«Eure Vision ist wichtig für die Zukunft»: Neue Wege Gespräch mit Sasikumar Tharmalingam

Stefanie Arnold, 9. März 2023
Neue Wege 3.2023

Der Priester Sasikumar Tharmalingam und seine Weggefährt*innen praktizieren in ihrem Tempel im Berner Haus der Religionen einen Reform-Hinduismus. Dazu ermuntert wurden sie von einem Sadhu, einem heiligen Mann, den sie in Sri Lanka trafen.

Herr Tharmalingam, was ist für Sie als Hindu ein Heiliger oder eine Heilige?

Wenn ich von Heiligen rede, dann ist das nicht ein Priester. Ein Priester ist nicht heilig, sondern ein Dienstleister. Ein Heiliger ist ein Sadhu. Ein Sadhu ist wie ein Mönch. Es ist einer, der sein ganzes Leben der Spiritualität widmet. Das ist für mich ein Heiliger im Hinduismus.

Mein Bild von Sadhus ist von Fotos aus Indien geprägt: Ich stelle mir einen orange gekleideten Asketen mit langen Haaren vor. Trifft dieses Bild auch auf die Sadhus in Sri Lanka zu?

Nein. Von Sri Lanka her habe ich ein ganz anderes Bild von heiligen Menschen. Heilig sein hat etwas mit Liebe zu tun. Ein Heiliger muss daher nicht unbedingt einer äusseren Form entsprechen. Er kann auch ganz anders aussehen als die indischen Sadhus.

Spielen heilige Menschen in Ihrem eigenen Leben eine Rolle?

Ich habe selber eine Erfahrung mit einem heiligen Mann gemacht. Als ich 18 Jahre alt war, bin ich von der Schweiz nach Indien gereist und habe unter Sadhus meinen spirituellen Meister gesucht. Ich war in Benares, am Kailash, überall. Aber als ich die heiligen Männer dort gesehen hatte, waren meine Gedanken nicht beruhigt. Es hatte sich innerlich nichts bewegt. Später bin ich dann in Sri Lanka einem älteren Herrn begegnet. Er hatte nicht die äussere Form eines Heiligen: Er trug ein weisses Hemd, hatte nicht viele Aschestriche auf der Stirn, hatte einen gepflegten Haarschnitt. Und trotzdem, als ich ihm begegnete, sagte mein Gefühl: Er ist mein Meister. Und als er mit mir zu reden begann, spürte ich sofort eine Verbindung zwischen uns.

Und dieser Mann wurde dann zu Ihrem spirituellen Meister? Was haben Sie von ihm gelernt?

Am Anfang dachte ich: Er gibt mir ­vielleicht ein Mantra und ich muss viele Übungen machen. Aber er sagte mir: Nein, das ist Blödsinn. Es gibt keine Mantras, es gibt keine Form, es gibt keinen Namen, es gibt auch keine Religion. Das ist alles für die Menschen gemacht. Wenn du die echte Wahrheit finden möchtest, gebe ich dir nur drei wichtige Worte: Bleib ehrlich. Vergib allen, auch deinen Gegnern. Und bleib in dieser Wahrheit. Wenn du diesen drei ­Dingen folgst und Gott dir dann erscheint, dann bietest du ihm wie einem anderen Gast einen Stuhl an und fragst ihn: «Willst du einen Tee oder einen ­Kaffee?» Denn: Wenn du in deinem Leben wirklich diesen spirituellen Weg entdeckst, dann gibt es keine Wünsche mehr. Denn der Wunsch, sich mit Gott zu vereinen, Gott zu sehen, ist auch ein Wunsch. Wenn Gott erscheint, kannst du ihn daher locker fragen: «Willst du Kaffee oder Tee?» Du hast dann keine Bedürfnisse mehr, Gott weiss dann genau, wer was braucht. Mach darum einfach deine Pflicht.

Das heisst: Die Begegnung mit Gott ist ein wunschfreier Zustand, in dem es keine Sonderanstrengungen mehr braucht, sondern in dem wir uns einfach normal verhalten können, so, wie wir es Menschen gegenüber auch tun würden? Ein interessanter Gedanke. Wie ging Ihr persönlicher Weg nach der Begegnung mit diesem heiligen Mann weiter?

Der Sadhu hat mir gesagt: «Im Moment darfst du deine Priesterkleider nicht ausziehen. Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt musst du Priester bleiben. Denn du hast als Priester eine wichtige Rolle für die nächste Generation, für die neuen Veränderungen. Diese Veränderungen sind deine Lebensaufgabe.»

Welche Veränderungen meinte er damit?

Ein Tempel ohne Kastensystem, in dem alle Menschen den Zentralaltar betreten können. In dem Menschen aller Kasten, Männer und Frauen, Priester*innen werden können. Ein Tempel mit Gebeten und Gesängen in der Muttersprache, damit alle sie verstehen.

Sie sprechen vom Reformtempel, in dem Sie tätig sind. Hat Ihnen der Sadhu die Ideen zu diesen Reformen gegeben? Oder verfolgten Sie diese Ideen schon vor Ihrer Begegnung mit ihm?

Schon als ich als Neunjähriger zum ersten Mal von meiner Lehrperson in Sri Lanka rassistische Sprüche gegen untere Kasten hörte, beschäftigte mich das sehr. Der Lehrer hatte uns in der Schule erzählt, die Menschen seien alle gleich. Und dann am Abend, als ich einen Mann auf einer Palme fragte: «Hey Onkel, gibst du mir eine Frucht?», sagte derselbe ­Lehrer: «Du musst ihn nicht Onkel nennen, du bist aus einer höheren Kaste und er ist aus einer niedrigen Kaste. Sag einfach: ‹Hey du, gib mir doch eine Frucht›, und er gibt sie dir.» Für mich als Neunjährigen war das ein Riesenschock. Wieso hatte er mir in der Schule etwas erzählt, und hier live war es ganz anders?

Als Vierzehnjähriger bin ich dann in die Schweiz gekommen, ganz allein. Hier habe ich mich mit vier Kollegen zusammen in den Hinduismus vertieft. Wir hatten viele offene Fragen. Wieso kommen die Priester nur von einem kleinen Stamm? Wieso gibt es kein Gebet in unserer Muttersprache? Wieso gibt es dieses ungerechte Kastensystem? Wer hat es geschaffen? Ist das etwas aus den heiligen ­Texten, oder ist es ein menschliches Gedankengerüst? Wir studierten diese Fragen etwa zehn Jahre lang gemeinsam in einem Raum, wie in einem Ashram. Wir forschten und lasen viele Bücher, und wir reisten viele Male nach Indien, von Südindien bis Nordindien. Und 2005 trafen wir dann in Sri Lanka den Meister.

Als der Meister sagte, wir hätten eine grosse Aufgabe für die Zukunft, die Reform zu verbreiten, haben meine Kollegen und ich zuerst einfach gelacht. Wir sind nur fünf Kollegen, was können wir bewirken? Aber es ist unglaublich, was wir dann ab 2007 bewirkt haben.

Sie haben versucht, Ihre Reformideen in den Schweizer Hindutempeln umzusetzen.

Wir nahmen mit allen 23 Hindutempeln hier in der Schweiz Kontakt auf und versuchten, dort die Änderungen durchzubringen. Viele sagten zuerst «Ja, ja». Aber als die Umsetzung anstand, sagten sie: «Das geht nicht. Das kann man nicht einfach ändern.» 2007 entschieden dann meine Kollegen und ich zusammen: «Wir machen das Ritual jetzt. Wir warten nicht, bis jemand kommt, wir machen das jetzt einfach.» So haben wir angefangen.

Sie haben sich also selber zum Priester ausbilden lassen und einen eigenen Tempel gegründet?

Ja, auf unseren Reisen haben wir uns in Benares bei einem Brahmanen-Priester ausbilden lassen, in den Ritualen und in der Spiritualität. Ein zweiter Meister kam aus Sri Lanka, auch ein Brahmane. Wir lernten zuerst alles auf Sanskrit. Der Priester aus Sri Lanka kam später auch in die Schweiz. Er unterrichtete uns in unserem Studierzimmer. Und 2007 haben wir dann unseren Tempel gegründet.

Wie hat sich Ihr Tempel entwickelt?

Am Anfang zählten wir immer die Schuhe: Heute sind da zehn Paar Schuhe, morgen fünf … Es kamen nur wenige. Nach einem Jahr waren wir müde, wir dachten: Es bringt nichts, hören wir einfach auf. Aber dann hatten wir noch einmal Kontakt mit dem Meister. Wir sagten ihm, dass wir aufhören möchten. Er sagte darauf: «Das Schiff sollte von Ufer zu Ufer fahren. Wer einsteigt und aussteigt, ist nicht das Problem des Schiffes. Ihr seid das Schiff. Ihr sollt einfach weitermachen. Und wenn die Wahrheit da ist, wird das langsam auch kommen mit den Menschen.» So wurden es dann langsam immer mehr Menschen. Und jetzt, letztes Jahr für unser Jahresfest, waren an einem Tag fast 6000 Menschen da. Es kommen Besucher*innen aus der ganzen Schweiz zu uns. Die nächste Generation, also die zweite Generation, ist noch offener, und es gibt die Chance, unsere Philosophie jetzt noch weiter zu verbreiten.

Sie haben mir erzählt, dass Sie demnächst in Kopenhagen einen Reformtempel eröffnen. Wo gibt es sonst noch solche?

In Martigny im Wallis. Und auch in Sri Lanka, in Jaffna. Ein Schweizer Religionswissenschaftler sagte einmal in einem Interview: Der Verein Saivanerikoodam, der den Hindu­tempel im Haus der Religionen betreibt, kann hier in der Schweiz eine Reformation auslösen, hier ist das möglich, weil es hier den rechtlichen Schutz gibt. Wenn er das in der Heimat machen würde, wäre das gefährlich. Daraufhin haben wir entschieden: Wir versuchen es auch in unserer ­Heimat. Es war am Anfang wirklich sehr schwierig. Auch unsere Leben wurden bedroht. Aber jetzt funktioniert es sehr gut.

Woher kamen diese Widerstände und Drohungen?

Das Kastensystem und die Frauenrechte sind riesige Themen in Sri Lanka. Viele möchten nicht, dass Menschen aller Kasten den Zentralaltar betreten können oder dass Frauen Priesterinnen werden dürfen. Man hat darum die Arbeiter, die den Tempel bauten, spitalreif geprügelt. Und ich bekam auch Druck von militärischer Seite. Weil irgend­jemand etwas erzählt hatte. Das Militär kam zu mir und fragte: «Was machst du genau hier?» Dann musste ich aufs hinduistische Ministerium. In Sri Lanka gibt es für jede Religion auch ein Ministerium. Dort bekam ich mit: Es gibt fast 12’000 Hindutempel in ganz Sri Lanka und nur 2800 qualifizierte Priester. Und ich stellte den Leuten vom Ministerium die Frage: «Was für eine Lösung habt ihr für die Zukunft, wenn alle Kinder der Priester nicht Priester werden möchten?» Der Beamte antwortete: «Sie haben recht, wir haben keine Lösung dafür im Moment.» Ich sagte ihm: «Wir haben eine Lösung. Wir öffnen die Türen, so wie viele der anderen Weltreligionen. Jeder kann ­Pfarrer werden, jeder kann Imam werden. Nur bei uns kommen die Priester alle vom gleichen Stamm. Wenn das Ministerium diese Lösung akzeptiert, möchte ich sie hier einführen.» Der Beamte kontrollierte alles und bestätigte dann unseren Weg: «Doch, wir unterstützen euch, eure Vision ist wirklich sehr wichtig für unsere Zukunft.»

Und dann haben Sie damit begonnen, Menschen verschiedener Kasten und verschiedenen Geschlechts als Priester*innen auszubilden?

Ja. Wir haben in den Zeitungen Werbung gemacht: Wenn jemand Lust hat, Priester oder Priesterin zu werden, kommt zu uns, meldet euch an. Wir erhielten 120 Anmeldungen. Dann luden wir Professoren aus Südindien nach Jaffna ein. Die Kosten für das Essen, die Übernachtungen und das Material übernahm unser Verein. Dann führten wir Workshops und Trainings durch. Schliesslich machten wir Einzel­interviews mit den Kandidat*innen, wir qualifizierten dann 80 der 120 Kandidat*innen.

Wie viele Frauen waren darunter?

Es waren nur acht Frauen. Viele Frauen sind immer noch stark von alten Vorstellungen geprägt, die seit Generationen überliefert werden. Das bleibt im Blut oder im Kopf. Einige sind zwar bereit, aber sie haben Angst: Kann das schlechte Auswirkungen für meine Familie haben? Ist es eine Sünde? Solche Fragen muss man immer wieder klären. Zum Beispiel sollen Frauen bei Prozessionen auch Götter und Göttinnen auf ihren Schultern tragen dürfen. Bisher machten solche Prozessionen nur Männer. Und wir sagten, wir möchten auch den Frauen die Chance geben, das zu tun. Ich reiste letztes Jahr deshalb für eine Prozession extra für acht Tage nach Sri Lanka. Viele waren dagegen. Als wir dann die Prozession machten, war das in allen Zeitungen und im Fernsehen.

Es braucht Zeit, so tiefsitzende Prägungen und Widerstände zu überwinden.

Ja, und wir können den Leuten nicht einfach etwas erzählen. Ich muss bereit ein, auf jedes ihrer Argumente einzugehen und Fragen zu beantworten. Ich muss nach den Ursprüngen der Traditionen fragen und nach Antworten in den alten Schriften suchen. Dann kann ich sagen: Hier steht es, früher waren auch Frauen als Priesterinnen im Dienst.

Früher gab es auch Priesterinnen?

Ja, wenn wir in der Geschichte zurückschauen, dann sehen wir, dass das durch die Männerkraft ausgemerzt wurde. Wir sagen auch: Wenn wir die universale Mutter als unsere Göttin akzeptieren, wieso können wir dann nicht auch eine Frau als Priesterin akzeptieren? Und wir möchten davon nicht nur in schönen Schriften lesen, sondern wir ­möchten das hier auch live erleben. Das ist wichtig.

Sie haben in Sri Lanka nicht nur einen Reformtempel gegründet, sondern auch ein Haus der Religionen mitinitiiert. Wie kam es dazu?

Hier im Haus der Religionen habe ich jahrelang mit einem buddhistischen Mönch zusammengearbeitet, aber keinen richtigen Dialog geführt. Das hat mit dem dreissigjährigen Bürgerkrieg in Sri Lanka zu tun: Er ist ein singhalesischer buddhistischer Mönch, ich bin ein tamilischer Hindupriester. Am Anfang hatten wir deshalb Schwierigkeiten, einander zu ­treffen. Aber dann fragte mich der buddhistische Mönch einmal: «Ist es möglich, dass du mit mir einen Tee trinkst?» Ich sagte ja. So begannen wir unseren Dialog. Später fragte er mich einmal: «Was hältst du von der Idee, in Sri Lanka ein Haus der Religionen zu gründen?» Ich wartete ein Jahr lang mit meiner Antwort. Dann antwortete ich: «Wir versuchen das!» So haben wir in Sri Lanka ein Haus der Religionen gegründet. Dieses Projekt konnten wir im September in Karlsruhe an der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in einem Workshop vorstellen. Die Berner reformierte Kirche lud uns dazu ein. Vorstandsmitglieder unseres Vereins in Sri Lanka – Hindus, ­Muslim*innen, Buddhist*innen und Christ*innen – durften einreisen, das Haus der Religionen in Bern besichtigen und an der Vollversammlung in Karlsruhe teilnehmen. Sie haben gute Erfahrungen gesammelt, um in Sri Lanka das Projekt weiterzuverfolgen.

Steht das Haus der Religionen in Sri Lanka eigentlich schon?

Im Moment sind wir in einem Provisorium. Wir wollen nicht einfach etwas bauen und einziehen. Sondern wir möchten, so wie hier, zuerst zusammenkommen, miteinander diskutieren und lernen, mit den Hindernissen und Herausforderungen umzugehen. Die Kommunikation muss gut wachsen. Erst dann möchten wir etwas bauen. Aber wir haben fürs Baurecht schon einen Platz bekommen von einer Stadt in Puttalam, das ist ein Gebiet von Sri Lanka, in dem alle vier Religionen zusammenleben.

Kommen wir zurück zum heiligen Mann, der Ihr Leben so entscheidend geprägt hat. Ihr Meister ist ja vor drei Jahren verstorben. Was war er eigentlich für ein Mensch?

Er war dreissig Jahre lang Schulmeister, er leitete eine normale Schule. Er war nicht verheiratet und hatte sich stark in den spirituellen Weg vertieft. Ganz Jaffna kannte ihn als spirituellen Menschen.

Wird er auch nach seinem Tod weiter verehrt?

Ja, sein Grab ist vor dem Tempel. Aber wenn bei uns jemand heilig ist, wird er geehrt, bevor er stirbt. Kurz vor dem Sterben gibt man ihm vielleicht einen Ehrentitel. Wenn die Gesellschaft das spürt, dann gibt man einer Person die Anerkennung.

Im Christentum ist es ja so, dass die Verehrung einer Person nach dem Tod in der Regel noch zunimmt. Kennen Sie das auch, dass Menschen zum Beispiel zu den Gräbern von verstorbenen Heiligen pilgern?

Ja, das machen wir auch. Bei normalen Menschen wird die Leiche bei Hindus ja verbrannt. Aber wenn ein heiliger Sadhu stirbt, wird sein Körper in der Erde bestattet. Dann entsteht dort ein kleiner Tempel oder Altar mit einer göttlichen Figur oder einem Shiva-­Lingam. Man verbrennt den Körper eines ­Heiligen nicht.

Verehrt man auch Märtyrer*innen, also Leute, die für ihren Glauben gestorben sind?

In der Kolonialzeit leisteten viele ­Sadhus Widerstand gegen die Missionierung durch die Portugiesen und die Holländer. Einige von ihnen sind im Gefängnis verstorben, einige sind verschwunden und einige haben überlebt und weitergekämpft. Die sind jetzt sehr bekannt. Von ihnen werden Geschichten erzählt. Es gibt zum Beispiel eine Geschichte, die in unserem Dorf passiert ist. Ein Sadhu wurde gefangen und in einen Käfig gesperrt. Als er begann, ein Lied zu singen, öffnete sich der Käfig von allein und er wurde befreit. Da­rauf haben ihn die Holländer nicht getötet.

Haben Sie das Gefühl, dass solche Geschichten des Widerstandes auch wichtig sind für Schweizer Tamil*innen, die während des Bürgerkrieges fliehen mussten?

Ich glaube, hier im Ausland, also ausserhalb von Sri Lanka und Indien, haben die Leute mehr Interesse an Glauben und Kultur. Vielleicht weil sie Angst haben, dass sie verloren gehen könnten. Wir haben in der Schweiz 108 tamilische Sprachschulen. Wir haben eine Vorstellung davon, was passiert, wenn wir die Muttersprache nicht weitergeben. So leben auf Mauritius, auf Fidschi oder in Südafrika Tamil*innen, deren Vorfahren in der Kolonialzeit auf die Zuckerrohrplantagen gebracht worden waren. Diese haben ihre Sprache verloren. Auf La Réunion leben zum Beispiel 200’000 Tamil*innen. Sie reden keine tamilische Sprache, aber sie haben alle einen tamilischen Namen. Und sie singen im Hindutempel auf Französisch, da die Insel zu Frankreich gehört.

Eine Schwester von mir lebt in Norwegen, eine in England, eine in Frankreich, ich lebe hier in der Schweiz. Wenn wir uns treffen, in welcher Sprache kommunizieren dann unsere Kinder? Darum ist für uns die Muttersprache wichtig. Der Tempel ist nicht nur ein Ort für Gebet und Spiritualität, sondern auch ein Ort für Kultur und Begegnung. Der Grund, in den Tempel zu kommen, muss nicht unbedingt spirituell sein. Der Tempel soll ein Ort sein, an dem die Menschen die Möglichkeit haben, ein bisschen frei zu sein. Es ist hier möglich, dass einer laut schreit und weint. Es fragt hier niemand: Warum schreist du? Dafür ist der ­Tempel da. Und das, denke ich, das macht frei.

Sasikumar Tharmalingam, *1974, wurde in Sri Lanka geboren und floh 1989 in die Schweiz. Er leitet das ayurvedische und koschere Restaurant «Vanakam» im Berner Haus der Religionen, ist Priester im dortigen Hindutempel des Vereins Saivanerikoodam sowie Seelsorger und Mediator.

https://haus-der-religionen.ch/hindus/

  • Stefanie Arnold,

    Stefanie Arnold, *1976, ist Religionswissenschaftlerin und christkatholische Theologin und Redaktionsmitglied der Neuen Wege.