Als jemand, die die Kultur der naturverbundenen Tuareg «in sich» trägt und in Belgien aufgewachsen ist, wo Gleichberechtigung selbstverständlich ist, sieht sich Samira als Privilegierte und moralisch verpflichtet, Atara aus ihrem Zustand herauszuholen. Atara lernt die ehemalige Kolonialsprache Französisch, nicht die offizielle Amtssprache. Sie lernt Jeans als Kleidungsstücke lieben, die ihr Bewegungsfreiheit geben und ihren «schlanken» Körper sichtbar machen, sie legt den Schleier ab und geht unbegleitet auf die Strasse. Diese Veränderungen werden als Wandel «vom Mädchen zur Frau» beschrieben. Samira ist dabei die Erzieherin, die Richtung und Ziele vorgibt und diese Entwicklung auch als eigenen Erfolg versteht.
Die emanzipierte junge Frau, von Samira verkörpert, ist mit Kleidung, langem schlanken Körper, «Entschleierung», Bildung und heteronormativer romantischer Liebe bürgerlich und eurozentrisch kodiert. Sie wird als solche erkennbar und begehrenswert in der Abgrenzung zum muslimischen postkolonialen Algerien, das mit der von Frauen, Bewegungseinschränkung, damit einhergehenden dicklichen Körpern, Bildungsferne und arrangierten Ehe assoziiert wird.
Ähnlich wie in aktuellen europäischen antimuslimischen Diskursen verschliesst diese Darstellung den Blick auf die langjährigen feministischen Kämpfe in Algerien. Die Erzählung zeichnet dagegen das Bild der passiven, handlungsunfähigen muslimischen Frau, die von Europäer*innen vor ihren «unzivilisierten» braunen Männern gerettet werden muss. Die Bücher verschliessen auch den Blick auf die hiesigen patriarchalen Strukturen: Solche Ungleichheit kann es nur anderswo geben.
Diese Zuspitzung auf ein einziges – und darüber hinaus kolonialnostalgisches – Ideal für junge Frauen habe ich als Jugendliche nicht wahrgenommen. Beim Lesen in diesem Sommer machte mich diese Erkenntnis wütend, und traurig.
Als Jugendliche hatte ich keine postkolonialen Analysewerkzeuge. Ich wollte so sein wie Samira, selbstbewusst und begehrenswert. Sie hatte zwar eine «Mähne», die ihr nicht gefiel, weil sie zu dicht und schwer zu frisieren war, aber sonst bewegte sie sich in Algerien ebenso frei wie in Belgien. Ich hingegen fühlte mich in Angola, das ich nicht kannte, deplatziert, ebenso wie in der Schweiz, wo ich aufgewachsen war. Ich frage mich heute, ob meine de Cesco-Lesewut nicht auch eine Suche war, eine Auseinandersetzung mit dem Fehl-am-Platz-Sein. Ich frage mich, ob de Cescos kolonialrassistischen, schablonenhaften Darstellungen auch der Grund waren, weshalb ich schliesslich aufgehört habe, ihre Bücher zu lesen.
Ich wünschte meinem jugendlichen Ich, ihr wäre ein Roman in die Hände gefallen, der aufgreift, wie es ist, als Frau of Colour in Europa zu leben. Ein Roman, der die Kluft erläutert, wenn ich am privilegierten Ende des Spektrums der globalen Ökonomie von dieser profitiere, während der Alltagsrassismus mich immer wieder ans andere Ende verpflanzen will. Ich wünschte mir, ich hätte einen Roman in die Hand bekommen, in dem das Deplatzieren nicht der Weg, sondern das wünschenswerte Ziel ist. Zum Glück habe ich als Erwachsene diese Romane gefunden, zum Beispiel bei Chimamanda Adichie Ngozi, Taye Selasie oder Sharon Dodua Otoo.