. An der Tagung «450 Jahre Zweites Helvetisches Bekenntnis» (7.10.2016, Kulturhaus Helferei, Zürich) schlussfolgert Peter Opitz in seinem Vortrag: Es gehe in heutigen reformierten Kirchen weniger darum, neue Bekenntnistexte zu formulieren und möglichst verbindlich zu machen, als die bestehenden Kirchenordnungen, die ja in reformiertem Verständnis Bekenntnischarakter trügen, in ihrer biblischen Grundlage, ihrer christologischen Zielbestimmung und pneumatologischen Weite ernst zu nehmen.

  6. So auch formaljuristisch, z.B. im Kirchengesetz des Kantons Zürich, wo die Ev.-reformierte Landeskirche als kantonale kirchliche «Körperschaft» gilt.

  7. «Heute redet uns jeder Kantonsrat drein»: Rolf Zehnder, Direktor des Kantonsspitals Winterthur, im Tages-Anzeiger vom 24.4.2017.

  8. Kirchenordnung der Ev.-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich, Art. 150.

  9. Am 21. Mai entschieden die Stimmberechtigten im Kanton Zürich gegen die Privatisierung von zwei kantonalen Gesundheitsinstitutionen. Als vor zehn Jahren das Kantonsspital Winterthur als  öffentlichrechtliche Anstalt verselbständigt wurde, hatte der Regierungsrat der Bevölkerung versichert, dies sei nicht der erste Schritt zur Privatisierung. Willy Spieler schrieb damals (Neue Wege 9/2005, S. 296): «Künftig sollen nicht mehr die vom Volk gewählten Mitglieder des Parlaments und der Regierung für die Spitäler zuständig sein, nein, je ein Spitalrat wird über die Positionierung der Spitäler auf dem ‹Gesundheitsmarkt› befinden.» Der Politik werde nahe gelegt, «vor sich selber zu kapitulieren».

  10. Zu Demokratisierung, Partizipation und Autonomie in der Bildung vgl. die Beiträge von Theo Bächtold, Willy Spieler, Manfred Züfle und Anna Maria Riedi in den Neuen Wegen 7-8/2000, die sich mit dem Werk von
    Leonhard Ragaz Die pädagogische Revolution (1919) auseinandersetzen.

  • Esther Straub,

    *1970, ist Pfarrerin in der Kirchgemeinde Zürich, Kirchenrätin der Reformierten Landeskirche Zürich, Zürcher Kantonsrätin der SP und war 10 Jahre lang Co-Präsidentin der Neuen Wege