Die Journalistin Julia Fritzsche begegnet am Briefkasten ihrem Nachbarn Paul. Paul ist Busfahrer und auf dem Weg zur Nachtschicht. Auf die Frage, wie es ihm gehe, antwortet Paul: «Nicht gut.» In den nächsten zwei Minuten des Gesprächs rollt sich das aus, was Julia Fritzsche «bedrängende Gegenwart» nennt: Paul ist frustriert, die Pausen auf der Arbeit werden kürzer, seine Arbeit immer «billiger», die Altersvorsorge knapp. Er wiederholt das vorgebetete Mantra: «Ich bin kein Rassist, aber die kriegen eine Wohnung und Jobs und alles», und er wählt «leidenschaftslos» rechts. Fritzsche bleibt um eine Antwort verlegen: Wo ist die starke linke Erzählung, die sie der bedrängenden Gegenwart, dem Marsch nach rechts und dem neoliberalen Meritokratie-Märchen – du musst dich nur ins Zeug legen und dann kommen der Erfolg und das gute Leben schon! – entgegenhalten kann? Die Linke ist schon lange nicht mehr Adressatin für die Hoffnungen der Arbeiter*innen.
So macht sich Julia Fritzsche in ihrem Buch Tiefrot und radikal bunt – für eine neue linke Erzählung auf die Suche nach überzeugenden «linken Erzählungen», die zwei Elemente miteinander verbinden: Sie sollen einerseits «tiefrot» und andererseits «radikal bunt» sein. Fritzsches Anliegen ist es, den Graben zwischen Umverteilungs- und Anerkennungskämpfen zu überwinden: Klassenpolitik und Minderheitenschutz, ökonomische Fragen und Diversität. Die Erzählungen, die sie sucht, sollen den Zusammenhang von Ausbeutung und Ausgrenzung aufzeigen, ganz in der Tradition der Philosophin Nancy Fraser. Die Suche nach solchen Erzählungen führt Fritzsche zu den Themen Pflege, Ökologie, Wohnen, Migration und Queerness. Sie begleitet reale Akteur*innen und Aktivist*innen unterschiedlicher Bewegungen und Initiativen: die Streikbewegung in der Berliner Klinik Charité und die Care-Revolution, den Kampf eines kolumbianischen Dorfs gegen die Landnahmeversuche eines Kohletagebauunternehmens und den Ansatz des Buen Vivir, die Arbeit einer Münchner Willkommensinitiative für Geflüchtete und die Idee der Solidarischen Städte, eine Slut-Walk-Demonstration und Konzepte von Queerness. Diese Bewegungen haben drei Dinge gemeinsam, so Fritzsche: Sie anerkennen unsere Abhängigkeit voneinander, sie verstehen, dass Leben und Arbeiten nicht an Profitabilität, sondern an Bedürfnissen ausgerichtet sein müssen, und sie suchen nach neuen Formen der Beteiligung. Alle Bewegungen geben lebendiges Zeugnis davon, wie vielfältig an einer besseren Zukunft gearbeitet wird – und sich diese bereits materialisiert.
Die Autorin unterfüttert ihre Spurensuche mit einer Fülle an Literatur und Hintergrundinformationen. Theoretische Ansätze, beispielsweise die Überlegungen zu Wirtschaft ist Care, werden zusammengefasst und mit den jeweiligen Bewegungen verbunden. Der journalistische und klare Schreibstil macht das Buch zur leichten und eingängigen Lektüre. Auch der Aufbau von Tiefrot und radikal bunt ist klar, fast schon schulaufsatzmässig – und damit vielleicht auch etwas brav und wenig überraschend. Dort liegt vielleicht auch eine weitere Schwäche des Buches: Die Autorin ist pflichtbewusst und folgt ihrem Auftrag, eine linke Erzählung zu suchen – dadurch kommt sie den beobachteten Akteur*innen zwangsläufig nah und ist ihnen verpflichtet. Kritische Perspektiven auf die Initiativen und Bewegungen fehlen in der Folge, Fragen nach Grenzen und Hürden der Aktionen ebenso.
Die grosse Qualität von Tiefrot und radikal bunt ist es aber, dass das Buch sich nicht nur an eine ohnehin schon politisierte Linke richtet. Sondern eben an den resignierten und frustrierten Nachbarn Paul. An die Eltern, die plötzlich slightly racist über migrantische Kinder im Dorf sprechen. An den Arbeitskollegen, der über die «faulen Arbeitslosen» schimpft. Und eben doch auch an die Linke, die dringend üben muss, unterschiedliche Ansätze zu einer überzeugenden Erzählung zusammenzuführen – einer Erzählung, die das Potenzial hat, die Welt zu verändern.
Julia Fritzsche: Tiefrot und radikal bunt. Für eine neue linke Erzählung. Edition Nautilus, Hamburg 2018. 190 Seiten.
*1988, studierte literarisches Schreiben, Geschlechterforschung und Philosophie an der Kunsthochschule Bern und der Universität Basel. Sie ist Tanztherapeutin, schreibt freiberuflich und ist Co-Leitung der Neue Wege-Redaktion.