Genozid benennen

Melanie Altanian, 22. Dezember 2020
Neue Wege 12.20

Der Genozid an den Armenier*innen bezeichnet die systematische Vernichtung und Vertreibung der armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich von 1915/16 gemäss einem Plan der jungtürkischen Regierung. Der Genozid wird von den türkischen Nachfolgeregierungen bis heute syste­matisch geleugnet. Das verwehrt zukünftigen Generationen wichtiges Wissen und verbreitet Unwissen. Nicht allein das Vergessen, sondern auch das Verzerren des Genozids ist gefährlich.

Die Auseinandersetzung mit dem Genozid an den Armenier*innen zeichnet sich unter anderem durch folgende Charakteristiken aus: Es handelt sich um einen Genozid vor dem «Genozid», also bevor dieses Unrecht 1948 unter diesem Begriff in der UN-Genozidkonvention völkerstrafrechtlich verankert wurde. Der Genozid an den Armenier*innen motivierte den Begründer des Begriffs, Raphael Lemkin, dazu, für die Aufnahme von Genozid als Straftatbestand im Völkerrecht zu kämpfen. Weiter wird der Genozid von den türkischen Nachfolgeregierungen bis heute systematisch geleugnet. Die letztlich fehlgeschlagene strafrechtliche Ahndung dieses Verbrechens nach Ende des Ersten Weltkriegs bot dessen Leugnung eine umso robustere Grundlage.1 Im Folgenden soll aufgezeigt werden, weshalb Genozidleugnung selbst als fortgesetzte Ungerechtigkeit gegenüber Armenier*innen bewertet werden sollte.

Pogrome gegen Armenier*innen zogen bereits unter Sultan Abdülhamid II. in den Jahren 1894–1896 internationale Aufmerksamkeit auf sich. Diese primär religiös motivierten Po­grome hatten zum Ziel, die muslimische Dominanz im gesamten armenischen Siedlungsgebiet des Osmanischen Reichs zu sichern. Damit einher gingen Deportationen, Massaker, Plünderungen sowie Versuche der Zwangsislamisierung. Auf die jungtürkische Revolution im Jahre 1908, an der türkische und armenische Revolutionäre noch gemeinsam beteiligt waren, folgte 1909 das Massaker von Adana, dem etwa zwanzigtausend Armenier*innen und andere Christen zum Opfer fielen.

Leonhard Ragaz, Mitbegründer der Neuen Wege, reagierte auf diese Pogrome mit den Worten: «Tag und Nacht standen diese Gräuel vor meiner Seele und auch in Predigten habe ich, oft mit grosser Gewalt, davon geredet. Die Armeniersache ist dann noch lange ein Hauptthema meines Lebens geblieben, und das auch darum, weil im Ersten Weltkrieg eine schauderliche Wiederholung jener Scheusslichkeiten durch das Regime der Jungtürken stattfand.»2 Damit meinte Ragaz den Genozid an den Armenier*innen. Dieser bezeichnet im Unterschied zu den Pogromen spezifisch die von der damaligen jungtürkischen Regierung geplante systematische Vernichtung und Vertreibung der angestammten armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich von 1915/16. Diese «endgültige Lösung des Armenierproblems»3 begann mit der staatlichen Verordnung vom 24. April 1915, Hunderte namhafte armenische Intellektuelle, Politiker und Geistliche in Konstantinopel festzunehmen, vor Ort zu töten oder in Konzentrationslager nach Ankara zu deportieren. Darauf folgte das am 27. Mai 1915 verabschiedete Deportationsgesetz, wodurch die restliche armenische Bevölkerung der östlichen Provinzen auf Todesmärsche in die mesopotamische und syrische Wüste geschickt wurde. Das Schüren antichristlicher Ressentiments konnte die mittlerweile mehrheitlich muslimische Bevölkerung im Osmanischen Reich gegen die Armenier*innen mobilisieren.4 Enteignung und Plünderungen waren sowohl Anreiz als auch Belohnung für ihre Mittäterschaft. Dabei half insbesondere die Gleichsetzung der Armenier*innen mit dem russischen Feind, wodurch eine armenisch-russische Verschwörung und eine existenzielle Bedrohung durch die Armenier*innen behauptet werden konnte. Damit einher ging auch der Genozid an den aramäischsprachigen Christen («Seyfo») sowie Pontosgriechen.

Genozid und Gruppenzugehörigkeit

Im Zuge der systematischen Vernichtung der Armenier*innen im Osmanischen Reich wurden verschiedene Massnahmen ergriffen, um ihre Existenz und den Fortbestand als Gruppe in ihrem historischen Siedlungsgebiet zu verunmöglichen: Vernichtung der kulturellen, religiösen und politischen Elite, Massenmord, Deportation, Enteignung, Plünderung, Zwangsislamisierung, Zwangsverheiratung von Mädchen und Frauen mit muslimischen Männern sowie die Unterbringung armenischer Waisenkinder in muslimischen Haushalten und Waisenhäusern. Dies verdeutlicht, dass die Vernichtung einer Gruppe nicht auf die physische Tötung ihrer Mitglieder zu reduzieren ist. Auch die UN-Genozidkonvention von 1948 berücksichtigt weitere Handlungen, sofern sie mit der Absicht verübt werden, eine Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten – darunter beispielsweise die gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.

In der moralphilosophischen Diskussion darüber, was das Verbrechen des Genozids von anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit unterscheidet, wird oft davon ausgegangen, dass die Zugehörigkeit zu bestimmten, «sinnstiftenden Gruppen» einen besonderen moralischen Wert für Mitglieder hat. Wenn eine Gruppe mit ihrer eigenen kulturellen Identität zerstört wird, so verlieren Überlebende ihr kulturelles Erbe sowie ihre generationenübergreifenden, sinnstiftenden Beziehungen. Daher gehe die moralische Dimension der Gruppenvernichtung über die individuelle Lebensführung hinaus. Dieses Verständnis des spezifischen Unrechts von Genozid ist meines Erachtens zu eng gefasst, besteht doch eine wesentliche Eigenheit von Genozid darin, dass die Täter eine essenzialistische, herabgewertete Gruppenidentität kon­struieren und diese den Opfern aufzwingen. So kann man Opfer von Genozid werden, unabhängig davon, ob man sich selbst als Mitglied dieser Gruppe versteht. Vielmehr missachtet Genozid sowohl die Individualität der Opfer – sie werden bloss als Mitglieder einer dämonisierten Gruppe behandelt – als auch die Heterogenität einer Gruppe.

Im vorliegenden Fall geschah dies auf Grundlage des «Türkismus»: eine Ideologie, die die türkische Überlegenheit gegenüber nichtmuslimischen und nichttürkischen Völkern des Osmanischen Reichs begründen sollte. Einflussreiche Intellektuelle und Publizisten halfen dabei, diese Ideologie zu entwerfen und zu propagieren, darunter Ziya Gökalp, der beispielsweise darauf bestand, dass eine Nation aus «Individuen bestehen [müsse], die […] eine gemeinsame Sprache, eine Religion, eine Moral, eine Ästhetik und ein gemeinsames Sentiment, eben: eine gleiche Erziehung und eine gleiche Abstammung teilen».5 Beeinflusst durch die sozialdarwinistische Idee des Überlebenskampfs einer Nation und/oder «Rasse» begründeten sie zudem die Notwendigkeit der Feindlichkeit gegenüber nichttürkischen Elementen des Reichs, wobei insbesondere die Armenier*innen als «Bedrohung für das Überleben des Türken» repräsentiert wurden.

Vor diesem Hintergrund bezeichnet Genozid nicht nur eine kollektive, sondern auch «kollektivierende» Unrechtserfahrung, wodurch Gruppenzugehörigkeit für Überlebende und deren Nachfahren überhaupt erst moralisch und politisch relevant, ja gar überlebenswichtig werden kann. Die anschliessende Leugnung des Verbrechens kann diese Relevanz weiterhin bestärken: Wird Genozid nicht angemessen aufgearbeitet, sondern die zugrunde liegende Überlegenheits­ideologie in Form institutionalisierter Leugnung – wie im Falle der Türkei – weiterhin befördert, führt dies zur Aufrechterhaltung von Dominanz- und Unterdrückungsverhältnissen mit gravierenden Folgen.

Genozidleugnung als epistemische Ungerechtigkeit

Die systematische Leugnung des Genozids an den Armenier*innen wird manchmal «organisiertes Vergessen» genannt. Doch Begriffe wie «organisiertes Vergessen» oder «kollektive Amnesie» sind in diesem Kontext irreführend, denn sie vernachlässigen oder verschleiern, dass insbesondere Nachfahren der Überlebenden nicht vergessen. Vielmehr werden dadurch existierende Erinnerungen und damit bestimmte, erinnernde Subjekte und Kollektive aktiv unterdrückt. Es werden gesellschaftliche Bedingungen geschaffen, durch die sowohl das Zeugnis als auch die Erinnerung der Armenier*innen nicht angemessen anerkannt und begriffen werden können.

Schaut man genauer auf die Prozesse und Praktiken der offiziellen türkischen kollektiven Erinnerung, wird ersichtlich, dass es sich vielmehr um organisierte Verzerrung und Verkennung handelt, wodurch gefährliches und schädigendes Unwissen generiert wird. Genauer strebt die offizielle, sowohl dominante als auch dominierende kollektive Erinnerung nach kollektiver Verzerrung des Wissens und des Verständnisses über den Genozid und die Armenier*innen. Dadurch werden deren Gegenerinnerungen kontinuierlich entkräftet.

In meiner Forschung habe ich mich insbesondere damit beschäftigt, inwiefern systematische Genozidleugnung dadurch eine «epistemische Unterdrückung» darstellt. Angenommen, dass wir nicht nur moralische und politische, sondern auch «epistemische Akteur*innen» sein können, so haben wir legitime Interessen daran, Wissen zu generieren und zu kommunizieren, unsere Erfahrungen – insbesondere Unrechtserfahrungen – adäquat zu verstehen und dieses Verständnis mit anderen teilen zu können. Dies sind zentrale Aktivitäten, um Selbstwissen und Selbstverständnis, im Austausch mit anderen, erlangen zu können. Systematische Völkermordleugnung kann diese Aktivitäten verunmöglichen oder ihnen ungerechte, erschwerende Bedingungen auferlegen. Dies geschieht beispielsweise dadurch, dass die Rede von Genozid systematisch als «eine Version der Vergangenheit» dargestellt wird, die bloss nationalistischen Interessen Armeniens sowie «radikalen Gruppen innerhalb der armenischen Diaspora» folge. Von Genozid zu sprechen wird sodann verstanden als Ausdruck unbegründeter, anschuldigender, beleidigender und provokativer Behauptungen und Vorwürfe gegenüber der türkischen Nation.6

Unter diesen Bedingungen ist das Zur-Sprache-­Bringen des Genozids selbst eine Form «epistemischen Widerstands». Der epistemische Widerstand durch die Verteidigung der Gegenerinnerung des Genozids versucht, diese unterdrückenden Machtstrukturen sichtbar zu machen, was jedoch sehr riskant ist. Denn sie stellt sich gegen eine institutionalisierte und staatlich geförderte Leugnung, die auf entsprechende Gesetze, Konventionen, Normen und Praktiken gestützt ist. Dadurch werden das Erinnern und Bezeugen des Genozids für Armenier*innen unsicher und sie können zum Schweigen gezwungen werden. Des Weiteren können Armenier*innen dadurch (re-)traumatisiert werden, insbesondere da die Leugnung mitunter physische Gewalt begünstigt. So beispielsweise im Falle der Ermordung des bekannten armenischstämmigen Journalisten Hrant Dink am 19. Januar 2007 vor seinem Zeitungsgebäude in Istanbul.

Es handelt sich bei der Leugnung des Genozids an den Armenier*innen also nicht um eine Art kollektiver Amnesie. Vielmehr geschieht das offizielle, kollektive Erinnern auf eine Weise, die es letztlich allen Beteiligten erschweren soll, die Ereignisse und Erfahrungen adäquat zu begreifen und zu benennen: nämlich als Genozid. Somit sollte der analytische Fokus auf «Verkennung» und «Verzerrung» liegen statt auf «Vergessen», wodurch die moralisch und erkenntnistheoretisch problematischen Dimensionen der systematischen Genozidleugnung zum Vorschein kommen.

  1. Vgl. Sévane Garibian: Über den Bruch des Konsenses: Der Fall Perinçek, der armenische Völkermord und internationales Strafrecht. In: Melanie Altanian (Hrsg.): Der Genozid an den ArmenierInnen. Wies­baden 2019, S. 167–187; Jennifer Balint: The Ottoman State Special Military Tribunal for the Genocide of the Armenians: «Doing Government Business». In: Kevin J. Heller, Gerry Simpson: The Hidden Histories of War Crimes Trials. Oxford 2013, S. 77–100.

  2. Zit. n. Martin Bundi: Die «armenische Frage» heute. In: Neue Wege, Bd. 95 (10, 2001), S. 301.

  3. Vgl. Erklärungen des führenden jungtürkischen Politikers und Innenministers Talaat Bey Mitte August 1915, Bericht des Botschafters der USA Henry Morgenthau. In: Henry Morgenthau: Ambassador Morgenthau’s Story, New York 1926, S. 337 f.

  4. Unter Sultan Abdülhamid II. begann das Osmanische Reich zum ersten Mal in seiner Geschichte eine klare muslimische Mehrheit zu haben, was insbesondere auf die Massenflucht von Muslimen aufgrund der Kriege im Kaukasus, in der Krim und im Balkan zurückzufüh­ren ist. Diese Umsiedlung wurde durch eine entsprechende Bevölkerungs- und Umsiedlungspolitik aktiv unterstützt. Vgl. Nesim Şeker: Forced Population
    Movements in the Ottoman Empire and the Early Turkish Republic: An Attempt at Reassessment through Demographic Engineering.
    In: European Journal of Turkish Studies [Online] 16, http://journals.openedition.org/ejts/4396.

  5. Zit. n. Mihran Dabag: Nationale Vision und Gewaltpolitik. In: Niedersächsisches Kultusministerium (Hrsg.): Völkermord als Thema im Unterricht. Hannover 2012, S. 42.

  6. Vgl. Website des Türkischen Auswärtigen Amtes, 2020: The Events of 1915 and the Turkish-Armenian Controversy over History: An Overview, sowie The unofficial translation of the message of H.E. President Recep Tayyip Erdoğan, the then Prime Minister of
    the Republic of Turkey, on the events of 1915
    (23. 4. 2014).

  • Melanie Altanian,

    *1988, ist promovierte Philosophin an der Universität Bern und aktuell Postdoctoral Fellow an der School of Philosophy am University College in Dublin. Sie arbeitet an ihrem Buch­manuskript über die epistemische Ungerechtigkeit der Genozidleugnung.