Mit dem brutalen Krieg der russischen Führung in der Ukraine sind träge Konstanten der europäischen Politik plötzlich in Bewegung geraten: Mit welchen Mitteln kämpft Europa angesichts des Horrors von Hass und Gewalt um die Menschenrechte? Auf wessen Kosten stellt die EU politische Solidarität her? Zahlen angesichts geplanter Hochrüstung, steigender Rohstoffpreise und drohender Inflation die eh schon prekär lebenden Bevölkerungsgruppen den Preis? Will Europa im Kampf gegen Russland und in der globalen Auseinandersetzung mit China genesen? Oder verändert es sich aus eigenständiger Kraft so, dass wir als seine Bewohner*innen auf eine post-imperiale und post-fossile, post-patriarchale und post-nationalistische, kurz: weltverträgliche Lebensweise umschwenken können? Und schliesslich: Können die Errungenschaften der Willkommenskultur für ukrainische Geflüchtete auch für andere Gruppen erkämpft werden? Oder bleibt der Kontinent die Festung, an der Menschen abprallen, vor der sie verzweifeln und ertrinken?
Die Frontex-Abstimmung vom 15. Mai gibt der schweizerischen Stimmbevölkerung eine Möglichkeit, sich zu Wort zu melden. Sie kann das Gesicht Europas und seiner Grenzen ein ganz klein wenig mitbestimmen. Jetzt, im Krieg und für die Zeit nach dem Krieg. Das Parlament will den Beitrag an Frontex, die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache, von 14 auf 61 Millionen Franken pro Jahr erhöhen und das eigene Personal aufstocken. Es geht um ein Schweizer Gesetz. Aber es geht vor allem um Europa. Die Ausgangslage in der Schweiz ist anders als bei anderen Europadebatten. Beim Rahmenabkommen stritt man darüber, wie man sich den Genuss der eigenen Extrawurst bewahren könnte. Wenn die Schweiz in der Frontex-Frage ein Zeichen setzt, geschieht dies nicht aus Nationalegoismus. Es wäre ein Bekenntnis zu Menschlichkeit und globaler Verantwortung, gegen militarisierte Abschreckung auch von Menschen, die statt aus Mariupol aus Aleppo oder Kandahar flüchten mussten. Befürworter*innen der Vorlage glauben, dass die Schweiz mit einem Nein die EU einmal mehr brüskieren, gegen Dublin-/Schengen-Verpflichtungen verstossen und allenfalls ganz aus diesem gemeinsamen System offener Grenzen gegen innen und abgeschotteter Grenzen gegen aussen fallen würde. Ich sehe das anders: Die Schweiz würde sich nicht von Europa isolieren, sondern die Reformkräfte stärken. Die Mehrheit des EU-Parlaments hat wegen Menschenrechtsverletzungen einen Teil des Frontex-Budgets eingefroren.
Am Palmsonntag formierte sich in Bern eine Menschenkette von der Dreifaltigkeitskirche bis zum Bundeshaus. Bücher mit handgeschriebenen Angaben zu jedem der mehr als 48 000 Menschen, die seit 1993 auf der Flucht nach Europa umgekommen sind, wurden der Politik übergeben. Die meisten Geflüchteten sind im Mittelmeer ertrunken, viele auch unter den Augen von Frontex. An den europäischen Aussengrenzen leben ausserdem Hunderttausende Menschen in erbärmlichen Verhältnissen und Lagern. Zum Beispiel überwacht Frontex seit 2017 den Luftraum über dem zentralen Mittelmeer. Wenn ein Flüchtlingsboot entdeckt wird, benachrichtigt die Agentur häufig die sogenannte libysche Küstenwache; diese fängt das Boot ab und schafft die Menschen nach Libyen zurück, wo ihnen in Haftanstalten schwere Menschenrechtsverletzungen drohen.
Vor dem Bundeshaus sprach ein Pfarrer davon, dass nicht nur am Palmsonntag Gastfreundschaft für Geflüchtete und der Einzug von Friedefürsten in die Stadt ermöglicht werden müsse – und Protest gegen die Herrschenden auf den Thronen.
Es gibt kirchliche Stimmen zur Abstimmung. Das HEKS verzichtet allerdings trotz Kritik an Frontex vornehm auf eine Parole. Es fordert immerhin, dass endlich mehr legale und sichere Fluchtwege in die Schweiz geöffnet werden müssten. Vielen unmittelbar bedrohten Angehörigen von afghanischen Geflüchteten, die das Hilfswerk in der Schweiz betreut, bleibe beispielsweise der Zugang zu einem humanitären Visum und damit zu einer sicheren Flucht verwehrt.
Auch aus diesem Grund, um den Druck auf legale und sichere Fluchtwege zu erhöhen, sagen viele kirchliche Basisgruppen und Migrationsfachpersonen Nein zum Frontex-Ausbau. Es brauche eine massive Erhöhung des Resettlement-Kontingents, erleichterte Familienzusammenführung, die Wiedereinführung des Botschaftsasyls und generell eine viel grosszügigere Aufnahme von flüchtenden Menschen. Caritas Schweiz spricht sich gegen eine Erhöhung der Schweizer Beiträge an Frontex aus. Die Politik und das Vorgehen von Frontex würde das Grundrecht jedes Menschen, ein Asylgesuch zu stellen, massiv verletzen.
Eben: Welches Gesicht soll Europa haben?
*1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution SMRI.