Neue Wege-Gespräch: «Ein Gedicht trifft mich dort, wo ich nicht schon bin»

Geneva Moser, 27. April 2020
Neue Wege 5.20

Von Inspiration, harter Arbeit und dem Versuch, das Unsagbare in Sprache zu fassen, erzählen zwei Autor*innen und ein Literaturwissenschaftler. Sie sind sich einig: Gute Lyrik geht ans Eingemachte. Neue Wege-Gespräch mit Eva Maria Leuenberger, Levin Westermann und Sandro Zanetti.

Neue Wege: Lyrik hat den hartnäckigen Ruf, unverständlich und elitär zu sein. Ist da etwas dran?

Eva Maria Leuenberger: Dieser Ruf hängt damit zusammen, wie wir an den Schulen Lyrik unterrichten: Ein Gedicht ist ein Problem, welches gelöst werden muss. Es gibt eine richtige Lesart, die gefunden werden muss. Weniger im Fokus steht, was ein Gedicht auslöst, wie es klingt und welche Bilder es evoziert. Diese sinnliche und emotionale Ebene wird ausgeklammert. Aber es gibt sehr unterschiedliche Arten von Lyrik. Im deutschsprachigen Raum ist eine sprachphilosophische Lyrik, die die sinnliche und emotionale Ebene ausklammert, eher dominant. Für mich ist gute Lyrik alles andere als abgehoben: Sie ist Teil der Welt, sie ist dringlich und auch politisch.

Levin Westermann: In einem Essay zu zeitgenössischer deutscher Lyrik stand vor einigen Jahren, «Dringlichkeit» sei ein Wort, das in Zusammenhang mit Lyrik nicht mehr benutzt werden dürfe. Das ist absurd. Vom ersten Zugang zu einem Gedicht zu sprechen, also die unmittelbare Reaktion auf das, was auf dem Blatt steht, ist fast verboten. «Ich mag das» ist eine völlig legitime Reaktion auf ein Gedicht. Eine Bekannte hat an einem Kurs in kreativem Schreiben teilgenommen. Dort hat sie gesagt: «Oh, dieses Gedicht ist schön.» Deswegen wurde sie richtig zur Sau gemacht: Das sei doch kein Massstab. Das Sprachphilosophische ist tatsächlich sehr dominant. Ein Gedicht muss offenbar immer einen Mehrwert haben.

EML: Bei Lesungen wird oft gesagt: «Ich bin nicht sicher, ob ich das richtig verstanden habe.» Die persönliche Reaktion – «Es trifft mich, berührt mich, hält mich, bewegt mich …» – wird in Frage gestellt und scheint nicht zu genügen.

NW: Sandro Zanetti, Sie haben ja als Literaturwissenschaftler durchaus einen analytischen Zugang zu Lyrik. Wie sehen Sie das?

SZ: Von Studierenden höre ich das auch oft: «Ich weiss jetzt nicht, ob ich das sagen darf …» Mein Ansatz ist es, vom Text auszugehen und ihn zunächst im Lesen wirken zu lassen. An der Uni geht es dann natürlich auch darum nachzuvollziehen, wie ein Gedicht gebaut ist, welche Strukturen es hat und was genau es auslöst. Ich muss oft selber aufpassen, dass ich nicht mit allzu starren Begriffen an ein Gedicht herantrete, vor allem, wenn einem darin etwas dunkel vorkommt. Wenn etwas nicht klar ist, kann es gerade darum gehen, dass es nicht klar ist. Unklarheit hat ihre Berechtigung. Ich lese gerne Gedichte und erlebe das jeweils auch als ein neues Erlernen von Sprache. In einem guten Gedicht wird eine Welt aufgebaut, die man so noch nicht kennt.

NW: Für wen schreiben Sie, Eva Maria Leuenberger und Levin Westermann?

EML: Mein Schreiben richtet sich nicht an eine Adressatin. Für mich ist es vielmehr eine Art innerer Dialog mit Texten, Inhalten und Autorinnen, die schon da sind. Es ist nicht in dem Sinn nach aussen gerichtet, dass man jemandem etwas sagen oder erklären möchte. Es ist etwas Privates und Intimes, das dann hoffentlich eine neue Kommunikation nach aussen beginnen lässt.

LW: Ich bin erst spät an das Schweizerische Literaturinstitut gekommen, mit 29. Erst dort ist mir klar geworden, dass man als Autor Lesungen halten muss. Es war auch das erste Mal, dass ich drüber nachgedacht habe, dass ich lisple. Es ist doch interessant, dass mir das nicht vorher in den Sinn kam: Ich hatte nie den Impuls, auf einer Bühne zu sitzen und meine Texte vorzulesen. Es geht vielmehr um das Lesen von Texten anderer und um dieses vielleicht etwas überhöhte Gefühl: Das ist für mich geschrieben!

EML: In meinem Schreiben gibt es aber auch Momente, in denen ich nicht mehr unbedingt in Kommunikation mit anderen Texten bin. Es sind Momente, in denen Dinge in der Welt einen akuten Drang zu kommunizieren auslösen. Ich beobachte bei mir gerade häufig eine fast wütende Reaktion auf gewisse Gegenwartstexte. Ich frage mich: Warum dieser Text, wenn doch Menschen im Mittelmeer ertrinken? Das mag etwas eng sein, aber es muss doch eine Art von Sprache geben, die das Furchtbare in der Welt fassen oder auf eine andere Art halten kann, als es Nachrichten können.

NW: Etwas salopp gesagt: Wenn es nicht auch einen Drang gäbe, etwas nach aussen zu kommunizieren, dann könnten Sie ja auch Tagebuch schreiben.

LW: Das ist ein Problem, über das ich viel nachdenke. Ich möchte nicht vorlesen und in Ruhe gelassen werden. Gleichzeitig bin ich froh, dass ich einen Verlag habe, der schöne Bücher druckt. Ich freue mich, wenn sie jemand liest und mir das auch sagt. Und dann diese Frage, die auch Ilse Aichinger oder Paul Celan mit Blick auf alles Furchtbare gestellt haben: Was macht man mit der Sprache, der man nicht mehr vertrauen kann? Eigentlich ist die Sprache kaputt – und was tun wir jetzt?

SZ: Ich würde zunächst auch sagen, dass Literatur dann erst richtig entsteht, wenn sie den Schreibtisch verlässt. Es muss zumindest einen Adressaten ausserhalb seiner selbst geben, aber dieser Adressat muss zugleich offen sein. Idealerweise stelle ich mir das als Leser so vor, dass Gedichte mich dort treffen, wo ich nicht schon bin. Für viele Autorinnen und Autoren ist es so, dass sie mit dem Schreiben von Gedichten selber auf der Suche nach etwas sind, das sie noch nicht kennen, wo sie noch nicht sind. Diese Suche trifft sich vielleicht mit der Dringlichkeit hinter dem Text. Bestenfalls überträgt sich das in der Lektüre.

LW: Das erinnert mich an das Gedicht The Waste Land von T.S. Eliot. Dieses Gedicht begleitet mich, seit ich neunzehn bin. Nach zehn Jahren war ich soweit, dass ich etwas dazu schreiben konnte. Bis heute habe ich keine Ahnung, worum es in diesem Gedicht geht. Ich habe es unzählige Male gelesen, Dinge unterstrichen, aber es ist einfach zu dicht. Eliot hat gesagt, dass Gedichte kommunizieren, bevor man sie versteht.

NW: Sie klang jetzt oft an, diese Suche danach, das zu fassen, was unfassbar ist. Eignet sich Lyrik in ihrer kondensierten Form besonders für dieses Suchen und Fragen?

LW: Ja, definitiv. Nehmen wir als Beispiel die Leerstellen. Wie in den Gedichten von Sappho, die nicht vollständig sind und bei denen einfach alles in die Leerräume reininterpretiert werden kann. Es ist so spannend, was ein solches Gedicht in einem öffnet, wenn man es liest. Gleichzeitig können Leerräume auch schlecht eingesetzt werden.

EML: Ich glaube schon, dass Lyrik in ihrer Art, an die Sprache heranzugehen, es möglich macht, unsagbare Dinge sagen zu können. Sie ist nicht in diesem Vermittlungs- oder Kommunikationsmodus.

SZ: Dann sind Sie aber viel näher an den sprachphilosophischen Fragen, als Sie vorhin den Eindruck erweckt haben. Dieses Verständnis von Lyrik – diese Brüchigkeit, diese Offenheit, die Leerstellen, diese Einladung – ist sprachphilosophisch bereits recht voraussetzungsreich. Es gibt Gedichte, die diese Merkmale kaum aufweisen. Was Sie beschreiben, ist ein Phänomen, das in der Gegenwartslyrik besonders oft auftritt. Sie grenzt sich durch ihre Offenheit und Unbestimmtheit vom Roman als der dominanten und auch dominant-verkäuflichen Form von Literatur sowie von anderen Medien ab. Mein Problem mit dem Unfassbaren ist, dass man auch sehr lange um das Unfassbare herumreden und es damit mystifizieren kann. Damit wird vielleicht etwas mystifiziert, das nur eine Leerstelle, ein Freiraum, eine Kontingenz ist …

NW: Das klingt jetzt schon fast religionswissenschaftlich …

LW: Ja, der Versuch, das Unfassbare auszudrücken, ist für mich der Kern, warum ich Gedichte mag. Das findet sich in vielen poetologischen Texten von Autorinnen und Autoren. Herta Müller nennt es den Irrlauf im Kopf. Sie beschreibt damit, wie sie ein Gedicht liest und plötzlich alles stoppt. Sie kann die Wörter sehen, aber sie kann sich nicht erklären, wie ihre Reaktion, die sie physisch erlebt, aus dieser Zusammensetzung von Wörtern entstehen kann. Georg Oppen sagt, er stottere eine Weile, wenn er ein gutes Gedicht gelesen habe. Er wolle es jemandem erzählen, aber schaffe es nicht. Das bringt mich zu der Frage, ob es Inspiration gibt oder nicht. Wie entsteht ein Gedicht? Ist alles nur: «Ich plane diesen Text in diesem Zyklus und habe die Zeilen und die Motive?» Oder gibt es den Moment, wo etwas kommt, was du nicht geplant hast, und dann beginnt die Arbeit, daraus ein Gedicht zu machen? Marina Zwetajewa nannte das die «gegebenen Zeilen»: Zehn bekommt man geschenkt, die restlichen neunzig muss man sich hart erarbeiten. Denn es braucht immer beides, Inspiration und Arbeit.

SZ: Ich gehe davon aus, dass es in jedem Schreiben – auch für uns Wissenschaftler – etwas gibt, das wir noch nicht verstehen, das aber als Motivator oder Auslöser wirkt, so wie bei einem guten Einfall: Es gibt etwas, das nicht von einem selber kommt, sondern das einem zustösst, ein Initialmoment. Schreibende gehen damit extrem unterschiedlich um, und das erklärt auch ein Stück weit die Unterschiedlichkeit von Texten. Einige versuchen ständig, diesen Moment zu behalten, zu bewahren, vielleicht auch zu transformieren, andere versuchen ihn formalistischer zu lösen. Nehmen wir als Beispiel die Oulipo-Bewegung: Sie haben sich strenge Regeln für das Schreiben auferlegt, etwa die Reduktion des Buchstabenmaterials; da nutzt man beispielsweise nur einen Teil des ABCs. Das kann man verkopft oder zwanghaft finden, aber ich finde es legitim und spannend, wenn es nicht einfach darum geht, einem inneren Impuls zu folgen. Aber es bleibt dabei: Im Schreiben weiss man noch nicht, wo die Reise hingeht – und was genau sie ausgelöst hat. Sonst müsste man nicht schreiben.

NW Dieser Versuch, sich mit Sprache an etwas Unklares, Unsagbares heranzutasten, hat wohl bereits eine politische Dimension. Gibt es darüber hinaus eine Art politische Funktion von Lyrik? Was kann Lyrik gesellschaftlich, politisch bewirken? Ist das vielleicht eine Frage, die ihre besten Zeiten gesehen hat und heute verpönt ist?

EML: Ich bin mir nicht sicher, was ich darüber denke. Ich hadere allerdings mit dem Wort Funktion.

LW: Ich auch.

SZ: Ich auch.

EML: Dass Lyrik politisch ist, ist für mich nicht dasselbe wie «Lyrik hat eine politische Funktion». Da denke ich sehr schnell an den Missbrauch von Lyrik als Propagandamittel. Alleine die Tatsache, dass alles immer eine Funktion haben muss, stört mich. Einer der Gründe, warum Lyrik wertvoll und an sich politisch ist, ist gerade, dass sie sich nicht verkauft und wenig Platz in der Welt hat. Es geht nicht nur um das Produkt am Ende. Warum hadert ihr mit dem Begriff der Funktion?

SZ: Ich würde das am Begriff des Politischen festmachen. Es gibt Lyrik, die in einem schlechten Sinne politisch ist, weil sie Parteipolitik oder Staatspolitik verkörpert. In diesem Fall hat sie eine klare Funktion und auch eine klare Aussage. Wenn man Politik weiter- denkt und nicht nur institutionalisiert versteht, sondern als Handlungsraum von Menschen und ihrer Sprache, dann ist Lyrik – ob sie will oder nicht – schon deswegen politisch, weil sie in diesen Raum eintritt. Dann ist die Frage: Was kann Lyrik in diesem Feld tun? Wenn es überhaupt eine Funktion gibt, dann vielleicht die, eine andere Form des Sprechens und einen anderen Umgang mit Sprache vorzuführen. Krasseste Formen politischen Sprechens und politischer Machtausübung sind der Befehl, die Anordnung, das Verurteilen. Verglichen mit diesen Sprechweisen hat lyrisches Sprechen oder Schreiben keine Funktion – oder allenfalls diejenige, diese anderen Funktionen herauszufordern oder zu bedrängen. Insofern ist sie politisch, und zwar fundamental, weil sie ans Eingemachte geht, an die Grundlagen des Sprechens.

LW: Vor einigen Jahren hat Die Zeit den Versuch gemacht, auf Seite drei politische Lyrik zu bringen. Da konnte man dann etwas von Kampffliegern und Merkel im Wüstensand lesen. Das war absurd.

EML: Ja, wenn Lyrik eine Kommentarfunktion zum aktuellen Zeitgeschehen bekommt, geht das nicht auf.

LW: Ich gebe auch zu, dass ich die politische Lyrik der 1960er Jahre heute nicht mehr lesen kann. Diesen Gedichten ist eingeschrieben, wann sie entstanden sind, und sie haben ihr Ablaufdatum längst überschritten.

NW: Einige grössere Literaturkritik-Plattformen haben kürzlich Schwerpunkte zu politischer Lyrik gemacht. Ist unsere Zeit vielleicht eine, die eine unmittelbar reagierende Lyrik wieder braucht?

LW: Ein Gedicht aus der vorhin erwähnten Lyrik-Reihe der Zeit ist mir in Erinnerung geblieben: giersch von Jan Wagner. Er schreibt darin über die Gier – anhand einer Kletterpflanze. Das ist zeitlos und beschreibt etwas, was wir alle empfunden haben. 2008 dachten wir alle kurz, der Kapitalismus sei zu Ende, selbst in Frankfurt dachten wir das. Da hängten sich plötzlich alle Karl Marx an die Wand und jubelten, aber es kam anders. Und dann kam dieses ruhige Gedicht. Das stand in so krassem Gegensatz zu den vorhin erwähnten Wüstensand-, Kampfflieger- und Kriegsgedichten in der Zeit. Zu allem, was jetzt passiert, schreibt jemand gerade ein gutes Gedicht. Eines, das subtil und ohne Schlagworte funktioniert. Eines, das das Gefühl des Unfassbaren in vierzehn Zeilen einfängt.

EML: Das stimmt. Es gibt viel gute Lyrik, die mit aktuellen Dingen umgeht. Der Band Don’t let me be lonely von Claudia Rankine ist für mich so ein Beispiel, das mit den ganz spezifischen Ereignissen nach 9 / 11, mit Rassismus und der medialen Berichterstattung umgeht. Ihre Reflexion hat eine Langsamkeit und Sorgfalt. Mein Problem mit der Tagesaktualität ist auch das Tempo: Alles muss so schnell gehen. Da fehlt für mich, was Lyrik wichtig macht: das Schweigen, das langsame und präzise Denken, das Einordnen und Kontextualisieren.

NW: Ist das nicht auch eine sehr privilegierte Herangehensweise an Lyrik? Was ist mit Kontexten und Situationen, in denen diese Zeit und dieses Schweigen schlicht nicht vorhanden sind und die eine andere Vehemenz erfordern?

LW: Sicher gibt es Kunstformen, die schnell und hart reagieren können, aber nicht Lyrik. Es mag abgeklatscht klingen, aber ein Gedicht braucht Zeit. Diese Debatte ist ja auch aktuell im Zusammenhang mit Online-Lyrik. Jede Woche ein Gedicht auf Instagram zu stellen, läuft dem entgegen, worum es bei Lyrik mal ging.

EML: Da ist Lyrik dann auch wieder politisch. Sie steht der Art und Weise entgegen, wie in Medien geredet wird. Und sie widersetzt sich einer Produktionslogik von schnellem Tempo und grossen Mengen.

SZ: Ich zögere etwas. Ich gehe davon aus, dass Lyrik auch superaktuell sein darf. Mir fällt ein Beispiel von JURCZOK 1001 ein. Er reagierte mit poetischen Mitteln auf eine Sendung mit Roger Köppel von der Weltwoche. Köppel sagte in der Sendung wohl sehr häufig: «d’Wältwuchä». Jurczoks Gedicht bestand im Wesentlichen nur darin, dass er die Wendung «d’Wältwuchä» – wie Köppel, aber losgelöst vom Kontext – in unterschiedlichen Nuancen betonte. Das war aktuell, genau beobachtet und löste etwas aus. Das war gut gemacht. Vielleicht ist das schon heute kein gutes Gedicht mehr, aber ich finde es mehr als nur legitim. Für die Ewigkeit zu schreiben, ist ein ehrenvoller Anspruch, aber ich glaube, das hat man ohnehin nicht in der Hand. Ausserdem birgt der Ewigkeitsanspruch die Gefahr, dass man auf einen Baukasten scheinbar verlässlicher Werte zurückgreift. Mein Plädoyer wäre eher eines für die Vielfalt und für die Reaktion auf die jeweils persönliche Situation. Dann ist Langsamkeit und Entschleunigung wiederum eine sehr willkommene Reaktion auf das Zeitgeschehen.

NW: Nicht-traditionelle lyrische Literaturformen sind in den sozialen Medien präsenter. Literaturkritik.de beschreibt diese Formen als «vielleicht neue Form unmittelbar reagierender politischer Lyrik». Wie sehen Sie das?

LW: Im englischsprachigen Raum ist diese Debatte akuter und wird sehr hitzig geführt. Dichterinnen wie Rupi Kaur, die über Instagram bekannt wurde, verkaufen Bücher in Millionenauflage. Da fühlen sich manche angegriffen. Ich finde das interessant. Ein Argument ist ja auch, dass jetzt Menschen Lyrik lesen, die das vorher nie gemacht hätten – und das ist toll. Auf der anderen Seite ist das Becken, das Aufmerksamkeits-Becken oder auch das Preisgeld-Becken, für Lyrik sehr klein. Da wird sofort nach denen geschnappt, die den Fuss in das Becken strecken.

EML: Rupi Kaur ist eine junge Frau, und ihre Leserinnen sind häufig junge Frauen. Als Gesellschaft finden wir schnell alles blöd, was Mädchen toll finden … Viele Reaktionen sind absolut nicht verhältnismässig. Dabei hat diese Entwicklung gute Seiten. Ich lese häufig Tweets von Lyriker*innen auf Twitter. Da kursieren auch manche Sätze aus Gedichten zu aktuellen Ereignissen. Beispielsweise begleitet mich ein Satz von Ilya Kaminsky aus dem Band Deaf Republic. Da gehen Menschen zu Gott und fragen: «Wie konntest du das zulassen?» Und als Antwort ertönt das Echo: «Wie konntet ihr das zulassen?» Diese Zeilen tauchten überall wieder auf. Wie ein Echo der Trauer über alles, was gerade geschieht. Das ist ein Zeichen dafür, wie kraftvoll gute Lyrik sein kann. In schwierigen Zeiten kehre ich zu meinen Lieblingsbüchern zurück und weiss: Der Klang mancher Zeilen kann tragen.

SZ: Das ist ein Charakteristikum von Lyrik: ihre Merkbarkeit, die Wiederholbarkeit. Man kann ein Gedicht auswendig lernen und vielleicht in der Wiederholbarkeit und im rituellen Charakter Halt finden. Das ist auch mit heutiger Lyrik möglich.

NW: Merkbarkeit und Zufluchtnahme – das rückt das Gedicht in die Nähe des Gebets. Die Lyrikerin Nora Gomringer nennt beide «Geschwister». Gibt es in Ihrem Schreiben oder Lesen Texte, die Gebetscharakter haben?

EML: Ich möchte das nicht verallgemeinern, aber für mich persönlich: ja. Ich bin nicht religiös aufgewachsen und bete nicht. Aber was ich von Menschen höre, die beten, ist genau das: aufgehoben sein in einer bestimmten Sprache.

SZ: Das steht und fällt mit dem Verständnis von Beten – und von Gott. In einem weiten Verständnis von Beten kann man durchaus sagen, dass Gedichte Gebete sind. Das führt wiederum zur Frage der Adressierung: Wenn man Gott nicht als den alten Mann mit Bart im Himmel versteht, sondern – zum Beispiel – in jedem anderen Menschen oder sogar in jedem Ding oder schlicht in der Natur verkörpert sieht, dann hat das Konsequenzen für die Qualität der Adressierung. Es ist dabei durchaus möglich, etwas zu adressieren, was man nicht schon kennt. Die Qualität des Aussprechens alleine kann schon kathartische Wirkung haben. Mir liegt daran, dieses Verständnis nicht an eine bestimmte Religion zu binden, sondern zu wissen, dass es eine enorme Bandbreite von Formen gibt.

LW: Für mich ist Lyrik spirituell. Ich bin nicht gläubig, aber das, was andere im Glauben finden, finde ich in der Literatur. Ich könnte nicht sagen: Das ist mein Beruf. Dichtung und Literatur haben eine spirituelle Dimension und etwas Existenzielles.

EML: Auch für mich ist mein Schreiben existenziell. Ich wehre mich immer, wenn bei Lesungen ergänzende Vermittlungsangebote gemacht werden. Lyrik braucht nicht einen Spaziergang, eine Illustration oder eine Musikbegleitung, um geniessbarer zu werden. Ich meine meine Texte ernst und habe mir mein Leben so organisiert, dass ich sie schreiben kann. Damit möchte ich ernst genommen und nicht locker in eine schöne Veranstaltung verpackt werden.

LW: Es gibt das Vorurteil, Lyrik habe es erst heute schwer, sich zu verkaufen, aber das stimmt nicht. Es war immer so, dass die Lyrik kein Geld hatte und keine Zuschauer, aber sie ist immer noch da. Die Briefe von Marina Zwetajewa im französischen Exil sind herzzerreissend. Alle sehen sie als die grosse Dichterin und laden sie ein für Lesungen, wollen ihr aber kein Geld geben. «Geld? Du schreibst doch für die Kunst, Marina!». Sie muss immer erklären: «Ich habe Kinder, und für jeden Franc, den ihr mir gebt, kann ich Kartoffeln kaufen.»

SZ: Jetzt war ich kurz abgelenkt, weil ich ein bestimmtes Zitat zum Thema «Gebet» suchte. Franz Kafka notierte einmal: «Schreiben als Form des Gebets». Paul Celan hat sich das angestrichen und dazu seinerseits festgehalten: «Auch das bedeutet zunächst nicht Beten, sondern Schreiben: man kann es nicht mit gefalteten Händen tun.» Das gefällt mir: Schreiben hat zwar diese Dimension des Betens, aber es ist eben auch sehr praktisch und lebensweltlich. Beide Sphären sind nicht getrennt voneinander.

Paul Celan: Der Meridian. Endfassung. Entwürfe. Materialien. Hrsg. von Bernhard Böschenstein und Heino Schmull, Frankfurt am Main 1999, S. 72.
T.S. Eliot: Das öde Land. Englisch und deutsch, Frankfurt am Main 2008.
JURZCOK 1001: D’Wältwuche. Online unter www.youtube.com/watch?v=VL0KeFLNt5A
Ilya Kaminsky: Deaf Republic. Minneapolis 2019.
Claudia Rankine: Don’t let me be lonely. London 2017.
Jan Wagner: Regentonnenvariationen. Berlin 2014.

 

○ Sandro Zanetti, *1974, ist Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Zürich und Mitherausgeber des Online-Magazins Geschichte der Gegenwart.

○ Levin Westermann, *1980 in Meerbuch geboren, lebt in Biel/Bienne. Sein aktueller Gedichtband bezüglich der schatten erschien 2020 bei Matthes & Seitz, Berlin.

○ Eva Maria Leuenberger, *1991, lebt in Biel/Bienne. Ihr erstes Buch dekarnation ist 2019 bei Droschl, Graz, erschienen.

  • Geneva Moser,

    *1988, studierte literarisches Schreiben, Geschlechterforschung und Philosophie an der Kunsthochschule Bern und der Universität Basel. Sie ist Tanztherapeutin, schreibt freiberuflich und ist Co-Leitung der Neue Wege-Redaktion.