Millionen jüdischer Israelis sind aufgewühlt, sie sehen ihren Staat in der Existenz bedroht und ihre persönliche Zukunft in Gefahr. Viele bezeichnen die neue Regierung als rechtsextrem, rassistisch, faschistisch. Deren Strategie sei ein Staatsputsch von oben, ihre Gesetzesvorlagen öffneten Türen zu einer Diktatur. Ein Szenario der Zerstörung Israels schien über Jahrzehnte von palästinensischen Attentätern, iranischen Fundamentalisten, «antisemitischen» Vertreter*innen der BDS-Boykottkampagne her möglich. Feinde von aussen hielten die Gesellschaft zusammen. Und jetzt wird die israelische Demokratie von innen her ausgehöhlt, und die Gesellschaft droht an sich selbst zu zerbrechen.
Gegen die Regierung hat sich in den letzten Monaten eine Protestbewegung gebildet. Ihr ziviler Ungehorsam, ihre Entschiedenheit und Ausdauer beeindrucken mich sehr. Hunderttausende Menschen gehen auf die Strasse, wenn es sein muss, mitten in der Nacht. Sie vermögen den Flughafen, Universitäten oder den High-Tech-Sektor zum Stillstand zu bringen.
Der Widerstand ist heftig: Viele Menschen werden sich bewusst, dass es nicht «nur» um Justizreformen und die Zerstörung einer liberalen Gesellschaft geht wie in Ungarn oder Polen. Ziel der Nationalreligiösen an der Macht ist eine militarisierte High-Tech-Theokratie. So absurd es klingt: Die Regierung Netanjahu nähert sich dem Herrschafts- und Gesellschaftssystem ihrer Erzfeinde an, der Hamas in Gaza oder dem iranischen Regime.
Februar 2023, ich bin unterwegs in Galiläa. Uri, ein alter Freund, vergleicht auf den Fahrten durch diese wunderbare Landschaft den Staat Israel mit einem Wagen, der in den Abgrund stürzt. Und er fragt sich, ob der Absturz noch aufgehalten werden kann. Was mich zuerst irritiert: Auch wenn er sich dem Protest selbstverständlich anschliesst, fragt er sich, ob der Absturz noch aufgehalten werden soll. Denn ein «Zurück zum Normalzustand» ist für ihn keine Alternative.
Palästinenser*innen wissen es, und immer mehr Israelis wie Uri eigentlich auch: Der Weg in den Abgrund hat mit den Anfängen zu tun. Die Gründung des Staates Israel 1948 bedeutete Heimat für Shoa-Überlebende und aus Europa Vertriebene. Und das hiess: Vertreibung der anderen. Die damit für die palästinensischen Menschen einsetzende Katastrophe, die Nakba, dauert 75 Jahre später noch an. Die völkerrechtswidrige Besatzung von Westbank und Gaza seit 1967 bedeutet die Kontrolle der Einheimischen mit Gewalt. Die Vereinbarungen von Oslo schufen statt des ersehnten Friedens die Möglichkeit, noch mehr Land zu enteignen. Die rasant wachsenden Siedlungen und das Strassennetz zu ihrer Erschliessung, die Trennmauer und die Checkpoint-Anlagen machen die Zementierung jüdisch-rassistischer Vorherrschaft über die palästinensische Bevölkerung direkt sichtbar. Ich reise durch die Westbank und bin erschüttert darüber, wie hier die Landschaft und die Gesellschaft von einst verwundet worden sind.
Viele ahnen es, wenige sprechen es aus: Es gibt kein Zurück mehr zur Zweistaatenlösung. Das macht Angst, weil es allen Gewissheiten den Boden entzieht. Die jetzige rechtsextreme Regierung in Israel steht entlarvend offen dazu, dass es keinen Rückzug hinter die Grenzen der Besatzung geben wird. Sie fährt die Ernte ein, die frühere, «gemässigte» Regierungen säten.
Rechtlosigkeit und Demütigung, Aggression und Gewalt sind die Geister, die man schuf, um die Palästinenser*innen zu beherrschen. Diese Geister haben sich, in der Psyche der Menschen wie in den Strukturen des Staates, selbständig gemacht und richten sich jetzt gegen auch gegen innen. Der Weg zurück, um alles zu entflechten, scheint verbarrikadiert.
Mit meinem Freund Uri besuche ich die Ausgrabungen der antiken Stadt Zippori in Galiläa. Ihm liegt die Erinnerung an die dortige Koexistenz römischen und jüdischen Lebens in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung am Herzen. In dieser Konstellation von Vielfalt und Frieden ist die Mischna niedergeschrieben worden, eine der Säulen des Judentums. Uri zeigt mir aber auch die Überreste des palästinensischen Dorfs Saffuriya, das 1948 an diesem Ort zerstört worden ist und deren Bewohner*innen vertrieben wurden. Zwei gegensätzliche Varianten, wie die Geschichte heute ihre Fortsetzung finden könnte.
Mein Freund Uri fürchtet sich vor dem grossen Leid, das der Absturz, den er als unausweichlich ansieht, bringen wird. Aber es gebe kein Zurück. Wenn Chaos und Gewalt überstanden seien, müsse man auf der anderen Seite des Abgrunds hoch. Anders weiterfahren. Neu beginnen.
Es ginge dann um eine Gesellschaft, in der alle Platz fänden, in der alle – Einheimische, Zurückkehrende und Zuflucht Suchende – die gleichen Rechte hätten. One man, one woman, one vote. Es gäbe keine Apartheid, keine unterschiedliche Behandlung von Gruppen am selben Ort, und keine Mauern mehr. Die Gesellschaft würde sich auf eine Struktur zubewegen, welche die Heimat aller sein könnte, ob als Konföderation verschiedener Teile oder als föderaler Staat. Es wäre eine Gesellschaft, die aufgrund ihrer Geschichte(n) Anlass zu prophetischer Hoffnung gäbe. Jenseits des Abgrunds.
Aber was auf die Menschen in Israel und in Palästina zukommen könnte, bis es so weit ist, wühlt mich auf, macht mir Angst, macht mich sprachlos.●
*1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution SMRI.